Betteln und Bettler im Wandel

Vom Mädchen mit den Schwefelhölzern zum Netzwerk Krimineller

Straßenkreuzungen scheinen sich bestens für das Betteln zu eignen.

In Temeswar wurden mehrere Warnhinweise angebracht.
Fotos: Zoltán Pázmány

Das Auto steht an der Kreuzung, der Motor läuft, aus dem Nachbarwagen schallt es laut. An der Kreuzung am Europarat-Platz in Temeswar/Timişoara ist immer viel Verkehr und immer wieder boten Kinder den Autofahrern Blumen an, junge Menschen wuschen Autoscheiben, oder streckten auch einfach die Hand aus und setzten eine weinerliche Miene auf: „Gib mir ein Geldstück!“ Oder auch dreister, wenn die genaue, erwartete Summe genannt wurde: „Gib mir 5 Lei!“ Ein Bild, von dem man sich inzwischen verabschiedet hat, da jetzt ein Warnplakat an der Kreuzung angebracht wurde: „Heute Bettler, morgen Krimineller!“

Diesen Ausspruch hat die Fakultät für Sozialassistenz vor Kurzem aufgenommen und ein Fragezeichen dahinter gesetzt, um einen „öffentlichen Prozess“ des Bettelns in Szene zu setzen: mit Hochschullehrern der Sozialassistenz als Staatsanwalt, Anwalt und Richter. Die Debatte – denn eigentlich ging es um die Eröffnung einer Debattenreihe an der Fakultät für Sozialassistenz – wurde vom Gründer der Fakultät, dem emeritierten Professor Viorel Prelici eröffnet, der auf den Slogan an den Kreuzungen in Temeswar aufmerksam machte und dann die Frage in den Raum stellte: „Stimmt ihr diesem zu?“  Wie der Professor erkannte, geht es „um zwei Aspekte: Zum einen handelt es sich um die Überzeugung einer Person, aus Mitleid oder Philanthropie zu handeln, zu helfen. Zum anderen geht es um einen antisozialen Akt, der Bittende hat entweder kein Potenzial oder nützt es nicht aus“. So hört sich das in der akademischen Fachsprache an. Die brisanteste und komplizierteste Komponente ist (auch wegen des Ausmaßes) neueren Datums und stellt die Ausbeutung von Menschen dar. Darunter leidet „die menschliche Würde auf interpersoneller, sozialer Ebene und das Selbstwertgefühl auf persönlicher Ebene“. Kurz und gut, es geht um Netzwerke von Bettlern, um Ausbeutung, Menschenhandel, hohe Summen und schmutzige Geschäfte.

Betteln ist eine Transaktion

Viorel Prelici skizzierte das Profil der beiden Teilnehmer an der Transaktion: des Bettlers und des Anbieters oder Helfers. „Der Bettler hat ungelöste, stringente Bedürfnisse, verliert seinen Selbstrespekt und geht ein Rollenspiel ein. Im Falle des Helfers spricht man von Selbstrespekt, Würde, Empathie, Barmherzigkeit, Wohltätigkeit oder Philanthropie, wobei die Barmherzigkeit immer bei den Leuten mit religiösen Einstellungen vorausgesetzt wird“. Auf diesem Hintergrund ist auch verständlich, dass sich die Bettler sonntags und an Feiertagen vor den Kirchen Temeswars ansiedeln. Aber nicht vor allen Kirchen, muss man hinzufügen. Das Phänomen hängt auch von dem Pfarrer und der Gemeinde ab. So habe ich einen Pfarrer einst predigen gehört, man müsse seine Barmherzigkeit auch dann ausüben und leben, wenn man wisse, dass der Bettler eigentlich zu einem Netz gehört und dass jemand dahinter steckt, der ihm das (meiste) Geld abnimmt.

