Aus der Traumenkiste der Geschichte

Verzeihen und Gedenken – 72 Jahre nach der Deportation der Rumäniendeutschen in die UdSSR

Grußwort von Staatssekretär Aledin Amet vom Departement für Interethnische Beziehungen an der rumänischen Regierung (DRI). Im Hintergrund die Zeichnung: „Er war jung, doch zu schwach, den Hungertod zu besiegen“.
Foto: George Dumitriu

Lautlos verschwindet der Zug in der endlosen Schneelandschaft. Auf dem letzten Waggon thront, auf dem Dach sitzend, überheblich lächelnd, der Tod. „Der ewige Begleiter“ hatte der Zeichner daruntergekritzelt. Dann immer wieder Stockbettenszenen. Minimalistische Punkt-Punkt-Strich-Gesichter in Schwarzweiß werden darin zu Gefühlen: „Heimweh“ steht unter dem Bild, auf dem die Gestalten verstohlen unter die Decke, in die Hand oder in die Jackentasche spähen. Und: „Heimweh ist, wenn man das Bild der Mutter immer wieder anschaut.“ Auf den anderen Szenen schleppen Männer Säcke oder Leichen; im Hintergrund Züge, Lager, Minen. Das Leben der Deportierten reduzierte sich auf Schmerz und Arbeit, Arbeit und Schmerz.

Wie jedes Jahr im Januar wird im Kulturhaus „Friedrich Schiller“ des traumatischen Ereignisses gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gedacht, vor dem kaum eine deutsche Familie in Rumänien verschont geblieben ist: die geschlossene Deportation der deutschen Minderheit – der Sathmarer und Banater Schwaben, der Banater Berglanddeutschen und Siebenbürger Sachsen, der Bukowinadeutschen und jener aus dem Altreich – im Januar 1945 in die ehemalige UdSSR. Frauen im Alter von 18 bis 30 und Männer zwischen 17 und 45 Jahren, oft Väter und Söhne gemeinsam. Zurück blieben die Kinder und Alten. Während die Bilder im Hintergrund als Endlosschleife laufen – Zeichnungen und Fotos von Zeitzeugen, die der Vorsitzende des Demokratischen Forums der Banater Berglanddeutschen, Erwin Josef Ţigla, aus Reschitza mitgebracht hat – erinnern dieser und andere geladene Gäste – Dr. Klaus Fabritius, Vorsitzender des Altreichforums, und Christiane Cosmatu, Unterstaatssekretärin im Departement für Interethnische Beziehungen an der Regierung Rumäniens – mit Fakten und Zahlen an das historische Trauma. Vorgeblich wurden die Deutschen zum Aufbau der im Krieg zerstörten russischen Städte und Fabriken verschleppt, so Fabritius. Die meisten Deportierten landeten jedoch stattdessen in Kohlen-, Gold- oder Silberminen, wo sie unter gefährlichsten Bedingungen schuften mussten, stellt er richtig. Zuerst wollte man nur die Männer deportieren, doch weil viele von der Front noch nicht zurückgekehrt waren, wurde von russischer Seite beschlossen, auch Mädchen und Frauen mitzunehmen. Nur Mütter von Kleinkindern unter einem Jahr sollten verschont bleiben. Etwa 75.000 unschuldige junge Menschen wurden in Viehwaggons verfrachtet und abtransportiert, mitten im eisigen Winter. Sie wussten nicht, wohin die Reise gehen würde, auch nicht wie lange – oder ob sie jemals zurückkehren würden. Ca. 20.000 starben dahin.

Die „glücklichen“ Rückkehrer aber, voller Heimweh und Hoffnung, mussten bald erkennen, dass es ihre vertraute Heimat nicht mehr gab. Im nach russischem Vorbild kommunistisch gewordenen Rumänien fanden sie sich vom Regen in der Traufe wieder. Haus, Grund und Boden enteignet, verloren; die Eltern vieler verstorben, Ehegatten, zurückgelassene Kinder entfremdet. Auf einige wartete im neuen Regime Zwangsarbeit, Gefängnis oder eine erneute Deportation in den Bărăgan. Der Seelenschmerz wollte kein Ende nehmen.

Verzeihen, doch niemals vergessen

Immer wieder taucht das Foto eines jungen Mannes vor einem schlichten Holzhaus auf. „Mein Großvater“, erklärt Ţigla knapp. Dass auch sein Großvater nach Russland verschleppt worden war, hatte er zufällig als Kind erfahren, als er zufällig einen Blick in dessen Arbeitsbuch warf. Erst in den 70er Jahren wurde die Zwangsarbeit, anfangs totgeschwiegen, dort mit dem Eintrag „1945-1949, Arbeitseinsatz UdSSR“ vermerkt. „Da habe ich dann gezielter nachgefragt“, erinnert sich Ţigla. Seit 27 Jahren setzt er sich nun mit Vergangenheitsbewältigung auseinander, regt die Aufstellung von Denkmälern an, gibt Bücher heraus, organisiert Ausstellungen, spricht auf Konferenzen. Ein emotionelles Thema, gesteht er. Und erzählt, wie seine Mutter, die zur Zeit der Verschleppung ihres Vaters gerade mal ein Jahr alt gewesen war, bei dessen Rückkehr fragte: „Wer ist dieser Fremde, der jetzt bei uns wohnt?“ Es war der 24.12.1949. Ausgerechnet Weihnachten. 72 Jahre sind nun seit Beginn der Deportation vergangen. Aus unzähligen gesammelten Zeitzeugenberichten weiß Ţigla: „99 Prozent der Deportierten haben ihren Peinigern vergeben – damals wie heute. Doch sie alle wollen, dass man sich erinnert, damit so etwas nie wieder geschehen kann!“

