Aus dem schwarzen Loch der Vergessenheit

Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs und deutsche Soldatengräber in Rumänien

Oberst a.D. Dr. Cristian Scarlat beim Vortrag im Kulturhaus „Friedrich Schiller”, der auch von Staatsekretär Aledin Amet vom Departement für Interethnische Zusammenarbeit an der rumänischen Regierung (DRI) und von Klaus-Christian Olasz vom Kultur- und Minderheitenreferat der deutschen Botschaft wahrgenommen wurde.

Auguste Schnell aus Hermannstadt organisierte die Pflege deutscher und österreichischer Soldatengräber aus dem Ersten Weltkrieg.

„Wie viele Musiker mögen als Soldaten gefallen sein?“, fragt sich der Vortragende mit Verweis auf den Geiger Cristian Balaş.
Fotos: George Dumitriu

Herrmann Bosch, Olympiasieger. Eduard Buchner, Nobelpreisträger für Chemie (1907), Entdecker der zellfreien Gärung und Begründer der Enzymologie. Prinz Heinrich von Reuss, Prinz Friedrich Wilhelm von Hesse, Prinz Heinrich von Bayern und Prinz Eduard zu Fürstenberg. Dann der Poet, Schriftsteller und Dramaturg Gustav Zack. „Seine Streichholzschachtel habe ich im ‘Museum für den Tod (Anm.: Museum für Sepulkralkultur) in Kassel entdeckt”, sagt Oberst a.D. Dr. Cristian Scarlat mit bewegter Stimme. „Doch sein Grab habe ich noch nicht gefunden”, fügt er an. Was die Genannten gemeinsam haben? Sie sind in Rumänien im Ersten Weltkrieg (1914-1918) gefallen. Was von den Geschichten der Opfer des Ersten Weltkriegs übrig blieb, ist meist nur anonyme, trockene Geschichte, die Einzelschicksale kaltherzig schluckt. Erinnerungskultur ist ein Versuch, jene, die ihr Leben im Krieg lassen mussten, aus dem schwarzen Loch der Vergessenheit zu ziehen, um ihr Opfer – immerhin der Einsatz des eigenen Lebens – mit ein wenig menschlicher Wärme zu würdigen.

Es gibt keine europäische Gedenkkultur

„Erinnerungskultur - der Begriff ist noch nicht alt”, erklärt der Vortragende, ehemaliger Direktor des rumänischen Amtes für Heldengedenken, das es seit 2004 gibt, auf der Konferenzdebatte „Die Denkmalkultur des Ersten Weltkrieges – der Fall der deutschen Kriegsgräber in Rumänien” am 23. Februar im Bukarester Kulturhaus „Friedrich Schiller”. Selbst im Internet findet man nicht viel dazu, fährt er fort, das gelte nicht nur für Rumänien, sondern für ganz Europa. Erinnerungskultur umfasst den gesellschaftlichen sowie individuellen Prozess der Vergegenwärtigung von Geschichte. Ausprägungen gibt es mehr, als man auf den ersten Blick vermuten würde, denn dazu gehören nicht nur Denkmalpflege, National- und Volkstrauertage, sondern im weitesten Sinne auch Straßennamen, Gedenktafeln, Monumente, Archive und Museen, Medaillen und Postkarten.

Gedenkkultur betrifft nicht nur Ereignisse der näheren Vergangenheit. Sie kann weit in die Geschichte zurückreichen, etwa als Erinnerung an ein historisches Ereignis, das eine Gemeinschaft charakterisiert und verbindet. Als Beispiel erwähnt Scarlat die Schlacht von Marienburg/Feldioar² 1612 - an die das Studentendenkmal in Marienburg erinnert - , der jeden Oktober in einer kollektiven Zeremonie, an der auch der rumänische Bürgermeister teilnimmt, gedacht wird. Hauptfigur war der Kronstädter Stadtrichter Michael Weiß (1569 – 1612), der in der Schlacht seinen Tod fand. Der Überlieferung nach sollen auch Schüler des Kronstädter Honterus-Lyzeums ihr Leben verloren haben. Zur Zeit des Kommunismus verboten, wurde die Gedenkfeier 1998 wieder aufgenommen. Die Schlacht gilt als historisches Ereignis, das die heutige Kronstädter Gemeinschaft definiert, so Scarlat. Selbstverständlich gibt es in Kronstadt/Braşov auch eine Michael-Weiss-Straße.

