Auf den Spuren der Eltern und Großeltern

Österreicher unterwegs durch das Banat und Siebenbürgen

Die 1823 eingeweihte evangelische Kirche in Liebling ist derzeit dringend sanierungsbedürftig.

Marianne Wolff ist zum dritten Mal mit den von Pfarrer Schleßmann geleiteten Reisegruppen unterwegs.

Pfarrer Frank Schleßmann hielt einen Gottesdienst in Liebling und einen zweiten in Moritzdorf, in Nordsiebenbürgen.
Fotos: Walther Sinn (1), die Verfasserin (2)

Abfahrt nach Liebling. Pünktlich um halb neun vom Hotel „Reghina Blue“ in Temeswar/Timişoara. Ich begleite die österreichische Reisegruppe aus Mattighofen und Umgebung, angeführt vom evangelischen Pfarrer Frank Schleßmann, bis nach Liebling. „Wir sind unterwegs auf den Spuren der Großeltern und Eltern unserer Pfarrgemeindemitglieder, die 1944 aus dem Banat, aus Liebling, aus Nordsiebenbürgen, aus der Gegend von Bistritz/Bistriţa und aus der Nähe von Schäßburg (Sighişoara), aus Felldorf (Filitelnic), geflüchtet sind“, sagt Frank Schleßmann dazu. Die Reisenden sind zum Großteil ehemalige Flüchtlinge, evangelische Banater Schwaben und Siebenbürger aus Rumänien, die 1944 vor den russischen Truppen geflüchtet sind und sich in der Gegend von Mattighofen in Oberösterreich niedergelassen haben. Jedes zweite Jahr organisiert und führt Pfarrer Schleßmann diese österreichischen Reisegruppen durch das Banat und Siebenbürgen – nun schon zum vierten Mal. Die diesjährige Gruppe besteht aus einem Drittel Lieblinger und zwei Drittel Siebenbürgern, zumeist Kinder und Enkel der ehemaligen Flüchtlinge.

Der Bus mit den 47 Reisenden fährt ab. Ein kurzer Abstecher in die Temeswarer Innenstadt mit der Besichtigung der rumänisch-orthodoxen Kathedrale, einem Spaziergang auf der Lloyd-Zeile und einem Gruppenfoto steht noch auf der Reiseagenda, dann wird nach Liebling losgefahren. Pfarrer Schleßmann informiert währenddessen über die Stadt, Land und Leute und die deutsche Minderheit, denn er ist ein großer Geschichtsliebhaber.

1944: Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen auf der Flucht

Die Fahrt durch die Banater Heide dauert nicht lange – Liebling ist etwa 25 Kilometer von Temeswar entfernt. „Wie es im Buch steht: Schon von Weitem hat man die Kerch’ gesehen“, beginnt Pfarrer Schleßmann über das ehemalige deutsche Dorf zu erzählen, während sich die Häuser und der Kirchturm aus der Landschaft hervorheben. Er erwähnt den Ostfriedhof, den schwäbischen Friedhof „mit noch gut erhaltenen Gräbern“, denn es gibt im Ort noch einen Westfriedhof, und vergisst auch die rumänisch-orthodoxe Kirche nicht. Vor dem Namensschild der Ortschaft rechts an der Landstraße hält der Bus an, die Nachkommen der ehemaligen Flüchtlinge aus Liebling steigen aus und lassen sich neben dem Namensschild fotografieren. Danach fahren wir zur evangelischen Kirche, wo Pfarrer Walther Sinn aus der Arader Gemeinde Semlak/Semlac, der auch für die evangelische Gemeinde in Liebling zuständig ist, die Gruppe begrüßt. Er wird Pfarrer Frank Schleßmann während des Gottesdienstes auf der Orgel begleiten.

Vor dem Gottesdienst unterhalte ich mich noch kurz mit der 67-jährigen Karin Schinwald, die sich schon zum dritten Mal den österreichischen Reisegruppen durch Rumänien angeschlossen hat. „Vor sechs Jahren war ich das erste Mal hier. Es war schon sehr emotional für mich, denn ich dachte, meine Eltern sind vielleicht gerade diese Straße in Liebling entlang gegangen oder in der Kirche gewesen“, sagt die in Österreich geborene Karin Schinwald. Ihre Mutter, eine ehemalige Lieblingerin, flüchtete 1944, gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer ersten, acht Monate alten Tochter, noch in Liebling geboren, vor den russischen Truppen. Ihr Vater, der in der deutschen Wehrmacht kämpfte, konnte erst zwei Jahre später über das Rote Kreuz seine Familie finden. „Sie haben alles hier gelassen und sind mit Pferd und Wagen nach Österreich gezogen“, so Karin Schinwald. Beide Eltern, inzwischen verschieden, haben Liebling niemals wiedergesehen. „Meine Mutter hat immer wieder über ihre Heimat erzählt und immer gesagt: ‘Daheim, Liebling’“, sagt Karin Schinwald. „Sie wollte das alles nicht mehr sehen, sondern es so in Erinnerung behalten, wie sie es damals verlassen hatte, mein Vater auch“, schließt die 67-Jährige.

„Ich kenne fast jedes Haus und wer da früher gewohnt hat“, erzählt lächelnd die in der Schäßburger Ortschaft Fellorf, in einer Weingegend, geborene Marianne Wolff. „Es gab keine Rumänen und Ungarn im Dorf, nur Deutsche, aber es war ein sehr kleines Dorf mit nur 500-600 Bewohnern“, fügt die 82-Jährige hinzu. Sie war 11 Jahre alt, als sie 1944 mit ihrer Familie aus ihrem Heimatsort flüchtete. „Alle mussten weg. Es hat geheißen: Hier kommt die Front und wir müssten für drei Tage weg, aber wir hörten schon die Russen im Wald schießen und sind dann nicht mehr zurückgekommen“, sagt Marianne Wolff.

