Das Fundament der Europäischen Union bröckelt

Vorschläge der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Demokratieförderung

„Das andere Demokratiedefizit“ so lautet der Titel des Grundsatzpapiers, zu dessen Diskussion die Friedrich-Ebert-Stiftung(FES) am Dienstag, dem 18. September 2018, ins Hotel Intercontinental einlud. „Das andere“? Welches gibt es denn noch? Das Europäische Demokratiedefizit! Unter diesem Schlagwort wurden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Diskussionen zu den Mängeln des politischen Systems der Europäischen Union geführt. Mit der Notwendigkeit seitens der EU, nun auch einen Blick auf den Demokratiezustand innerhalb ihrer Mitgliedsstaaten zu werfen, begründet auch die Projektkoordinatorin der FES Rumänien und Moderatorin der Konferenz, Juliane Schulte, den Titel des Projektes „Das andere demokratische Defizit - Werkzeuge für die EU zur Sicherung der Demokratie in Mitgliedsstaaten.“

Das europäische Demokratiedefizit und seine Folgen

Hauptkritikpunkt waren bisher die unzureichende Legitimität der Entscheidungsprozesse, die inadäquate Repräsentation der Gesamtheit der europäischen Bürger auf europäischer Ebene sowie die Form der Gewaltenteilung und -verschränkung der EU-Organe untereinander. Mit dem Vertrag von Lissabon wurden in diesen Bereichen Reformen eingeleitet. Es wurde der Europäische Volksentscheid eingeführt und das Europäische Parlament, als einziges von den Europäern direkt gewähltes Organ, in seinen Kompetenzen gestärkt. Seitdem scheint der Integrationsprozess stillzustehen, wenn nicht sogar rückläufig zu sein. Die Frage nach der Zukunft der EU bewegt sich zwischen zwei Lagern und zwei Ebenen.

Bundesstaat vs. Staatenbund

Das eine Lager bemängelt weiterhin das strukturelle Demokratiedefizit und verlangt eine weitere Integration der Mitgliedsstaaten in das europäische System. Sie sehen die nationalen Parlamente und Regierungen in der Rolle als zweite Kammer im Gesetzgebungsprozess, etwa wie der Bundesrat in Deutschland. Weiterhin wird die unverhältnismäßige Repräsentation der Staatsbürger im Parlament beklagt. Diese Föderalisten sähen die EU gerne nach dem Vorbild eines Bundesstaates. Die andere Seite betrachtet dies skeptisch und argumentiert, dass ein solch übergeordnetes System zur Zentralisierung neigt und der Vielfalt und den regionalen Besonderheiten in Europa nicht gerecht werden kann. Es bestünde das Risiko einer Demokratie, die nach dem Prinzip „Tyrannei der Mehrheit“ die Autonomie der einzelnen Regionen einschränkt und Entscheidungen zu deren Nachteil trifft. Die Vertretung dieser Perspektive verlangt eine Stärkung der nationalstaatlichen Ebene zur Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips. Sie sieht die EU allenfalls als einen Staatenbund. Zu den letzteren gehören auch zahlreiche EU-Kritiker, die die nationalstaatliche Souveränität als gefährdet sehen und supranationale Organe ablehnen. Aus diesem Flügel der EU-Integrationsgegner haben sich auch Bewegungen und Parteien, wie die Alternative für Deutschland (AfD) hervorgetan, hinter deren europakritischer Haltung sich zunehmend eine stark nationalistische bis rechtsradikale Einstellung entpuppt. In Europa leider kein Einzelfall. Die Ferne der Bürger vom EU-Diskurs speist populistische Die-Da-Oben-Argumente und nutzt sie zum Wählerfang – speziell derer, die keine europäische Komponente in ihrer Identität finden und sich um ihre soziale Sicherheit sorgen. Die autoritaristische  Neigung dieser politischen Ecke ist ihrer Radikalität inhärent. Auch Israel Butler von der Civil Liberties Union for Europe und Mitglied des Expertenteams der FES nennt diese Entwicklungen als Anzeichen, dass die Demokratie nicht nur auf EU-Ebene, sondern innerhalb der Nationalstaaten in Gefahr sei.

