„Auch eine Mutter bringt Opfer“

Eine Schweizer Pädagogin widmet ihr Leben verlassenen Kindern in Rumänien

Wie Mutter und Tocher: Sonja Kunz mit Ana in der Wohnküche von „Casa Salix“.

In den hellen, gemütlichen Dachzimmern von „Casa Prichindel“ herrschen Holz und bunte Farben vor.

Fast wie die Orgelpfeifen: die Jungs von „Casa Livezii“.

Für Ionel bedeutet seine Hündin Mascha alles – gerne führt er ein Kunststück aus dem Dressurkurs vor, den er mit ihr absolviert hat.

Noch eine kokette Ana!

Geta erzählt lebhaft von ihren neuesten Plänen.

Marta - eines der ersten Kinder
Fotos: George Dumitriu

Auf Zehenspitzen schleichen wir die Holztreppe hinauf. Sonja Kunz späht durch eine Tür, dann winkt sie uns in die Dachkammer. Ana und Gia schlafen mittags noch, doch um diese Zeit  sind sie vielleicht schon wach. Mit großen Rehaugen linst die schwarzgelockte Gia scheu über die Kante ihres Stockbetts. Sonja streicht ihr zärtlich übers Haar. Ana richtet sich auf und zeigt dem Fotografen strahlend ihre Zahnlücke. Die Wände zieren Tierposter und bunte Zeichnungen, auf dem Fensterbrett sind liebevoll Basteleien drapiert. Was für ein gemütliches Zuhause, denkt man auf den ersten Blick. Die „glückliche Mama“ lächelt stolz. Wie viele rumänische Kinder sie schon großgezogen hat, kann die Schweizerin so spontan gar nicht sagen...

Weidenbach/Ghimbav. Ein verschlafenes Dorf am Fuße der Karpaten. Kleine, ruhige Sträßchen, hübscher Ortskern, eine prächtige alte Kirchenburg. Wir brauchen nur nach „Sonja“ zu fragen, und die Leute weisen uns den Weg. Immerhin lebt sie schon seit 20 Jahren hier. Von den Wellen des Lebens ans Ufer gespült, ausgerechnet in Rumänien, und geblieben, wie so manche, die hier eine Lebensaufgabe fanden.

Die der Schweizer Sonderpädagogin heißt: „Casa Salix“, „Casa Prichindel“, „Casa Livezii“ – ein Heim für verlassene Kinder. Durch die knarrende hölzerne Gartenpforte betreten wir eine Oase der Ruhe. Schlauchförmig führt der Garten zwischen den beiden Häusern „Salix“ und „Prichindel“ bis zum Fluss, umrahmt von altem Gemäuer. Blumen, eine Schaukel. Gemüsegarten neben dem Hühnerstall. Ein Fahrrad lehnt an der Wand. Es gehört Anton, der ein paar Straßen weiter im Haus „Livezii“ wohnt. Im Zwinger streckt eine gefleckte Hündin neugierig die Nase durch die Zaunmaschen. Es ist Samstag und die Gruppe der ganz Kleinen ist „ausgeflogen“.

Die größeren Kinder treffen wir mit Besen, Eimer und Mopp bewaffnet im Haus: heute ist Putztag! Sonja führt uns in die Wohnküche von Haus „Salix“, zwei Jungen bringen Kuchenteller. Dem halbwüchsigen Zoli hängt die Jeans bis in die Kniekehlen. „Das muss so sein“, wehrt er sich, als Sonja ihn damit aufzieht. Neugierig zeigen sich auch die Mädchen: Ana, Lidiana, Geta, Marta.

