Das gibt es auf keiner Landkarte

Leben ohne Strom und Telefon: Der Weiler Dobraia im Domogled-Gebirge

Icoana Rădoi möchte aus Dobraia nie weg.

Sie rechnet sich zur letzten in Dobraia lebenden Generation: Maria Novăcescu.

Der Bürgermeister von Cornereva, Dipl.-Ing. Nicolae Novăcescu

Einer der drei orthodoxen Pfarrer von Cornereva, unser Geländewagenfahrer Nicolae Novăcescu, im Gespräch mit seinem Namensvetter, dem Bürgermeister.

Von einem Dorf ist nun die Rede, in dem die Menschen noch ungefähr genau so leben wie ihre Groß- und Urgroßeltern. Von Strom und Telefon können sie nur träumen. Wollen sie in die nächste größere Stadt, müssen sie einen mehrstündigen Fußmarsch durch unwegsames Gelände in einem Kalksteingebirge in Kauf nehmen. Sie ernähren sich hauptsächlich von dem, was um ihre Behausungen herum wächst; manchmal schlachten sie ein Huhn. Ein Lamm oder ein Schwein.

All das klingt nach einer Reise irgendwohin weit weg. Nach Afrika vielleicht. Oder nach Südamerika. Doch Dobraia, so der Name dieses Weilers, liegt mitten in der EU, im Westen Rumäniens, im „Banater Bergland“. Dort ist zweifelohne die Zeit stehen geblieben. Doch die wenigen Menschen, die noch in Dobraia leben, sehen darin nicht nur Nachteile.
Unser Fahrer, einer der Wenigen, die ein richtig geländegängiges Fahrzeug besitzen und die der Bitte des Bürgermeisters von Cornereva, zu dem Dobraia gehört, stattgaben, uns dorthin zu führen, wo man sonst nur nach mehrstündigem Fußweg hinkommt, ist der 27-jährige orthodoxe Pfarrer der Gemeinde Cornereva.

Die flächengrößte Gemeinde Rumäniens erstreckt sich über mehr als 400 Quadratkilometer – in etwa die Fläche der Landeshauptstadt Bukarest – und umfasst 40 Dörfer und Weiler. Acht unter ihnen sind bis zum heutigen Tag nicht über Straßen erreichbar, haben keinen elektrischen Strom und nur auf umliegenden Hügeln Mobiltelefonempfang. Von fließendem Wasser oder Kanalisierung könnte man träumen – wenn man sie kennen würde. Und doch haben sie Schulen. Lehrer. Als Wochenendpendler. Eine der Lehrerinnen muss jeden Montag gut hundert Stufen einer Leiter aus Buchenholz hochklettern, um an ihren Arbeitsplatz im Weiler Ineleţ zu ihren vier Schulkindern zu gelangen, bevor sie freitags wieder hinunterkraxelt und noch 18 Kilometer den Cernafluss abwärts bis Herkulesbad fährt. Auch im Winter. Wenn hier der Schnee stellenweise mehrere Meter hoch liegt „und gar nichts mehr geht, wie der Pfarrer sagt.

Zwei Stunden für zehn Kilometer

Das zwei Tonnen schwere Fahrzeug vibriert, kommt nur in Schrittgeschwindigkeit voran. Dichtes Gestrüpp links und rechts. Durch die Windschutzscheibe erkennt unser Fahrer nur in Ansätzen etwas, was entfernt wie ein Feldweg aussieht. „Wir fahren nach Dobraia. Da leben ungefähr noch 20 Familien. Ich sage bewußt: ‘ungefähr’. Ich war schon lang nicht mehr dort. Ich weiss nicht genau, wie viele Familien dort noch zu Hause sind.“

Der Pfarrer und Fahrer, Nicolae Novăcescu, ein kräftiger junger Mann, blickt konztentriert auf die Gemengelage aus Bäumen, Geröll, Sträuchern und kleinen Hügeln vor ihm. Dennoch steuert er den  Geländewagen sicher durch diesen nahezu unzugänglichen Teil des Banater Berglands. Da gibt es teilweise keine Straßen, ja häufig nicht einmal intakte Feld- und Waldwege. Zwei Stunden ist der Wagen unterwegs, legt in dieser Zeit gerade mal zehn Kilometer zurück. Dann ist das Ziel erreicht. Hundegebell empfängt uns. Nicht feindlich, eher pflichterfüllend. Die Hausbewohner sollen wissen: da ist jemand.