Demokratie im Mehrebenensystem

Spannungsfelder zwischen innerstaatlichen Präferenzen und einer gesamteuropäischen Integration werden zur Vereinfachung der Analyse in der Politikwissenschaft gern als ein Zwei-Ebenen-Modell dargestellt. Die erste Ebene ist die der Nationalstaaten, die andere das sie umfassende System der Europäischen Union. Die Debatte über Demokratiedefizite wurde immer mit dem Fokus auf der zweiten Ebene geführt, es wurde diskutiert, wie das überstaatliche institutionelle Gefüge gestaltet werden muss, um demokratischen Kriterien zu entsprechen. Dabei wurden die innerstaatlichen Systeme außer Acht gelassen, mussten sie doch ohnehin gemäß der Beitrittsbedingungen nach den Kopenhagener Kriterien als stabile Demokratien gelten. Professor Gabriel Bădescu, Leiter des Zentrums für Demokratiestudien an der Universität Babeș-Bolyai in Klausenburg/Cluj stellt fest, dass die verbreitete Annahme, die Konsolidierung der Demokratien sei ein unumkehrbarer Selbstläufer, widerlegt ist. Wenn das Fundament bröckelt, ist es wenig sinnvoll, am Dachstuhl zu feilen.

In der unteren Ebene mit den Mitgliedsstaaten werden Defekte in der demokratischen Funktionsweise sichtbar. Die FES nennt hier: „zunehmende Verschiebung der Kompetenzen in Richtung Exekutive sowie das Schwächen der Gewaltenteilung insgesamt, Korruption und Beschränkung der Pressefreiheit“. Eine bedrohliche Entwicklung für das Gesamtsystem der EU, das nur unter den Bedingungen adäquater Repräsentation und Informiertheit zufriedenstellende Ergebnisse erzeugen kann. Andernfalls entsteht durch die Verzerrung Unzufriedenheit und Skepsis – Kanonenfutter für die weitere Spaltung durch Populisten.

Demokratie ist aber nicht nur als institutioneller Begriff von Bedeutung, sondern besitzt auch eine positive Eigenwertzuschreibung. Das Eintreten für Demokratie ist aktuell wohl noch die einzige international geteilte Wertvorstellung, entlang derer der europäische Integrationsprozess und die Einflussnahme von außen begründet werden können. Der Versuch, Mittel zu finden, die eine Demokratiesicherung seitens der EU in ihren Mitgliedsstaaten ermöglichen, ohne dabei den Vorwurf des Diktates von oben zu erhalten, wurde von der Expertengruppe der Friedrich-Ebert-Stiftung unternommen und auf der Konferenz am Dienstag vorgestellt und diskutiert.

Werkzeugkiste – Demokratieförderung

Überwachungs- und Früh-Warnsystem: Grundlage für eine effiziente Einflussnahme soll ein Überwachungs- und Früh-Warnsystem sein, das relevante und andauernde Probleme identifiziert. Dies soll im Dialog mit Regierungen, Opposition, öffentlichen Institutionen, Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen geschehen. Ein systematischer Vergleich und Datenerhebungen in allen Mitgliedsstaaten soll dem Vorwurf der Selektivität und Willkür begegnen. Für die Durchführung des Monitoring seien folgende Akteure denkbar: Die Venedig-Kommission, die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte oder eine eigens dafür kreierte Expertengruppe. Wobei bei all diesen Akteuren Befugnisse, Legitimität und Abstimmungsverfahren Fragen aufwerfen. Die Ergebnisse des Prozesses sollen sowohl im EU-Parlament, als auch im Ministerrat diskutiert werden. „Es ist wichtig, alle Institutionen einzubinden“, hebt Israel Butler hervor. Außerdem könne ein solches System schnell installiert werden, wenn man auf bestehende Dokumente zurückgreift.