Modische Gören im Teenager-alter – wie Heimkinder wirken sie nicht. Sie kichern miteinander, stoßen sich an wie Geschwister, wenn fremder Besuch kommt. Zoli lümmelt lässig an der Tischkante. Er gehört zur ersten Gruppe der Kinder, die Sonja Kunz vor fast 20 Jahren aufgenommen hatte. Schwerkrank, unterentwickelt und nahe am Tod. „Wie ein Kind aus Auschwitz“, erinnert sich auch Betreuerin Nuşa.  Marta, heute eine kokette Schönheit, die Gefallen an Schauspielerei findet, kam mit zweieinhalb Jahren hierher. Sie konnte weder essen noch laufen. Ana und Lidiana sind Geschwister. Ihren Roma-Hintergrund nehmen sie nur als abstraktes Faktum zur Kenntnis. „Manchmal denke ich darüber nach“, sagt Lidiana. Zur Kultur der Roma hat sie keine Verbindung. Nur zögernd gesteht das hübsche Mädchen, dass sie gerne Geschichten schreibt, am liebsten über Menschen, die in den 20-er Jahren lebten. Geta hingegen berichtet lebhaft ohne Scheu. Bis vor Kurzem nahm sie noch erfolgreich an Tanzturnieren teil, doch dann änderten sich ihre Interessen. Sonja kramt stolz  ein Ölbild hervor: „Wir haben sogar eine Künstlerin hier.“ Die 18-jährige Iasmina, die außerdem noch Klavier spielt und das Kunstlyzeum besucht, hatte vor Kurzem den zweiten Platz in der nationalen Kunstolympiade gewonnen. Und Ionel dressiert Hunde, verrät Zoli. Er hat sogar einen Kurs gemacht. Stolz führt der aufgeweckte Junge dem Fotografen  ein paar seiner Kunststücke vor.

Kein Kind darf aufgegeben werden

 „Bei manchen Kindern spürt man die Traumen noch mit 18 Jahren - andere stecken sie leichter weg“ bemerkt Sonja Kunz später, als wir allein sind. Ionel hatte sie mit drei Jahren zufällig in einem Spital entdeckt. Er wog nur fünf Kilo und wies Spuren von Misshandlungen auf. „Willst du den wirklich nehmen – der stirbt uns doch!“ warnte eine Mitarbeiterin. Heute ist der lebhafte Junge gesund, zeichnet sich durch Tierliebe und hohe Sozialkompetenz aus und ist praktisch veranlagt. Nur in der Schule gibt es Schwierigkeiten, weil er sich nicht konzentrieren kann.
Zu den psychologischen Traumen der Kinder kommen oft gesundheitliche Probleme hinzu: Sechs haben Thalassämie, eine schwere Blutkrankheit, die tägliche teure Spritzen und monatliche Bluttransfusionen erfordert. 

Obwohl viele ihrer Zöglinge das Gymnasium besuchen, sind ihre intellektuellen Fähigkeiten sehr unterschiedlich.  Diejenigen, die „nur“ handwerkliche oder soziale Begabungen haben, fallen leicht durchs Raster, beklagt Sonja. „Der Fokus in Rumänien liegt zu sehr auf dem Lyzeum.“ Verbesserung erhofft sie sich durch  die geplante Einführung des dualen Ausbildungssystems.  
Eine ihrer größten Herausforderungen ist es jedoch, die heranwachsenden Jugendlichen in die Gesellschaft zu integrieren. Dazu gehört, dass sie nicht wie in staatlichen Heimen mit 18 auf die Straße gesetzt werden. Als die erste Generation ihrer Kinder flügge wurde, wurde ihr bewusst: „Die haben niemanden  außer uns!“ So ist es heute selbstverständlich, dass die Großen immer wieder „nach Hause“ kommen, vor allem an Ostern und Weihnachten. Weil ihre alten Kinderzimmer längst vergeben sind, hat Sonja Kunz „Casa Livezii“ zugekauft.