Kaleidoskop  des Dramas

Erinnern in der Öffentlichkeit – das war in Rumänien erst nach der Wende, ab 1990, möglich. Man fing an, darüber zu sprechen, erste Bücher erschienen. Vor allem die jüngere Generation begann, sich gezielt zu informieren. 1995 gab es erstmals eine Gedenkveranstaltung in der Schwarzen Kirche in Kronstadt/Braşov. Es folgten ähnliche Ereignisse alle fünf Jahre: in Temeswar/Timişoara, Reschitza, Sathmar/Satu Mare. Danach mehrere im ganzen Land. Seit 1995 hat }igla fünf Bücher zum Thema herausgegeben. Seine schönste Genugtuung, gesteht er, sei der 2010 erschienene Bildband „Monumente şi plăci comemorative pentru germanii din România deportaţi în fosta Uniune Sovietică“, weil er nun von vielen als Vorlage für weitere Denkmäler herangezogen wird.

Die Banater Berglanddeutschen hatte man viel weiter verschleppt als die meisten anderen Deutschen, fährt Ţigla fort. Nicht in den Donbass in der heutigen Ukraine, sondern in die Gold- und Silberminen des Ural. Dabei waren ausgerechnet in Reschitza die Sozialdemokraten sehr stark, erzählt er. Man fühlte sich den Kommunisten nahe, wegen der gemeinsamen sozialistischen Ideologie. „Warum werden ausgerechnet wir deportiert?“, beklagte sich daher ein Berglanddeutscher. Die Antwort mutet heute ziemlich ironisch an: Gerade weil sie Sozialisten seien, müssten sie doch als gutes Beispiel vorangehen und demon-strieren, wie man den Plan der Arbeit freudig erfüllen könne...
Das Ausmaß des Dramas der Deutschen wurde in dem Film „Am Rande des Schweigens“ von Cristian Amza, Mediengestalter bei TVR2, verdeutlicht. Er ist Teil einer Reihe von fünf Dokumentationen zum Thema Deportation, die dieses Jahr nach und nach im Schillerhaus ausgestrahlt werden sollen. Zu Wort kommen darin nicht nur Zeitzeugen, sondern auch Experten und Vertreter der deutschen Minderheit – darunter Christiane Cosmatu, Dr. Klaus Fabritius, Hannelore Baier – und betroffene Hinterbliebene, wie Bischofsvikar und Bukarester Stadtpfarrer Dr. Daniel Zikeli, dessen Großvater ebenfalls deportiert war, oder der Autor und rumänische Diplomat Claudiu Florian, Nachfahre einer Sächsin, die der Deportation auf abenteuerliche Weise entrinnen konnte.

Zu Beginn schlug den Deportierten eine Welle von Hass entgegen, erzählt Historikerin Lavinia Betea. In den Bahnhöfen, wo die Züge hielten, warfen russische Frauen und Kinder Steine gegen die Waggons und riefen „Faschisten! Tod für euch!“ Statt Städte und Fabriken erwartete die meisten Schwerstarbeit untertage – in kaum beleuchteten Kohlenminen mit überschwemmten Schächten und morschen hölzernen Stützen. Auch Frauen mussten in den Minen arbeiten. Schwere Unfälle waren an der Tagesordnung. Andere schufteten in Steinbrüchen oder mussten das zerstörte Eisenbahnnetz instandsetzen.

Mutige  Rettungsversuche

Nur wenige entkamen der Deportation, zum Beispiel durch Heirat mit Rumänen, erklärt Christiane Cosmatu. Auch Fälle von heimlicher Hilfe kamen vor: Menschen wurden versteckt, vorgewarnt oder sogar von jenen freigelassen, die sie eigentlich verhaften sollten. In dem biografischen Roman  „Vârstele jocului” erzählt Claudiu Florian, wie man in einer Repser Klinik versuchte, Sächsinnen vor der Deportation zu bewahren: Sie wurden in Betten gepackt, am Bauch zerkratzt, als wären sie frisch operiert, verbunden und an Infusionsflaschen gehängt. Er erzählt aber auch, wie seine eigene sächsische Großmutter durch eine arrangierte Ehe der Verschleppung entging: Zuerst war das Mädchen monatelang vom Vater versteckt worden – in einer winzigen Nische hinter dem Backofen regelrecht eingemauert, in der man nicht liegen, nur stehen oder sitzen konnte. Nachdem sie dort mangels Bewegung sehr schwach geworden war, musste eine andere Lösung gefunden werden. Der Vater wandte sich an einen ledigen Gendarmen aus Reps/Rupea, dem die Tochter, die in der Klinik als Krankenschwester angestellt war, vor Kurzem eine Wunde versorgt hatte – und verhandelte mit diesem die Ehe! Am 8. Juli 1945 wurde in Seiburg/Jibert geheiratet. Es war eine traurige Hochzeit mit versteinerten Seelen, schreibt Florian. Die Liebe kam erst später. Die Zeitzeugen werden immer weniger. Immerhin sind 68 Jahre seit der Rückkehr der Überlebenden vergangen, erinnert Cosmatu. Nun sind es die Hinterbliebenen, die ihr Vermächtnis weitertragen: Erinnern, Ermahnen, Gedenken. Im Hintergrund rollen die Bilder: „Lager Ural 1802 ISS“, „Goldwäscherbagger-Generalüberholung“, „Holzschlag bei 40 Grad minus“... Standbilder aus individuellen Erinnerungsfilmen, dem Träger für immer aufgeprägt, in seine Schicksalskarte eingestempelt. Darunter auch das eine, das allen gemeinsam ist: der Zug mit dem „ständigen Begleiter“.