Vor uns ein kärgliches Steinhaus, davor ein Viehgatter, bestehend aus ein paar zusammengenagelten Brettern. Aus der Ferne bellt ein anderer Hund. Schließlich nähert sich eine alte Frau. Sie läuft gebückt, stützt sich auf einen primitiven Haselnussstock. Schwarze Arbeitskleider, Kopftuch.  Unser Fahrer: „Hallo, guten Tag, wie geht’s?“

Vor 15 Jahren zuletzt in der Stadt

„Wie’s mir geht? Ich bin gerade mit meinen Tieren beschäftigt. Sieht man doch.“ Die alte Frau geht zum  Holzgatter, schaut auf die Hühner, die aufgeregt hin- und herlaufen.  Dobraia – hier, so scheint es, ist die Zeit stehen geblieben. Icoana Rădoi heißt die alte Frau. Jahrgang 1941. In den Furchen auf ihrem Gesicht spiegelt sich ein harter Lebensalltag wider. Trotzdem blickt sie freundlich zu ihren Besuchern. Ihre Stimme klingt fest. Kraftvoll. „Seit ich auf die Welt gekommen bin, lebe ich hier. Seit 1941. Ich habe hier geheiratet. Mit meinem Mann habe ich unser Haus gebaut. Mussten ja irgendwo wohnen. Es steht neben dem Stall, den mein Großvater aus Bruchsteinen gebaut hat. Doch meine Kinder leben schon lange nicht mehr hier. Ich bin krank. Mein Mann ist krank.  Deshalb kommen wir hier so gut wie gar nicht mehr weg. Das letzte Mal, als ich unten, in der Stadt, in Herkulesbad war, nun, das ist gut 15 Jahre her. Sie sehen ja selbst: Ich kann ja so gut wie gar nicht mehr laufen. Und gerade im Winter, da ist es sehr schlimm für uns. Sie glauben gar nicht, wie schlimm...Da kommen wir von da gar nicht mehr raus, nirgendwo hin....“ Sie schluchzt kurz auf.

Bisschen Strom vom Nachbarn

Schnell gewinnt Icoana Rădoi ihre Fassung zurück, bittet ihre Besucher ins Haus. Das besteht aus grob behauenen Steinen. Sie sind mit getrocketem Lehm verbunden. In einem der Zimmer stehen vereinzelt zwei uralte Holzbetten, in einem anderen ein Tisch ohne Stühle. In einem Vorraum hängt an zwei Drähten eine Glühbirne in einer schwarzen Kunststoff-Fassung... Eine Ökobirne.

„Strom bekommen wir nur ab und zu vom Nachbarn. Der hat eine kleine Wasserturbine am Bach. Aber die liefert nur Strom, wenn genügend Wasser den Berg hinabfließt. Und das geschieht nicht oft. Ansonsten bleiben wir im Dunkeln. Wir haben dann nur noch eine Petroleum-Lampe. Was sollen wir denn sonst tun?“

Ein Leben ohne Strom und Telefon, ohne fließendes Wasser - in Dobraia hat sich seit vielen Jahrzehnten kaum etws verändert. Icoana Rădoi tut sich schwer beim Gehen mit dem Holzstock. Sie führt uns hinaus, in ihren kleinen Garten. Dort hängt, an einem Seil, eine verrostete Lkw-Felge. Daneben liegt ein Metallklöppel mit Eisenstiel. „Wenn die Hunde nachts anschlagen, dann ist entweder ein Bär in der Nähe, ein Wolf oder Wildschweine, die unseren Garten verwüsten. Dann nehme ich diesen Metallprügel in die Hand, schlage gegen die Eisenfelge. Und durch den Lärm vertreibe ich die Eindringlinge.“ Wie oft Icoana Rădoi mit diesem Geräusch die wilden Tiere in der rumänischen Wildnis schon vertrieben hat, weiss sie nicht. Das Leben in Dobraia ist hart und eintönig.

Nur nicht im Lehm steckenbleiben

Und dennoch kann sich Icoana Rădoi nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. „Ich habe nie auch nur eine Sekunde daran gedacht, wegzuziehen. In der Stadt, da hat man nicht automatisch Milch oder ein Lamm. Da arbeitest du Tag und Nacht und weißt erst recht nicht, was du essen sollst. Ich weiss wenigstens, was ich mir in den Mund stopfen kann.“ Icoana Rădoi schaut auf ihre Schafe. Die fressen hinter dem Holzgatter das kärgliche Futter, das ihnen die alte Frau hinüberwirft.

Das nächste Haus des Dorfes erscheint ganz weit entfernt. Am Horizont. Weil der Weg lehmig ist, bleibt der Geländewagen stehen. Unser Fahrer, der Pfarrer, hat Angst, dass das Fahrzeug im glitschigen Untergrund stecken bleiben könnte. „Und bis uns hier jemand rausholt, können Tage vergehen. So viele Traktoren gibt es da auch wieder nicht, auch wenn sie die einzigen richtigen Verkehrsmittel hier sind!“

Zu Fuß sind wir so unterwegs auf einem mit reichlich Geröll bedeckten Weg. Rechts ein steil abfallender Hang. Am unteren Ende eine Frau, arbeitet mit einer Harke in einem Feld, das der Grasdecke abgerungen scheint. Durch ihren Hund aufmerksam geworden, kommt sie nach oben. Maria Novăcescu  ist gerade mal Mitte 40. Auch sie wurde in dem abgelegenen Dobraia geboren, wuchs ohne Strom und Telefon auf. Und auch durch ihr Gesicht ziehen sich tiefe Falten.

