„Der Erfolg der Wiedervereinigung war nur durch das gemeinsame Engagement der Menschen, die gesamtdeutsche Solidarität und die Unterstützung des Bundes möglich“

ADZ-Gespräch mit Werner Hans Lauk, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien

Foto: Mihai Constantineanu

Am 3. Oktober 2015 jährt sich die deutsche Wiedervereinigung zum 25. Mal. Unvergesslich bleiben in diesem Kontext die bewegenden Bilder vom Mauerfall am 9. November 1989, der in den ehemaligen Ostblock-Staaten, einschließlich in Rumänien, erstmals die Hoffnung auf eine politische Wende und den Fall des „Eisernen Vorhangs“ aufkeimen ließ. Aus Anlass des nicht nur für die deutsche, sondern für die gesamteuropäische Geschichte prägenden Ereignisses sprach ADZ-Redakteurin Lilo Millitz-Stoica mit seiner Exzellenz Werner Hans Lauk, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien.

Sehr geehrter Herr Botschafter, Ihr Land begeht am 3. Oktober ein Jubiläum – 25 Jahre seit der Vollziehung der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Wie präsentiert sich Gesamtdeutschland heute nach 25 Jahren Einheit?

Sehr geehrte Frau Millitz-Stoica, ich möchte unser Interview zum Anlass nehmen, und Ihnen den Bildband „25 Jahre Freiheit und Einheit“ überreichen. Dieser Bildband veranschaulicht mit vielen Bildern, was sich in den neuen Bundesländern im Osten Deutschlands seit 1990 entwickelt hat. 1990 standen wir vor enormen Herausforderungen. Vom Transformationsprozess waren alle Aspekte des Alltags betroffen: von Wirtschaft, Forschung, Wissenschaft, Umwelt und Energie über Fragen der Verkehrswege, Stadtsanierung und Stadtumbau, Tourismus, Kultur- und Denkmalschutz bis hin zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Daher freue ich mich, dass wir heute sagen können: In allen Lebensbereichen haben die neuen Länder das Niveau der alten erreicht, in der Gesundheitsversorgung ebenso wie bei den Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Die Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur wurde auf den modernsten Stand gebracht.

Natürlich bleibt auch weiterhin viel zu tun: Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner hat sich zwar mehr als verdoppelt, es beträgt allerdings erst rund zwei Drittel des Niveaus der alten Länder. Die Arbeitslosenquote ist im Osten zwar auf einem historischen Tief, aber immer noch höher als in den alten Bundesländern. Deshalb ist die weitere Stärkung der Wirtschaftskraft erforderlich und die Regionalentwicklung wird für Politik und Gesellschaft in unserem Land auch in den nächsten Jahren eine wichtige Aufgabe bleiben. Aber ich glaube, auf das bereits Erreichte  können wir stolz sein und mit Zuversicht in die Zukunft blicken.

Gestatten Sie eine persönlichere Frage: Gibt es ein Bild/ein Ereignis aus den Tagen des Mauerfalls, das Sie persönlich geprägt hat – egal, ob übers Fernsehen oder als Augenzeuge?

Die Bilder der sich unmittelbar nach der Maueröffnung in die Arme fallenden Menschen aus Ost- und Westberlin waren und sind bis heute für mich sehr bewegend. Ich habe als Mitarbeiter an der Botschaft in Prag sehr aktiv die Wochen und Monate vor dem Fall der Mauer erlebt und habe deshalb eine – meine – ganz persönliche emotionale Beziehung zu diesen geschichtlich bedeutsamen Ereignissen und menschlich schicksalhaften Entwicklungen.

Ein Vierteljahrhundert nach der Deutschen Einheit muss – eingedenk der legendären, wenn auch nicht ganz in der vielzitierten Form geäußerten Worte von Bundeskanzler Willy Brandt – immer noch so einiges zusammenwachsen, was zusammen gehört. Denn laut Ergebnissen einer Umfrage des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung ist fast die Hälfte der Deutschen auch heute der Ansicht, dass es mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West gibt. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Zunächst einmal sind Unterschiede in einer Demokratie ja nichts Ungewöhnliches. Unterschiede stellen wir auch zwischen Nord- und Süddeutschen fest, ja selbst innerhalb der einzelnen Bundesländer haben wir zahlreiche regionale oder auch landesmannschaftliche Unterschiede. Aus meiner Sicht ist dies für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung unserer Gesellschaft positiv und bereichernd. Sorgen müssten uns Unterschiede erst dann machen, wenn sie zu Chancenungleichheit oder Diskriminierung führen würden. Dass die vor 1989/1990 Geborenen in ganz unterschiedlichen Werte- und Gesellschaftssystemen sozialisiert wurden, wirkt je nach der persönlichen Vita beim Einzelnen bis heute nach. Aber nach meiner persönlichen Erfahrung sind diese Unterschiede nicht pauschal als bedrohlich für unsere Demokratie anzusehen und sie lassen sich auch nicht eindeutig „Ost“ und „West“ zuordnen, sondern sind Ausdruck eines Föderalstaates, der regionale Unterschiede per se als konstituierend und kulturell bereichernd für sein Gemeinwesen anerkennt.

