„Balkan ist für mich nicht Vetternwirtschaft und Korruption, sondern vor allem kulturelle Vielfalt“

ADZ-Gespräch mit Prof. Dr. Thede Kahl von der Universität Jena

Prof. Dr. Thede Kahl wurde zum Doctor honoris causa der Arader Vasile-Goldiş-Universität ernannt.
Foto: Zoltán Pázmány

Er spricht mehr als zehn Fremdsprachen, darunter fast akzentfrei Rumänisch: Prof. Dr. Thede Kahl aus Jena wurde vor Kurzem mit dem Titel eines Doctor honoris causa der Arader Vasile-Goldiş-Westuniversität bedacht. Und das, obwohl er mit der Arader Universität bisher noch überhaupt nicht zusammengearbeitet hat. Kahl hat eine Professur für Südslawistik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Deutschland, und ist der Leiter des dortigen Instituts für Slawistik und Kaukasusstudien. Der Vorsitzende des Balkanromanistenverbands ist gleichzeitig Mitglied der Kommission „Schwarzmeerraum-Türkei-Balkan“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In Rumänien arbeitet Thede Kahl mit mehreren Universitäten zusammen, darunter mit jenen aus Bukarest, Jassy/Iaşi und Klausenburg/Cluj-Napoca. Auch mit der Arader Universität soll es künftig zu gemeinsamen Projekten kommen. ADZ-Redakteurin Raluca Nelepcu traf Prof. Dr. Thede Kahl bei der Verleihung des Ehrendoktortitels in Arad und führte mit ihm folgendes Gespräch.

Wann sind Sie das allererste Mal nach Rumänien gekommen und welchen ersten Eindruck hat  das Land bei Ihnen  hinterlassen?

Das war 1997. Ich war damals auf Feldforschung mit einer Tasche voller Telefonnummern und Namen von Aromunen, die ich im Raum Medgidia und Konstanza finden wollte und gefunden habe. Mit denen habe ich Interviews durchgeführt. Alle waren sehr freundlich, aber alle hatten auch eine gewisse Unlust zu antworten. Es war also nicht das Mediterrane, das ich aus Griechenland kannte, es war auch nicht das Komplexbeladene, das ich aus der DDR kannte und wo ich oft als Kind gesehen habe, dass die Leute über gewisse Themen nicht mit einem reden wollten. Ich habe gemerkt, dass die Leute ein Potenzial haben, sehr gastfreundlich zu sein, aber viele haben doch immer die Frage gestellt: Was sollen diese Fragen mit Bevölkerungsaustausch, mit Minderheiten? Was mich begeistert hat, war die interethnische Situation. Die Leute kamen gut miteinander klar, es gab also nicht das Problem des Rassismus, der Angst vor Roma. Ich habe die Dobrudscha damals als sehr harmonisch empfunden und empfinde sie heute noch so. Sie ist ein gutes Beispiel für interethnische Koexistenz. Was mich aber auch ein bisschen negativ beeindruckt hat: Es war alles ziemlich grau. Es war Regen, es war Schlamm. Das Rumänien, was ich mir vorgestellt habe, mit den Karpaten und den grünen Wäldern, das habe ich bei der ersten Reise nicht gefunden. Bukarest war grau, die Dobrudscha war grau. Die Farben, die es dort gibt, habe ich erst später entdeckt, als ich mal nicht im Winter dorthin gefahren bin, sondern im Frühjahr. Und es ist schön.

Sie haben schließlich das schöne Rumänien entdeckt. Im Ausland kreisen viele Vorurteile über Rumänien. Tun Sie etwas, um gegenzusteuern?

Ich muss mir selbst oft auf die Zunge beißen, weil Vorurteile wirksam sind. Sie können benutzt werden und sie bringen Gehör. Sobald man von Rumänien irgendwie zu wissenschaftlich redet, hören alle weg und keiner kommt mehr zu den Veranstaltungen. Wenn ich Erfolg haben will – sei es an der Uni oder anderswo, beim Vortrag im Kulturrahmen und nicht im wissenschaftlichen – dann rede ich natürlich über Straßenkinder und über Dracula. Dieses Image wollen wir aber nicht verkaufen. Trotzdem kommen hie und da diese Worte – vor allem Journalisten bedienen das Klischee.
Der positive Aspekt kommt aber auch in der Lehre ständig vor. Wir haben Studenten, die nicht kommen, weil irgendwo Konflikte sind. Ich beschäftigte mich nicht nur mit Rumänien, sondern auch mit den südlichen Nachbarländern. Und die Studenten kommen eben nicht, weil im Kosovo Krieg war oder weil in Rumänien die Leute sehr viel ärmer sind. Sie kommen, weil sie die Kultur lieben. D. h. wenn wir uns in Jena die Schule anschauen, die dort Rumänisch, Bulgarisch, Serbisch, Albanisch bedient, das sind alles Studenten und die Lektoren sind ausgesprochene Kulturfans. Das ist im Prinzip unsere Message: Ein positives Bild nicht nur zu vermitteln, sondern auch einfach zu sehen. Ich sehe es, Rumänien ist ein kulturell sehr reiches Land und für mich, auf Reisen, sowieso ein Paradies. Wenn man aber hier lebt, natürlich, und die regionalen Gehälter bekommt, dann streicht sich das Wort „Paradies“ sehr schnell. Es ist natürlich schade, dass diese ganzen Vorurteile und diese Klischees da sind. Letztendlich werden diese aber mit der Zeit verschwinden. Man muss nur gut zusammenarbeiten und sich besser kennenlernen. Es ist immer noch ein Erbe des Eisernen Vorhangs, die meisten Leute aus dem Westen sind noch nie in Rumänien gewesen und wenn sie nicht kommen, werden sie das auch weiterhin im Kopf haben.

