Der Katalonien-Schock

Es gibt eine Region in Südeuropa, die nur sechs Prozent des betreffenden Landes (ein Fünfzehntel) einnimmt, nur 16 Prozent von dessen Bevölkerung (rund ein Sechstel) beherbergt, aber gut 20 Prozent (ein Fünftel) seines Bruttoinlandsprodukts erstellt. Wenn am 1. Oktober in dieser Region tatsächlich – wie geplant, aber von Madrid, per Verfassungsgericht, verboten – mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen gehen, dann dürften, so prognostizierte der englische „The Guardian“, 72 Prozent der Wähler für die Unabhängigkeit dieser Region stimmen. Für einen neuen Staat auf der Karte Europas und bald darauf vielleicht ein neues EU-Mitglied: Katalonien/Catalunya.

Denn die finanziell-wirtschaftlichen Voraussetzungen dazu hat die Region, bzw. der künftige Staat jederzeit: ein Bruttoinlandsprodukt, höher als Griechenland, auf dem Niveau Finnlands. Zudem erzeugt die Region ein Viertel aller Exporte Spaniens und stellte 2016 rund die Hälfte aller Start-up-Unternehmungen, die in Gesamtspanien gegründet wurden. Dynamik und Kreativität charakterisieren die Hauptstadt der Region, Barcelona, wahrscheinlich die künftige Landeshauptstadt. Wen wundert´s, bedenkt man, dass aus dieser Region ein Antoni Gaudí oder ein Salvador Dalí kommen, geniale Erneuerer der Kunst des 20. Jahrhunderts? Die Unabhängigkeit Kataloniens will Madrid mit allen Mitteln verhindern. Lippenbekenntnis? Auch mit Gewalt? Darüber hält man sich in der Regierung und ihren höchsten Institutionen bedeckt – aber: ohne Gewalt ausdrücklich auszuschließen. In einem Land, das noch lebendige, offiziell aber unterdrückte Erinnerungen an den Bürgerkrieg hat und ans faschistische Franco-Regime, das Barcelona als letzte große Festung der Republikaner eroberte. Eine vertrackte Situation, zumal auch die EU da keine klare Position vertritt – genau wie vor dem Brexit-Referendum des Vereinigten Königreichs.

Da haben wir ein Unabhängigkeitsprojekt inmitten einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten. Mit starker nationaler Note. In einer Welt, wo die Nationalismen wieder auferstehen. Barcelona bekäme die Chance, seine Rolle als „London des Mittelmeers“, als Finanz- und Wirtschaftsmetropole, auszubauen – errungen wurde die Position durch die EU-Mitgliedschaft Spaniens und die ölende Globalisierung. Aber wenn dann die Finanzflüsse Richtung Umverteilungsstelle Madrid gestoppt werden? In Katalonien bleiben? Ähnliche Fragen stellen sich viele Überschuss produzierende Regionen.
Mit der den Katalanen versprochenen EU-Mitgliedschaft dürfte es problematisch werden. Der müssen alle Mitgliedstaaten einzeln zustimmen. Ein paar Wackelkandidaten sind Belgien (Flandern und Wallonien), Frankreich (Baskenland), Rumänien (Szeklerland und ungarischer Revisionismus), Italien (nicht wegen Südtirol, wegen Sardinien). Und Spanien.

Wie die Spanier stimmen werden, wenn es um die EU-Mitgliedschaft des abtrünnigen Katalonien geht, ist klar. Andrerseits kann es sich EU-Europa nicht leisten, nach dem Brexit auch noch eine Region von der Stärke Kataloniens zu verlieren. Nur: auf welche Weise kann ein Staat Katalonien EU-Mitglied werden? Sollte also am Sonntag, trotz Verbots aus Madrid, im Großraum Barcelona und in Katalonien eine Volksabstimmung stattfinden – was zum Zeitpunkt, als dieser Beitrag niedergeschrieben wurde, wegen der vielfältigen Drohungen aus Spaniens Hauptstadt noch ungewiss war (Madrid drohte u. a. mit Strafuntersuchungen gegen über 400 Bürgermeister Kataloniens – was natürlich Märtyrer schaffen würde...) –, dürfte deren Ausgang klar, ihre Folgen aber unklar sein. Denn Madrid setzt bisher, diplomatisch nicht sehr geschickt, ausschließlich auf Drohungen. Mit stillschweigender Unterstützung Brüssels. Die EU hält sich aus der Katalonienfrage heraus, wie vor einem Jahr aus der Brexit-Debatte Großbritanniens. Das Resultat war ein Schock.
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