Bezeichnend für Gedenkkultur ist aber auch, dass ein historisches Ereignis von den verschiedenen Beteiligten unterschiedlich empfunden wird: „Die Türkei erinnert den Ersten Weltkrieg anders als Armenien, Australien gedenkt anders als Neuseeland”. Auf EU-Niveau gibt es keine gemeinsame Gedenkkultur, macht der Vortragende aufmerksam. Doch zitiert er den Kommissionsvorsitzenden Jean-Claude Juncker, der, auf dieses Manko hingewiesen, sagte: Wer Zweifel am vereinten Europa hätte, der bräuchte nur die Soldatenfriedhöfe in Deutschland, Frankreich oder Belgien zu besuchen, wo Opfer aller Länder direkt nebeneinander begraben sind.

Facetten des Gedenkens

Auf den ehemaligen Schlachtfeldern finden sich heute in der Regel Denkmäler, Beinhäuser, Heldenfriedhöfe, Mausoleen oder Gedenkstätten, oft sogar mit touristischem Aspekt. So finden am Grab des unbekannten Soldaten Protokolle auf höchstem Staatsniveau statt. In Rumänien liegt es im Bukarester Carol Park, wo es am 17. Mai 1923 im Beisein der königlichen Familie eingeweiht wurde. Es erinnert an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten. Mittlerweile haben auch Frankreich, England, Belgien, Griechenland und Kanada ein solches symbolisches Grab. Für die Planung der Zeremonien gibt es ein paar Regeln, verrät Cristian Scarlat. Wichtig ist die Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen, die freilich nicht erzwungen werden kann. „Für sie wird die Erinnerung ja weitergetragen”, betont der Experte. Ebenso essentiell ist die Anwesenheit der Presse. Zudem muss die Botschaft klar und unverschnörkelt sein, damit das Zeremoniell nicht in Kitsch ausartet. Ein positives Beispiel sei der letzte Volkstrauertag im Pro-Patria-Friedhof Bukarest im Beisein des deutschen Botschafters und des Militärattachés gewesen, wo erstmals jedes einzelne Grabkreuz mit einer Kerze und einem kleinen Kranz versehen wurde.

Auch Archive und Museen können Formen des Gedenkens darstellen. Wichtig ist die allgemeine Zugänglichkeit der Daten. „Darin sind die Russen Meister”, überrascht Scarlat. Vormals geheime Dokumente aus dem Ersten Weltkrieg wurden in Russland deklassifiziert, eingescannt und stehen Interessierten im Internet zur Verfügung. „Man findet dort sogar zu Schlachten in Rumänien Informationen, über die Zahl der Verluste oder wo die Gefallenen begraben sind”, erklärt er. Die Online-Archivierung sei die optimale Form, denn niemandem hilft es, wenn Dokumente in Kellern lagern, betont er. „Manchmal kommt es auch vor, dass erst nach sehr langer Zeit, z.B. durch einen Urenkel, nach Gräbern und Informationen geforscht wird.”