Sieben Kinder der ersten Gruppe haben heute einen Arbeitsplatz, eines ist verheiratet, andere absolvieren die zwölfte Klasse, verrät sie stolz. Iasmina wird bald heiraten. „Wir wünschen ihr, dass es gut geht“, fügt sie ein wenig nachdenklich an. Mit Geta gibt es Diskussionen, weil sie die Schule abbrechen und unbedingt ins Ausland  will. „Man darf nie aufgeben, auch wenn es manchmal extreme Schwierigkeiten gibt“, erklärt Sonja mit Nachdruck. So manchen ihrer Halbwüchsigen hat sie schon nachts in Kneipen gesucht...

Unentbehrliche Volontäre

Weil Sonja Kunz dies natürlich nicht alleine bewältigen kann, arbeiten in jeder Kindergruppe vier Angestellte rotierend in 24-Stunden Schichten. Etwa 30 Kinder leben derzeit in dem Heim. Einen wichtigen Beitrag leisten Volontäre, die  drei Monate oder länger bleiben. Meist sind es junge Leute aus Deutschland oder der Schweiz, die sich nach dem Abi erstmal orientieren oder später Sozialpädagogik studieren wollen. Sie werden für Gartenarbeit, Hausaufgabenbetreuung oder Freizeitgestaltung eingeteilt, nicht jedoch als Bezugspersonen für die Kinder. Trotzdem stellt Sonja  als Bedingung: Wer kommt, darf nicht einfach auf Nimmerwiedersehen wieder verschwinden. 

In „Casa Livezii“ treffen wir auf den Schweizer Schreiner Christoph Deutsch - ein Idealist, der  seit vielen Jahren seine Urlaube  opfert.  Hier steht er in Sachen Renovierung und Bau mit Rat und Tat zur Seite. Auch an der neuen Nähwerkstätte, einem freundlichen Gebäude aus hellem Holz, in dem ab 1. Juli  einige geschütze Arbeitsplätze entstehen sollen, war er beteiligt.  Den Jungs, die in „Casa Livezii“ unweit der beiden anderen Gebäude wohnen, bringt Christoph erst mal freundschaftlich streng Ordnung im Holzlager bei.

Eine Form des Teilens

Im September feiert die Stiftung „PeCA“ (pentru copii abandonaţi) 20-jähriges Jubiläum. Sonja Kunz erinnert sich, wie alles begann. 1992 reiste die damals 36-jährige Sonderpädagogin erstmal nach Timi{, um mit Schweizer Spenden und persönlichem Einsatz ein staatliches Kinderheim zu unterstützen. Sechs Monate wollte sie bleiben – acht wurden daraus. 1993 war sie dreimal in Rumänien, gab Heilpädagogik-Kurse und glaubte noch an eine positive Veränderung. Doch als sie nach eineinhalb Jahren sah, dass es mit den staatlichen Institutionen nicht klappte, gründete sie mit ihrer Dolmetscherin selbst eine Stiftung.

Über ein Jahr dauerte es, ein Haus zu finden, es zu renovieren, bürokratische Hürden zu beseitigen, Sponsoren aufzutreiben und Personal anzuheuern. Im Januar 1996 kamen die ersten Kinder. Schnell erkannte Sonja Kunz, dass sie in Rumänien mehr gebraucht würde und gab ihren gutbezahlten Job in der Schweiz auf. „Anfangs wollte ich nur zwei bis drei Jahre beim Aufbau helfen“, lächelt sie. Dann kam überraschend eine größere Spende und sie konnten ein zweites Haus kaufen. Bis 2000 hatte sie drei Gruppen mit 24 Kindern und dachte längst nicht mehr ans Zurück. „Ich hatte selbst eine gute Kindheit, war privilegiert“, motiviert sie ihren Einsatz, „für mich ist das eine Form des Teilens.“ An ihrer Aufgabe sieht sie vor allem das Schöne.  Und die persönlichen Opfer? „Auch eine Mutter bringt Opfer“, schmunzelt Sonja, fängt sich den kleinen Anton und drückt ihm  einen dicken Schmatz auf die Wange.


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