Da wird man stutzig! Man versteht sich zwar als Christ, aber doch nicht als Geprellter! Andere Pfarrer, andere Ansichten: Solange der Mensch sich nicht selbst helfen kann – das war in meiner Gemeinde auch der Fall, als eine Stumme, Mutter von drei Kleinkindern, auf uns stieß – soll ihm die Gemeinde auch helfen. Als die Kinder heranwuchsen, bot man der Mutter einen Arbeitsplatz an. In wiederum anderen Fällen bemühen sich die Mitglieder der Gemeinde, dass die Bettler in einiger Entfernung von der Versammlung bleiben, damit der Gottesdienst nicht gestört wird. So kommt es, dass viele Menschen – gerechtfertigt, glaube ich – es vorziehen, genau zu beobachten, wohin die Spende geht und lieber an Institutionen und Organisationen, durchaus auch an Kirchen spenden, die das Geld gezielt an Bedürftige weiterleiten.

Das Phänomen kennt viele Gesichter

Es ist falsch, ein Gleichheitszeichen zwischen Bettlern zu setzen. Die Menschen gehen aus Bedrängnis auf die Straße, sehen sich plötzlich in einer auch für sie unangenehmen Situation und wagen den Schritt.
Vor zehn Jahren stand vor einem Gebäude gegenüber der Medizinuniversität eine Großmutter mit ihrem Enkel. Auf dem Plakat vor ihr stand: Eltern in einem Autounfall verstorben. Die zierliche Frau mit grauen Haaren stand da, den Kopf hielt sie gesenkt, sie schämte ich wohl des Zustandes, war sich aber klar – das Leben lehrt einen, pragmatisch zu denken – dass das Betteln das einzige Mittel war, sich und den Enkel durch das Leben zu bringen. Sie war im hohen Alter ganz auf sich gestellt, um ein Kind mit ihrer Rente heranwachsen zu lassen. An das Kind kann ich mich auch gut erinnern: ein fünfjähriger Junge, mit blonden Haaren und schadhaften Zähnen, den ich aber einmal auch sehr froh an der Hand seiner Großmutter gesehen habe, auf der Straße hüpfend – ganz und gar wie die anderen Kinder seines Alters – eine Gestalt, die aus Andersens Märchen entsprungen ist. Wie ihre Geschichte weiter gelaufen ist, weiß ich leider nicht.

Aber Bettler sind oft nicht mehr das, was sie einst waren – das kann man schon behaupten. Ganze Netzwerke wurden in den vergangenen 25 Jahren aufgebaut, dahinter stecken Mafiosi, sie haben das Betteln in den letzten Jahrzehnten zum Geschäft aufblühen lassen. Kommissar Larenţiu Dincă, ein Fachmann im Kampf gegen den Menschenhandel, der bei der Debatte an der Uni dabei war, erinnerte sich an einen Fall, an dem er gearbeitet hat: „Rendö hat 2005, damals acht Jahre alt, auf den Straßen von Paris täglich 3000 Euro eingebracht“. Heute ist der Siebzehnjährige in Dubai.

Nach dem Öffnen der Grenzen in Europa ist Betteln zu einem ganz anderen Phänomen geworden, in diesen Ausmaßen neu sowohl für den Westen als auch für den Osten. Weder Sozialassistenten noch Polizei oder Gesetzgeber waren darauf vorbereitet. Die Aussagen der Sozialassistenten bei der Debatte klangen manchmal nach einem „Mea culpa“, denn der richtige Einsatz vieler und guter Sozialassistenten würde Prävention bedeuten: Das rechtzeitige Erkennen der Probleme der sozial bedürftigen Personen und die rechtzeitig angebotene Hilfe können das Phänomen Betteln herunterschrauben.
Es wurden kulturelle und soziale Probleme angerissen, wie zum Beispiel 2008-2010 beim massenhaften Exodus der rumänischen Bettler aus Italien und Frankreich in die Staaten Nordeuropas. „Da wurde auch unsere Behörde kontaktiert, um mit den Bettlern ins Gespräch zu kommen, denn sie wollten zum Beispiel in finnischen Städten die Autoscheiben wischen. Bei den Temperaturen dort florierten gleich die Eisblumen“, erinnerte sich der Kommissar von der Nationalen Behörde gegen den Menschenhandel.