Evangelische Pfarrgemeinden in Rumänien und Österreich

Während des Mittagessens im Pfarrhaus unterhalte ich mich mit Frank und Johanna Schleßmann. Frank Schleßmann ist 1958 in Pforzheim geboren. Er studierte zwischen 1977-1981 evangelische Theologie in Heidelberg und anschließend zwei Jahre in Hermannstadt/Sibiu. „Vor 40 Jahren bin ich zum ersten Mal nach Rumänien gekommen, damals war ich 17 Jahre alt“, erinnert sich der Pfarrer. „Ich hatte Brieffreundinnen in Rumänien, im Banat, in der Maramuresch, ich wurde eingeladen und bin immer wieder gekommen. Zu einer von ihnen habe ich immer noch Kontakt“, fügt Frank Schleßmann hinzu. Während seines Theologiestudiums in Hermannstadt hat er auch seine Frau, die damals die Kantorenschule ebenda besuchte, kennengelernt. „Während der Studentenzeit habe ich fast alle siebenbürgisch-sächsischen Dörfer besucht. Es gibt kaum ein Dorf, das ich nicht kenne“, betont Frank Schleßmann. „Im Laufe der Jahre, ab 1983, hat mein Mann immer Pakete geschickt und Leute im Banat, in Siebenbürgen und im Schiltal besucht“, erzählt Johanna Schleßmann. „Seit 25 Jahren halte ich Gottesdienste an Palmsonntag in Schylwolfsbach/Lupeni“, so Pfarrer Schleßmann. Im Schiltal leben ungefähr 500 Deutsche, die meisten davon sind katholisch, aber auch etwa 70 Evangelische. „Die Alten sterben aus, viele Leute haben deutsche Namen, aber sie sprechen kein Deutsch mehr“, schildert Pfarrer Schleßmann die traurige Lage.

Johanna Schleßmann ist Religionslehrerin und entstammt einer Familie, die zwei Generationen evangelischer Pfarrer hervorbrachte. Ihr in Neumarkt/Târgu Mureş geborener Großvater, Friedrich Nösner, bekleidete zwischen 1964-1976 das evangelische Pfarramt in Liebling. Friedrich Nösner studierte Theologie in Leipzig und lernte dort seine zukünftige Frau, eine Deutsche, kennen. „Ich kann mich erinnern, dass meine Großmutter am Sonntag während des Gottesdienstes die Orgel spielte, zu Hause spielte sie am Klavier“, erzählt Johanna Schleßmann und zeigt auf die Stelle in der Nähe des Fensters in einem Zimmer des Pfarrhauses, wo einst der Flügel gestanden hat. Friedrich Nösner hat vier Kinder gehabt, eines davon – Klaus Nösner – entschloss sich ebenfalls für eine geistliche Laufbahn. Es handelt sich dabei um Johanna Schleßmanns Vater, der einige Zeit Vikar in Liebling, dann Pfarrer in Marktschelken/Şeica Mare und Petersberg/Sânpetru war. Johanna Schleßmann ist in Marktschelken geboren und hat das Honterus-Lyzeum in Kronstadt/Braşov besucht. „In den Sommerferien war ich oft in Liebling. Ich hatte elf-zwölf Cousinen und wir haben uns alle hier getroffen“, sagt die Religionslehrerin. „Meine Cousinen und ich haben neben der Kirche Theater gespielt, uns Theaterstücke ausgedacht, geprobt und dann die Eltern zur Aufführung des Stücks eingeladen“, ergänzt Johanna Schleßmann. Ihr Großvater habe auch gern im Garten des Pfarrhauses gearbeitet. „Ich kann mich an die Weinreben, die Pflaumen- und Aprikosenbäume im Garten der Großeltern und an den Geruch der Brombeeren erinnern“, verweilt Johanna Schleßmann in den Kindheitserinnerungen.

Frank Schleßmann war 24 Jahre Pfarrer in Fürstenfeld und bekleidet seit 2007 dass Pfarramt in Mattighofen. „Wir fühlten, dass ein Wechsel notwendig war, mein Mann war 50, und es hieß ´jetzt oder nie´“, äußert sich Johanna Schleßmann zum Umzug. Entscheidend in ihrer Wahl für die Gemeinde Mattighofen waren auch die vielen ehemaligen Lieblinger, die dort lebten. „1944 sind viele Lieblinger und Nordsiebenbürger bei der Flucht in Mattighofen angekommen und dort geblieben“, führt Pfarrer Schleßmann an. Nach dem Mittagessen besuchen wir noch die im 15. Jahrhundert errichtete serbisch-orthodoxe St. Georgs-Klosterkirche bei Mănăstirea, wo als Reliquie ein Fragment des Schädelknochens vom hl. Georg aufbewahrt wird. Da Mănăstirea unweit von Birda, einer weiteren Temescher Ortschaften, liegt, fährt die Gruppe auch zur 2007 sanierten evangelischen Kirche ebenda. Nach der Besichtigung des serbischen Klosters verabschiede ich mich von der Gruppe, die über Liebling zurück nach Temeswar fährt, und begleite Pfarrer Walther Sinn auf seiner Fahrt nach Klopodia. Die Reise der Österreicher geht nach Orschowa an der Donau, dann weiter nach Hermannstadt, Schäßburg und in die Bistritzer Gegend. „Wir fahren noch in die Bukowina, nach Jakobeni, wo wir uns mit den letzten Bukowiner Deutschen treffen werden“, schließt Pfarrer Schleßmann.