Als Menschen noch in Erdlöchern hausten

Ré Soupaults „Katakomben der Seele. Eine Reportage über Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem 1950“

Kinder mit einer Betreuerin vor Baracken im Durchgangslager Friedland
Foto: Nachlass Ré Soupault

Als die Journalistin Ré Soupault (1901–1996) auf ihrer Deutschland-Reise das Flüchtlingslager Friedland besucht, lernt sie zu unterscheiden zwischen registrierten und illegalen Flüchtlingen, zwischen Vertriebenen und Flüchtlingen. Der Registrierte ist im Vorteil. Das Wohnungsamt teilt ihm ein Zimmer oder eine Schlafstelle in einem Lager zu. Findet er keine Arbeit, so erhält er Arbeitslosenunterstützung. Der Illegale, der sich aus Angst vor Abschiebung in sein Herkunftsgebiet nicht registrieren lässt, hat hingegen gar nichts. Er haust in den Trümmern der Großstädte. Er bekommt vielleicht vorübergehend eine Schlafstelle, das Recht auf Arbeit wird ihm abgesprochen, und er wird recht bald gebeten, sich anderswo niederzulassen. Neben dem Durchgangslager Uelzen findet Ré Soupault Hunderte von „Abgelehnten“, die aus Protest in Erdlöchern hausen, wie die Ratten. Unter ihnen sind auch etwa 70 Waisen. Diese Kinder versuchen einige Pfennige zu verdienen, betteln und suchen in Ruinen nach verkaufbarem Material und werden so zu Dieben. Abgelehnt werden solche, die im Herkunftsgebiet nichts zu befürchten haben.

„Diese Menschen bilden die 5. Kolonne der Verzweiflung und sind mit den jugendlichen Flüchtlingen eins der furchtbarsten Sozialprobleme Zentraleuropas.“ Das hält Ré Soupault in ihrer 1950 verfassten letzten Fotoreportage fest, die den Titel „Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem“ trägt. Diese Reportage, die sie vergebens der amerikanischen Presse, aber auch der „Neuen Zürcher Zeitung“ zur Veröffentlichung anbietet, hat nun ihr Nachlassverwalter Manfred Metzner aus aktuellem Anlass (Syrien-Flüchtlinge) im Verlag Das Wunderhorn herausgebracht. Im September 1950 reist Ré Soupault nach Schleswig-Holstein, Niedersachsen und nach Bayern, um sich einen Überblick über die Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen zu verschaffen. Sie besucht unter anderen die Flüchtlingslager Friedland, Dachau und Geretsried. Sie beschreibt die erschütternden Zustände in Massenunterkünften, berichtet über neue Flüchtlingssiedlungen, schreibt über Verlust der Heimat und Hoffnungen auf einen Neuanfang. Sie berichtet über die am Tag der Heimat 1950 verkündete Charta der deutschen Heimatvertrieben, aber auch über Pioniere unter den Heimatlosen, die hauptsächlich aus den Reihen der Fachleute aus Industrie und Handwerk kommen, die immerhin fast die Hälfte der Flüchtlinge ausmachen.

Die Autorin sieht dem Schönbacher Geigenbauern aus dem Sudetenland bei der Arbeit über die Schulter. In Geretsried, das Vertriebene auf den Ruinen der Bunker der Deutschen Sprengindustrie gebaut haben, erlebt sie, wie Plauerts Werkzeugmaschinen fabriziert werden. Dort gibt es die Neuauflage von Bayers Karlsbader Oblaten. Ebenfalls im neugegründeten Geretsried weisen Schilder der Reporterin den Weg zu Galvanotechnik D. & Co, zur Chemischen Fabrik Dr. Th. B., zur Fahrzeugbau GmbH oder zu Zentralheizungen W.

Ré Soupault, geboren 1901 als Erna Niemeyer in Pommern, arbeitet schon während des Studiums 1921-1925 am Bauhaus in Weimar. Über ihren Mann, den Dadaisten und Filmkünstler Hans Richter ,lernt sie unter anderen Man Ray und Sergej Eisenstein kennen. 1928 geht sie nach Paris, wo sie ein erstes eigenes Modestudio Ré Sport einrichtet. Im Kreis der Pariser Künstler-Avantgarde trifft sie Phillipe Soupault, ihren zweiten Mann . Mit ihm unternimmt sie ab Mitte der 30er Jahre Reisen durch Europa und Amerika, wo sie seine Reportagen fotografisch begleitet. 1946 ist sie wieder in Europa und arbeitet in der Schweiz als Übersetzerin und Rundfunkautorin. Sie stirbt 1996 in Paris.
 

Ré Soupault: „Katakomben der Seele. Eine Reportage über Westdeutschlands Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem 1950“, herausgegeben von Manfred Metzner, Verlag Das Wunderhorn, 64 Seiten, gebunden, 17,80 Euro, ISBN: 978-3-88423-546-1