Beim „Prozess“ hielten die Parteien eher mit den Bettlern. Nur die Komponente der Ausbeutung und des Menschenhandels wurde explizit von allen inkriminiert. Selbst die „Staatsanwältin“ Carmen Stanciu, Lektorin an der Sozialassistenz, hob hervor, dass bei diesem „Rollenspiel“ der Bettler selbst sich der verbalen und physischen Aggression aussetzt. Bei der Debatte zeigte sich, dass Betteln in vielen europäischen Ländern strafrechtlich nicht verfolgt wird. In Rumänien sah das Strafrecht bis vor einem Jahr die Gefängnisstrafe für Bettler vor, man ist auf eine humanere Variante gekommen: Arbeiten im Dienste der Gemeinschaft leisten. In anderen Staaten, so in Österreich, versuchte man einen rechtlichen Rahmen zu errichten und die Menschen „positiv zu diskriminieren“, die tatsächlich bedürftig sind: Bettler bekommen einen Ausweis und dürfen an bestimmten Orten zu bestimmten Uhrzeiten betteln.

Professor Prelici stellte auch die Frage in den Raum, ob derjenige, der eine Show darbietet, zu den Bettlern gezählt werden sollte oder nicht: „Ich habe einen äußerst virtuosen Geiger im Bahnhof von Amsterdam angetroffen. Er hatte aber sehr wenig Geld eingesammelt. Sind solche Menschen, die etwas darbieten, an einem Instrument spielen, sich in Gold oder Silber als Statuen ausgeben, oder als Clowns eine Show abziehen Bettler oder doch nicht?“ Ehrlich gesagt, mir sind sie sympathisch und ich würde sie Straßenkünstler nennen. Ich finde es eher schön und nicht lästig, die Kärtner-Straße in Wien hinunterzulaufen und mal einer Statue zu begegnen, mal sich von Jazz oder klassischer Musik berieseln zu lassen oder Bilder und Grafiken während ihres Entstehens zu bewundern. Bei vielen sind diese Straßenkünstler beliebt, so kommt man nicht umhin, an Mr. Bean zu denken, der in seiner Komödie „Mr. Bean macht Ferien“ plötzlich in Begleitung eines Jungen und ohne jedes Geldstück seinen Weg von Paris nach Cannes fortsetzen soll: Er greift auch zu diesem Mittel und wird reichlich belohnt!

Betteln in der Geschichte

Betteln wird als soziales Phänomen von der äußersten Armut bewirkt und war schon in der Antike bekannt. Regeln über den Umgang mit Bettlern hat es schon damals, zum Beispiel im antiken Griechenland, gegeben.
Interessant war zu hören, dass die Legalisierung des Bettelns 1531 ausgerechnet in England durchgeführt wurde, man sprach damals schon von einer Legitimität des Bettelns und dachte an zwei Kategorien von Personen: die Alten und die Menschen, die arbeitsunfähig waren. Alle anderen, die zu betteln versuchten, wurden streng bestraft. Unter Heinrich VIII. wurde ein Gesetz der Armen verabschiedet, das vorsah, dass „Vagabunden und Bettler, die arbeitsfähig waren, bestraft werden“.

Ein Sprung über die Jahrhunderte: 2011 werden in der Richtlinie Nr. 36 des Europäischen Parlaments und des Europarats Mindestvorschriften zur Definition von Straftaten und Strafen im Bereich Menschenhandel festgehalten. Man versucht auf diese Weise die Netzwerke zu bekämpfen und spricht explizit von Ausbeutung und von Zwangsarbeit oder erzwungenen Dienstleistungen (darunter auch Betteltätigkeiten).
Eine einzige, echte Schlussfolgerung gab es nicht bei der Debatte. Dafür aber wurde der Eingriff der „Anwältin der Bettler“, der Universitätsassistentin Loredana Trancă, allseits beklatscht: „Bettler sind keine Kriminellen, sie sozialisieren“. Wahr ist, dass jeder – ob „rechtmäßiger“ Bettler oder Ausgebeuteter – eine Geschichte zu erzählen hat.