Der deutsche Einheitsprozess bleibt eine immense Erfolgsstory, der von Rumänien eingeschlagene Weg auch nach 25 Jahren leider weniger. Welches sind, aus Ihrer Sicht, die Hauptgründe des deutschen Erfolges?

Ich glaube, das ganz Besondere am Transformationsprozess der vergangenen 25 Jahre war ein Dreiklang des Engagements in unserem Lande. Der Erfolg der deutschen Wiedervereinigung war nur durch das gemeinsame Engagement der Menschen vor Ort, durch die gesamtdeutsche Solidarität und durch die Unterstützung des Bundes möglich – immer auch im Einklang mit unseren Nachbarn und Freunden in Europa und in Übersee. Wichtig war meiner Einschätzung nach auch der konsequente Weg der politischen und juristischen Aufarbeitung der Zeit des totalitären kommunistischen Regimes in der ehemaligen DDR.


Und welche Gründe erachten Sie als ausschlaggebend für das bisher eher bescheidene Abschneiden Rumäniens auf seinem Weg der europäischen Integration?

Ein wichtiger Unterschied zwischen unseren beiden Ländern scheint mir der zeitliche Verlauf des Transformationsprozesses zu sein. In Deutschland war die Stimmung mit dem Fall der Mauer und der Grenzöffnung zwischen Ost und West am 9. November 1989 überwiegend von Zuversicht und Hoffnung geprägt. Natürlich war auch für uns im Winter 1989/1990 der weitere Verlauf der Umwälzungen nicht voraussehbar, aber mit der Grenzöffnung und der Aussicht auf die Wiedervereinigung haben wir doch sehr positive Erinnerungen an die Revolutionstage 1989. Dies – so erzählen mir rumänische Gesprächspartner immer wieder – war in Rumänien im Winter 1989/1990 und auch in den Folgejahren unterschiedlich. Schon allein die Tatsache, dass die Revolution in Ihrem Lande mehr als 1000 Tote und viele weitere Verletzte forderte, ließ die Grundstimmung vom ersten Tag an natürlich eine ganz andere sein und ließ viel Raum für Spekulation, Unkenntnis, hat bei vielen Menschen möglicherwei-se auch Angst vor dem, was nach dem Umbruch noch kommen mag, bewirkt. Ich glaube, dass diese Unsicherheit der Anfangsjahre sowie die bis heute nur bruchstückhaft aufgearbeitete Vergangenheit und die nicht abgeschlossene strafrechtliche Aufarbeitung eine wichtige Ursache dafür sind, dass die systemische und gesellschaftliche Demokratisierung Rumäniens nur verzögert beginnen konnte.

Ihr Land begeht sein Jubiläum der Wiedervereinigung diesmal vor dem Hintergrund einer beispiellosen Flüchtlingskrise in Europa. Dabei lobt die internationale Presse die beeindruckende Solidarität der Deutschen, die deutschen Medien sorgen sich indes wegen einer regional geprägten Hasswelle gegen Asylbewerber, während deutsche Spitzenpolitiker, etwa Vizekanzler Sigmar Gabriel, klare Worte gegen das rechtsextreme „Pack“ finden. Wieso sind Ossis und Wessis in der Flüchtlingsdebatte keine Wossis, sondern nur allzu oft durch Ausländerfeindlichkeit getrennt? Leipziger Gesellschaftsforscher, die das Phänomen über 12 Jahre untersuchten, sprechen in diesem Punkt immerhin von einem „klaren Ost-West-Schema“ –Ausländerfeindlichkeit sei in den Ost-Bundesländern (Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Brandenburg) viel stärker verbreitet als in den alten Bundesländern, wo insbesondere Bayern schlecht abschnitt ...

Ich glaube nicht, dass wir Ausländerfeindlichkeit in den Kategorien von Ost und West denken können. Es gibt in allen 16 Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland eine beeindruckende Solidarität der Menschen mit den Flüchtlingen. Aber natürlich sind mit einer solchen Entwicklung, wie wir sie gerade sehen, dass jeden Tag Hunderte, manchmal gar Tausende Flüchtlinge neu zu uns kommen, auch immense Herausforderungen verbunden, die bei manchen auch Ängste erzeugen. Und ja, an einigen Orten gibt es auch ausländerfeindliches Gedankengut, das in manchen Orten in Gewalt und Straftaten mündet. Hier haben die Bundeskanzlerin, der Vizekanzler und viele weitere Politiker auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene deutlich gemacht, dass ausländerfeindliche Gewalt von der deutlichen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger und von den im Bundestag vertretenen Parteien nicht akzeptiert wird. Ich glaube, unsere aktive Bürgergesellschaft und unsere Politiker, die frühzeitig ihre Stimme gegen ausländerfeindliches und gewaltverherrlichendes Gedankengut erheben, sind in diesem Kontext von unschätzbarem Wert. Und diese Stimmen hören Sie in den alten wie in den neuen Bundesländern.