Monetäre Mittel: Als einfachstes Instrument können finanzielle Anreize gelten, die durch die Verbindung von EU-Förderungen mit Einhaltung demokratischer Richtlinien gegeben werden. Dieses Vorgehen kann dadurch gerechtfertigt werden, dass die von der Gemeinschaft bereitgestellten Mittel nur unter demokratischen Bedingungen effektiv investiert werden und Verlässlichkeit für Investoren bieten. „Die Mittelvergabe der EU muss direkt in Verbindung mit den Ergebnissen des Monitorings stehen“, fordert Butler.
Juristische Möglichkeiten: Bisher wurde argumentiert, dass lediglich EU-Recht vor dem Europäischen Gerichtshof behandelt werden kann. Dieser sei nicht Teil des Instanzenzuges und darf sich in nationalen Angelegenheiten nicht einmischen, dafür sind die Verfassungsgerichte zuständig. So die Kritik, der sich vermutlich auch der rumänische PSD-Politiker Liviu Dragnea anschließen würde, nachdem er Anfragen seitens der EU-Kommission im März als „brutale Einmischung in die Rechtshandlung“ bezeichnete. Herta Däubler-Gmelin, ehemalige Justizministerin der Bundesrepublik Deutschland, stellt klar, dass es hier nicht um die Etablierung einer europäischen Verfassung geht, die das Recht der Nationalstaaten bricht. Es sei durchaus nachvollziehbar, dass vor allem in den post-kommunistischen Oststaaten ein Bedürfnis nach nationaler Souveränität besteht, aber die Fragen nach demokratischen Grundprinzipien sei keine des Souveränitätstransfers. Wenn es hier zu Differenzen zwischen nationaler und europäischer Ebene käme, sei das eine klare Verletzung der grundlegenden Prinzipien, auf denen die Europäische Union fuße und die unter anderem in Artikel 2 des Vertrages der Europäischen Union festgehalten sind. Diese Verträge können damit als legale Grundlage genutzt werden, auch nationale Politiken in Form eines Vertragsverletzungsverfahrens vor den EuGH zu bringen.

Pressefreiheit und Medienpluralismus stärken: Die EU sollte hier „Bestimmungen zur Transparenz“ z. B. bezüglich „der staatlichen Finanzierung von Medien“ einführen. Außerdem müssen „Ausbildungsprojekte zum digitalen investigativen Journalismus finanziert werden“ (FES), um Medienkompetenzen zu stärken. „Dies ist gerade in der Zeit der sozialen Netzwerke von großer Bedeutung“, sagt Däubler-Gmelin.

Zivilgesellschaft fördern: Prof. Gabriel Bădescu sieht für Rumänien die Förderung der Zivilgesellschaft als das Mittel erster Wahl. Hier sollten Nicht-Regierungsorganisationen unterstützt werden. Es fehlt an essentiellen Ressourcen, die man zur Etablierung einer demokratiefähigen Gesellschaft benötigt. Bădescu identifiziert die Probleme in den Bereichen Bildung und Chancengleichheit. „Die Berufsbildung findet zum Großteil im privaten Sektor durch Unternehmen statt, das Gefälle zwischen ländlichen und urbanen Gegenden mit einer Schulabbrecherquote von 30 zu fünf Prozent ist alarmierend. Bei der PISA-Studie schneidet Rumänien schlecht ab. Etwa ein Viertel der Jugendlichen geben an, kein Partizipationsinteresse zu haben“. Das sei eine Frage der Demokratieerziehung, die auch im akademischen Bereich ausbleibt, nämlich durch „eine zu frühe Spezialisierung in technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen und eine Vernachlässigung der Geistes- und Sozialwissenschaften“.

Europäische Parteienfamilie: Das Papier diskutiert auch den Einfluss der europäischen Fraktionen auf nationale Akteure. Däubler-Gmelin kritisiert hier die Struktur der Europäischen Parteien, die ausschließlich ein Verbund sind und demokratische Prozesse über Staatsgrenzen hinweg nicht organisieren könnten.

Die FES stellt fest: Aktuell haben elektorale Ziele oft noch ein hohes Gewicht. Es bedarf transnationaler Listen und der Möglichkeiten der Sanktionierung auf europäischer Ebene. Auch im Fall Rumänien ist es spannend zu beobachten, wie mit der PSD verfahren werden wird, deren Ausschluss aus der S&D vom Europaabgeordneten Cătălin Ivan gefordert wird.

Eins ist klar, Demokratie fällt nicht einfach vom Himmel. Sie ist der Boden des europäischen Projektes und muss über alle Ebenen des Systems gepflegt werden. Vielleicht sind die aktuellen Krisenerscheinungen auch ein Anreiz, um sich wieder aktiv mit der Entwicklung der EU auseinanderzusetzen, sie als Wertegemeinschaft und nicht nur als Wirtschaftsprojekt zu sehen.