Eine weitere Form der Erinnerungskultur sind Gedenktafeln im Heimatort der Gefallenen. In den orthodoxen, evangelischen und katholischen Kirchen Rumäniens findet man häufig Listen mit den Namen der Kriegsopfer. „Etwa 100.000 gibt es im ganzen Land”, erklärt Scarlat und fügt an: „Falls Sie sich einmal gewundert haben, wieso da eine Zahl hinter den Namen steht – das ist die Hausnummer, wo der Gefallene gewohnt hat.” Modernere Formen des Gedenkens sind Nachstellungen historischer Schlachten, sogenannte „Reenactments“, an denen sich auch die Jugend gerne beteiligt. Es gibt sogar eine deutsche Reenactment-Gruppe in Rumänien, betont Scarlat: das Deutsche Freikorps (siehe ADZ vom 23.10.2016, Ralf Sudrigian: „Armee-Deutsch einst und heute”). Reenactment-Gruppen gibt es zu vielerlei Themen, selbst zur Römer- und Dakerzeit. Sie stellen nicht nur historische Ereignisse, sondern auch die damals geltenden Lebensumstände möglichst originalgetreu nach. Mitglieder sind daher oft Museographen, Archäologen oder Historiker. Einen weiteren, nicht zu vernachlässigenden Beitrag zum Gedenken leisten Numismatik und Kartophilie: „Bei Amazon findet man Postkarten über Friedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg und es gibt begeisterte Sammler, auch für Münzen und Gedenkmedaillen, das Prägen solcher war und ist in fast jedem Land üblich”, so der Vortragende.

Nicht zuletzt spielen Musik, Literatur und Film eine Rolle in der Erinnerungskultur: Der Kriegsroman „Padurea spânzuraţilor” von Liviu Rebreanu (1922), der später auch verfilmt wurde; der US-amerikanische Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues” von Lewis Milestone (1930), der mit dem Oscar ausgezeichnet wurde; als Vorlage diente der gleichnamige Roman von Erich Maria Remarque. Jüngstes Beispiel: der Spielfilm von Steven Spielberg „Gefährten” (2011), der auf Michael Morpurgos Jugendbuch und Bestseller „War Horse” (1984) basiert und seit 2007 auch als Theaterstück große Erfolge feiert.

170 Heldenfriedhöfe im ganzen Land

Nach vorläufigen statistischen Daten sind in Rumänien im Ersten Weltkrieg etwa 63.000 Soldaten gefallen - davon konnten nur 34.309 identifiziert werden. Die Opfer ruhen in den 170 Heldenfriedhöfen, die über das ganze Land verteilt sind. Die größten Kriegsfriedhöfe der im Ersten Weltkrieg gefallenen Deutschen liegen in Bukarest (Pro Patria), Jassy/Iaşi (Eternitatea), Buzău, Târgu Jiu, Brăila, Focşani, Kronstadt/Braşov, Hermannstadt/Sibiu, Bacău, Ţifeşti, Heltau/Cisnădie, Craiova und Titu, so Scarlat. Der Vertrag von Versailles verpflichtet jedes Land zur Markierung und Pflege der Kriegsgräber; noch besser regelt dies auf internationalem Niveau die Genfer Konvention, der Rumänien 1990 beigetreten ist, erklärt er. Um die Pflege deutscher und österreichischer Soldatengräber aus dem Ersten Weltkrieg in Siebenbürgen kümmerte sich die Hermannstädterin Auguste Schnell, die schon während des Krieges eine Spendenorganisation für Kriegsopfer leitete. Aus dieser Tätigkeit entwickelte sich die Siebenbürgisch-Sächsische Kriegsgräberfürsorge, die in 61 Gemeinden auf 67 Friedhöfen ehrenamtlich rund 20.000 Gräber betreute, informiert Scarlat.

„Die Gräber erinnern an einen Krieg, der mit viel Patriotismus begonnen wurde und sich in ein Meer aus Tränen und einen See aus Blut transformierte”, resümiert Aurora Fabritius, die Koordinatorin der Veranstaltung im Schillerhaus. Manche liegen an überaus idyllischen Orten, wie das umfassende Bildmaterial des Vortragenden demonstriert: Weiße Kreuze, die aus üppigen Blumenwiesen ragen, dahinter eine gewaltige Gebirgskulisse. Monumente, überwuchert und verfallen, einsam in weiter Landschaft. Hölzerne Kreuze, kostbar geschnitzt, gewaltige Zentralmonumente auf Friedhöfen, oder säuberlich gepflegte Reihen schlichter, steinerner Tafeln. Spontan verweist der Vortragende auf den Geiger, der die Veranstaltung musikalisch begleitet: „Ich frage mich, wie viele Musiker mögen als Soldaten gefallen sein?” Musiker, Poeten, Nobelpreisträger und deutsche Prinzen...