Wie groß ist denn das Interesse deutscher Studenten in Jena an der  rumänischen Sprache und Kultur?

Dafür, dass es eine Stadt mit knapp 100.000 Einwohnern ist: Sehr groß! Es gibt in allen Kursen 10-20 Teilnehmer, es gibt insgesamt über 100 Eingeschriebene, nicht nur für das Rumänische, sondern eben weil wir es mit den Nachbarsprachen kombinieren. Man kann auch Südosteuropastudien studieren und die haben dann Rumänisch plus eine andere südosteuropäische Sprache – Bulgarisch, Griechisch. Das ist im Prinzip das Erfolgsrezept. Gemessen an der kleinen Stadt ist Jena erfolgreich. Es gibt genügend Studenten, und wenn man jetzt in Berlin oder Rostock Rumänisch studieren will, dann ist Jena doch die erste Adresse. Dass es sich mit der Pensionierung von Wolfgang Dahmen ändern könnte, befürchte ich, dass allerdings ein Nachfolger kommt und sich die Universitätsleitung nicht gegen eine Fortsetzung der Professur entscheidet, glaube ich auch.

Inwiefern gibt es unter Ihren Studenten Gespräche über die Innenpolitik Rumäniens, über Korruption, und worauf laufen diese Gespräche hinaus?

Da bekomme ich natürlich nicht alles mit, was unter Studenten gesprochen wird, aber wir versuchen, das mit in den Lehrraum zu integrieren. Ich muss aber ehrlich sagen, dass aufgrund der Beschäftigung der Experten mit der Kultur, mit der Literatur und mit der Sprache, die Lektoren und Professoren  schon so  beschäftigt sind, dass die Aktualisierung von Kenntnissen oft nicht leicht fällt. Da muss ich fast sagen, die Studenten überholen uns, weil die Studenten mit dem Alltag oft ganz anders konfrontiert sind. Sie fahren mindestens genauso oft wie wir nach Südosteuropa. Die Studenten, die Rumänisch lernen, lernen Rumänien heute kennen, während die Lektoren und Professoren das Rumänien von gestern unterrichten und dadurch kommen der Alltag und die politische Situation manchmal vielleicht etwas zu kurz. Da sehe ich, dass die Studenten weniger die Universität als Quelle nehmen, sondern wirklich die Alltagsgespräche, und dass da auch von uns was getan werden muss. Wenn wir merken, dass der Student an der aktuellen Geschichte interessiert ist, dann müssen wir unser Programm ständig verändern.

Sie sprechen zwölf Sprachen. Wie schafft man diese Leistung?

Ich weiß nicht, wie viele das sind. Es ist auch eine Schwierigkeit, sie zu zählen, denn ich spreche Sprachen, deren Status umstritten ist. Ich liebe kleine Sprachen. D. h. wenn ich jetzt das Kroatische, Serbische und Bosnische spreche, wie viele Sprachen sind das dann, eine oder drei? Wenn ich Rumänisch kann und dann auch noch Aromunisch spreche, darf ich sie mitzählen, wenn man in Rumänien sagt, dass Aromunisch ein Dialekt ist, ich aber der Auffassung bin, es ist eine Sprache und die Aromunen selbst es als Sprache verkaufen? Die Sprachen zu zählen hat meines Erachtens nach keinen Sinn. Nur ein Tipp: Man muss immer aufpassen, dass man sie aktiv hält. In meinem CV stehen noch Sprachen, die ich versucht habe, sie mir für eine oder zwei Reisen anzueignen, diese einiger-maßen beherrscht habe und heute eigentlich nicht mehr spreche. D. h. ich müsste beispielsweise wieder für einen Monat nach Italien oder Polen kommen.

Wenn man in Rumänien von etwas sagt, dass es „balkanisch“ ist, dann ist das mit etwas Negativem verbunden. Wie „balkanisch“ sehen Sie Rumänien überhaupt?

Das ist eine Frage der Klischees, über die wir eben gesprochen haben. Wenn man in Westeuropa Vorurteile gegen Rumänien hat, dann, weil man es wenig kennt. Und wenn man es kennenlernt, dann will man seine Vorurteile eigentlich nur bestätigt wissen. Das Balkanische schiebt man, soweit es geht, nach Süden – vom Norden aus gesehen, und vom Süden aus, soweit es geht, nach Norden. Sodass es eine kleine Kernzone gibt, irgendwo um Mazedonien herum, die nicht drumherum kommen und das  positiv belegen. Meines Erachtens muss man das auch machen, den Begriff einfach positiv belegen. Als Kulturbegriff ist er für mich positiv. Balkan ist für mich nicht Vetternwirtschaft und Korruption, sondern vor allem kulturelle Vielfalt – viele Kulturen nebeneinander, ein Reichtum. Es ist keine Schande zu sagen, dass der Süden Rumäniens zum Balkan gehört. Gerade die Dobrudscha ist doch  Balkan par excellence: Da leben Türken, Christen, Deutsche, Gagauzen, Bulgaren, Rumänen. Natürlich gibt es keine Schluchten, wenn Sie es mit der Landschaft assoziieren – die Schluchten des Balkans, des Karl May. Wenn man will, kann man auch das Banat hinzuzählen, doch ich bin vorsichtig damit, weil das so lange Österreich-Ungarn gewesen ist und so dicht an Zentral- und Mitteleuropa liegt. Aber als Balkanologe darf ich mich doch damit beschäftigen.