Das Recht der Bürger

Oder vom Schweigen der Lämmer

Der rumänische Bürger hat laut Verfassung 32 grundlegende Rechte und Freiheiten. Unter denen befinden sich auch das Recht auf Gesundheitsversorgung, das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit. Hingegen gibt es laut derselben Verfassung nur vier grundlegende Pflichten, welche die Staatsbürger, Ausländer und Staatenlosen wahrnehmen müssen: Treue dem Staat gegenüber, Verteidigung desselben, finanzielle Abgaben an denselben und Ausübung der Rechte und Freiheiten.

Am vergangenen Sonntag übten Abertausende Bürger ihre Versammlungsfreiheit aus. Einige von ihnen auf Plätzen der großen Städte. Die meisten waren der Meinung, es sei besser, sich in den Restaurants, Cafés und Einkaufszentren zu versammeln. Denn ausgerechnet an diesem Sonntag beschlossen viele Geschäfte, den Schlussverkauf zu beginnen. Die Verlockung der bis zu 70 Prozent hohen Preisnachlässe überwog an diesem Tag das Verlangen nach einer neuen, bürgerfreundlicheren Regierung oder nach einem Präsidenten, der das Volk, das ihn gewählt hat, nicht öffentlich auslacht. Diejenigen Bürgerinnen und Bürger, welche die Prioritäten anders gesetzt oder den Einkauf bereits erledigt hatten, traten (wie in Hermannstadt/Sibiu) den frisch gefallenen Schnee auf den wichtigsten Plätzen der rumänischen Städte nieder. Nur wenige solcher Versammlungen kann man aus der Sicht des Gesetzes als legal gelten lassen.

Gewiss haben die Bürger die Versammlungsfreiheit und die Pflicht diese auszuüben (laut Verfassung), doch muss man – laut Gesetz – diese Freiheit zuerst beantragen. Wo käme der moderne Staat denn hin, wenn seine Bürger ihre Rechte und Freiheiten ungeordnet oder gar direkt ausüben würden? Wiederum bestreitet niemand, dass die Staatshoheit in Rumänien, wie in jedem demokratischen Land, dem Volke gehört. Dieses darf seine Macht jedoch nicht direkt ausüben, da es sie bei jeder Wahl seinen Repräsentanten abgibt. Was macht aber das Volk, wenn die gewählten Volksvertreter die Interessen der Wähler nicht mehr so vertreten, wie diese es sich wünschen oder deren Rechte und Freiheiten direkt verletzen? In jedem Unternehmen wären solche Angestellte entlassen worden, denn die Regierung, der Präsident sowie die Abgeordneten und Senatoren sind auch nichts anderes. Im Falle eines Unternehmens namens „Staat“ darf dessen Besitzer, also das Volk, es durch ein Referendum tun. Komischerweise beschließen die Angestellten des Volkes, ob ihr Arbeitgeber befragt werden soll.

Da bleibt dem Volke nichts anderes übrig, als durch friedliche Demonstrationen oder Aufmärsche seine Unzufriedenheit zu äußern. In Rumänien nimmt aber nur ein geringer Teil der Bevölkerung an solchen Kundgebungen teil. Ob aus Angst vor Repressionen oder aus der Erfahrung, dass Straßenproteste in diesem Land nichts bringen, entscheidet sich der einheimische Bürger eher für einen stillen Protest vor dem Fernsehgerät, in der Bar oder im Café unter Gleichgesinnten. Man kann natürlich die nächsten Wahlen abwarten und dann die anderen, die besseren Vertreter wählen. Wer kann aber garantieren, dass die nächsten Wahlen nicht mit einem Wahlschlussverkauf zusammengelegt werden?