Möglicherweise die letzten Bewohner

„Na, wenn man hier geboren ist, dann gehört man auch hierher. Ich habe auch mal für kurze Zeit in der Stadt gewohnt. Aber das war keine gute Zeit. Ich habe dort meine Arbeitsstelle verloren. Nichts anderes gefunden. Mußte von der Hand in den Mund leben. Nun lebe ich eben wieder hier.“ Maria Novăcescu stützt sich auf ihre Harke, scheint über die kleine Arbeitspause und die Abwechslung froh zu sein.

Ihre drei Kinder sind längst weggezogen. Sie leben in umliegenden Städten und Gemeinden. Marias größter Wunsch: „Wir bräuchten so dringend eine Straße, die nach Dobraia führt. Und dann natürlich Strom. Dann müßten wir nicht mehr abends vor dieser trüben Petroleumlampe sitzen. Und wir könnten eine Waschmaschine und einen Kühlschrank laufen lassen.“ In diesem Moment wirkt Maria Novăcescu nachdenklich, fast traurig. Sie träumt zwar von Strom, Straße und Waschmaschine. Doch so richtig scheint sie nicht daran zu glauben. Ob ihr Dorf, Dobraia, eine Zukunft hat, scheint ihr ebenfalls nicht sicher: „Die jungen Leute, die ziehen alle fort, ohne Ausnahme. Von unserer Generation sind noch ein paar geblieben. Aber die Generation unserer Kinder, die sind alle weg.“

15 Kilometer EU-Straße geplant

Dennoch gibt es Hoffnung auf Modernisierung. Auch in Dobraia. In einem der abgelegensten Weiler Europas. Von der Ausdehnung her ist die Gemeinde Cornereva fast so groß wie die Millionenstadt Bukarest, zählt aber gerade mal 3200 Einwohner, verteilt auf 40 Ortsteile – Dörfer und Weiler. Acht davon haben keinen Strom und keine Straßenanbindung, genau wie Dobraia. Bürgermeister Nicolae Novăcescu ist ein untersetzter, zupackender, offener Typ. Er ist in Cornereva geboren, hat über Jahrzehnte in Karansebesch als Ingenieur und Beamter des Arbeitsamtes gearbeitet. Vor einem Jahr ist er wieder zurückgekehrt – und wurde prompt zum Bürgermeister gewählt: „Also mein Motiv dafür war, dass ich etwas bewegen wollte in und für diese Gemeinde. Ich war eine Weile lang weg. Und dann bin ich zurückgekommen und habe gesagt: Hier muss sich etwas verändern, hier muss ich was anpacken – gemeinsam mit den Menschen, die hier leben!“

Einen ersten Erfolg kann Nicolae Novăcescu bereits vorweisen: Eine Straße soll gebaut werden, mit EU-Geldern. Sie soll einige der abgelegenen Dörfer der Gemeinde miteinander verbinden. „15 Kilometer lang soll diese Straße werden. Und wenn die mal gebaut ist, müssen die Menschen nicht mehr wie früher stundenlang zu Fuß laufen, wenn sie in die nächste Ortschaft wollen. Diese Straße wird uns sogar Touristen in die Gemeinde bringen, aus ganz Europa. Zurück zur Natur!“

Immer wieder kommen Dorfbewohner in das Büro das Bürgermeisters, fragen nach Grundstücksteuern, Trinkwasserbrunnen und vieles andere mehr. Es geht zu wie in der Sprechstunde eines Arztes. Ab und an blickt Bürgermeister Nicolae Nov²cescu auf eine orthodoxe Christus-Ikone hinter seinem Schreibtisch. Schließlich rückt auch er mit einem Wunsch heraus: „Wir haben hier bei uns in der Gegend nicht einmal eine einsatzfähige Feuerwehr. Gut, wir haben ein paar Freiwillige, die im Notfall kommen, aber ohne Drehleiter und Spritzfahrzeug. Deshalb wäre unser größter Wunsch in dieser  Gemeinde, die von der Fläche her fast so groß ist wie Bukarest, ein Feuerwehrauto, das uns im Falle des Falles sehr helfen könnte.“  Erst wenn das Feuerwehrauto bereitsteht und die Verbindungsstraße gebaut ist – das EU-Projekt dazu ist genehmigt -, wird auch der Weiler Dobraia in der EU angekommen sein. Obwohl er doch schon seit 2007 mittendrin liegt.