Im Übrigen lässt sich die Frage durchaus auf die gesamte EU bzw. auf die völlig unterschiedlichen Positionierungen der ost- und westeuropäischen Staaten in puncto Solidarität mit den Flüchtlingen, einschließlich deren Umverteilung, ausweiten. Sollte mehr oder minder latente Fremdenfeindlichkeit etwa Teil des Erbes der ehemaligen Ostblockstaaten sein? Denn die Hass-Parolen gegen Flüchtlinge, die einem hierzulande im Netz entgegenschlagen, stehen jenen ostdeutscher Rechtsradikaler oft in nichts nach ...

Was ich eben für mein Land, die Bundesrepublik Deutschland, gesagt habe, gilt auch für die Europäische Union als Ganzes: Ich glaube nicht, dass sich ausländerfeindliche Straftaten und Gewaltexzesse in Ost und West denken lassen. Ich habe in den vergangenen Wochen in rumänischen Medien auch viele empathische Online-Kommentare gelesen. Aber Sie sprechen natürlich einen ganz wichtigen Punkt an: Das Medium Internet hat den politischen Diskurs ein großes Stück anonymisiert. Dies führt dazu, dass Menschen sich online mit Hass-Parolen äußern können, die sie im unmittelbaren persönlichen Diskurs niemals so äußern würden. Hier werden wir auch in Zukunft genau hinschauen und den Mut zur konkreten inhaltlichen Auseinandersetzung haben müssen. Dies ist nicht nur eine Aufgabe für die rumänische Netzgemeinschaft. Dieses Thema wird auch in Deutschland sehr aktiv diskutiert. Erst kürzlich, am 14. September, hat sich Bundesjustizminister Heiko Maas mit Vertretern des Konzerns „Facebook“ auf eine Task-Force gegen Hassbotschaften in sozialen Medien verständigt und damit nochmals verdeutlicht, dass die deutsche Bundesregierung Hasstiraden im Netz nicht tatenlos zusieht, sondern sie als das behandelt, was sie sind: strafrechtlich relevante Aussagen, die vom wichtigen Schutz der Meinungsfreiheit nicht gedeckt sind.

Die europäischen Medien fragen sich seit Wochen, ob der Europäischen Union nun die Spaltung droht, während europaweit zahlreiche Politiker, einschließlich rumänische, Schengen oder zumindest Dublin II für tot erklären. Wie stehen Sie dazu?

Wer die Politik und die Bemühungen der deutschen Bundesregierung in den vergangenen Wochen verfolgt hat, der erlebte eine um die Einheit der Europäischen Union sehr bemühte deutsche Regierung. Und der erlebte des Weiteren eine um europäische Solidarität sehr bemühte deutsche Regierung. Wenn ich die aktuelle politische Auseinandersetzung in Deutschland verfolge, so kann ich nicht erkennen, dass die Europäische Union als Raum der Sicherheit und der Freiheit für tot erklärt wurde. Ganz im Gegenteil: Wenn wir nun für einen gemeinsamen europäischen Ansatz bei der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen werben, so ist dies ein klares Bekenntnis zum Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union und kein Aufruf zu Spaltung. Vielmehr geht es um die Einhaltung und Pflege auch und gerade des innereuropäischen Zusammenlebens und -arbeitens auf der Basis der von allen Mitgliedern beschlossenen konsensualen Regeln und Gesetze.

Und nicht zuletzt: Wie sehen Sie die Zukunft der derzeit so unstimmigen EU? Was müsste sich ändern?

Natürlich gibt es in meinem Land die Erwartung, dass sich die Länder Europas, die Länder der Europäischen Union, die Verantwortung für die asylsuchenden Menschen solidarisch teilen, dass wir uns dieser europäischen Herausforderung gemeinsam stellen, dass die Lasten fair verteilt werden. Deutschland war vor und nach den historischen Ereignissen des Jahres 1989 Zufluchtsort für viele Menschen aus Ost- und Südosteuropa, aus Ländern, die heute zum Teil Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind. Solidarität darf und kann gerade in einer Wertegemeinschaft wie der Europäischen Union keine Einbahnstraße sein. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine gesamteuropäische Aufgabe, die alle Gesellschaften Europas angeht und faire, solidarische Lastenteilung und Verteilung erfordert. Wie diese Lastenteilung konkret aussehen wird, darüber wird in Brüssel und in den 28 Hauptstädten der EU-Mitgliedsstaaten in den kommenden Wochen weiter diskutiert und gerungen werden. Meine Hoffnung richtet sich auf einen wieder wachsenden Konsens, aus dem die Europäische Union letztlich auch als Werte- und Rechtsgemeinschaft gestärkt hervorgeht.

Herr Botschafter, besten Dank für Ihre Ausführungen.