Der Menhir von Peceneaga

Ein aufsehenerregender Fund aus der Bronzezeit in der Dobrudscha

Die Entdecker des Menhirs: das Archäologenehepaar Mihaela Iacob und Dorel Paraschiv vom Archäologiemuseum (ICEM) in Tulcea. Foto: Nina May

An Ort und Stelle vermisst der Archäologe den kostbaren Fund.

Der Menhir von Baia ist der erste, der in der Dobrudscha entdeckt wurde.

Unter diesem unscheinbaren Hügel ruht eine hohe Persönlichkeit aus der Bronzezeit.
Fotos: Mihaela Iacob

Die Vergangenheit spricht zu uns. Ihre Worte sind Tonscherben, ihre kurzen Rufe Steine, Gräber, Knochenfragmente. Doch je weiter wir versuchen, dem Zeitpfeil entlang zurückzuhorchen, desto bruchteilhafter wird die Kommunikation. Tief unter den Erdschichten verhallt das Echo der zahllosen vergangenen Kulturen, die einst mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie wir unsere heutige Heimat bevölkerten. Nur manchmal dringt ein zaghaftes Flüstern aus den fernen Zeiten an die Oberfläche. Den geschulten „Ohren“ der Archäologen sagt es: „Horch hin, hier! Genau hier ist noch mehr.“
In der Dobrudscha, einer Ebene voller weithin sichtbarer Hügelgräber, die von der Steinzeit bis in die Epoche der Römer datieren, verdichtet sich das Flüstern hörbar zum Gemurmel. Es mögen gut um die tausend sein, etwa 500 allein in Tulcea, die sich auch für den Laien gut erkennbar aus der flachen Landschaft abheben. Weniger als ein Prozent davon sind bisher erforscht. Zum einen liegt dies daran, dass man dem Grashügel von außen nicht ansieht, aus welcher Epoche er stammt. Zum anderen findet man in den meisten Hügeln aus der Stein-, Eisen- und Bronzezeit allenfalls ein paar Knochen; sehr selten ein Tongefäß, noch seltener andere Grabbeigaben. Je jünger die Hügelgräber, desto größer die Hoffnung auf eine Statue, einen Sarkophag. Zum anderen aber mangelt es an Experten und Geldern, um die Hügelgräber systematisch zu untersuchen. Die meisten sensationellen Funde verdanken wir daher dem Zufall: dem Bau eines Windparks oder einer Eisenbahnlinie, denen eilige archäologische Grabungen vorangehen, um zu retten, was sonst für immer verloren wäre.

Uralte Hoffnung auf Unsterblichkeit

Ein Zufall brachte auch den Menhir von Peceneaga ans Tageslicht. Der Grabhügel, den er einst kennzeichnen sollte, stellt als eine der wenigen Erhebungen genau zwischen zwei Gemeindegrenzen einen wichtigen optischen Anhaltspunkt zu geodätischen Vermessung des Geländes dar. Mihaela Iacob und Dorel Paraschiv, ein Archäologenehepaar aus dem Museum für Archäologie in Tulcea (ICEM), streiften am 4. April mit dem GPS-Gerät durch die Felder, um für die Gemeinde Peceneaga die Grenzpunkte auszumessen. „Komm, lass uns den Grabhügel auch konturieren“, rief Paraschiv seiner Frau zu, und sie machten sich auf, den Hügel zu umrunden. Ein paar Steine am Fuße erregten ihre Aufmerksamkeit. Nichts Besonderes zwar, denn ganz eindeutig waren sie von Bauern dort hingeschleppt worden, um beim Pflügen nicht zu stören. Als sie sich näherten, sprang ihnen sofort ein länglicher, grob behauener Felsblock in die Augen. Zufällig lag er ein wenig abseits ausgestreckt im Gras. Sein oberes Ende war rund, wurde dann schmäler und verbreiterte sich gleich wieder, um in nahezu rechteckiger Form auszulaufen. Mihaela Iacob stockte der Atem. „Wenn das mal kein Menhir ist!“ rief sie aufgeregt ihrem Mann zu.

Im Garten des Archäologischen Museums beugen wir uns zu dritt über den vorsichtig auf Kartons gebetteten 1,75 Meter langen Stein. Kopf und Hals sind gut konturiert, die nur angedeutete Körperform dennoch deutlich behauen. Mihaela Iacob wischt vorsichtig Erde aus den Einkerbungen: „Hier, das sind die Arme. Und hier sind die Beine angedeutet.“ „Das hier ist die Waffe”, ergänzt Dorel Paraschiv. Sein Blick prüft die grobe Oberfläche, von Erde und Flechten bedeckt: „Irgendwo ist auch das Geschlechtsteil angedeutet.” „Schauen Sie mal, auf der Rückseite sind sowas wie Haare“, ruft die Archäologin plötzlich und hält eine kleine Kamera unter den Steinkopf: Knips. – Tatsächlich! Man muss allerdings ein geschultes Auge besitzen, um in den groben Ritzungen etwas Konkretes zu erkennen.
Und doch erfasst mich ein plötzlicher Schauer. Vor mir liegt trotz aller Einfachheit der Bearbeitung die deutlich erkennbare Silhouette eines Menschen. Das jahrtausendealte Ebenbild eines Mannes, der einst – genau wie wir heute – an ein Leben nach dem Tod geglaubt haben muss. An Erlösung und Auferstehung. An die Unsterblichkeit der Seele. Für uns ist gerade Ostern – er, etwa 3600 Jahre vor Christus, hätte ein anderes Wort dafür gehabt, eine andere Legende als Hintergrund, einen anderen Erlöser oder Gott. Doch die Hoffnung ist dieselbe. Mit dem „Gesicht“ gen Himmel liegt der Menhir vor uns in der Sonne . Genau wie auf dem Feld, wo die Archäologen ihn vor knapp zwei Wochen fanden. Und es ist die gleiche Sonne wie vor fast sechs Jahrtausenden...

Geheimnisvoller Bote der Ockerkultur

„Aufgeregt liefen wir nach Hause“, berichten die Entdecker weiter, „um die Kamera zu holen“. Sofort war ihnen klar, welchen Sensationsfund sie gelandet hatten. Es ist der zweite Menhir, der jemals in der Dobrudscha gefunden wurde! „Und obwohl er schon ewig hier liegen musste, hatten wir plötzlich Angst, er könne verschwinden“, schmunzelt Mihaela Iacob.
Inzwischen weiß man, dass der Menhir von Peceneaga aus der frühen Bronzezeit datiert. Der dazugehörige Grabhügel gehört zur sogenannten Jamnaja-Kultur um 3600-2300 v. Chr., die von den Flüssen Bug, Dnister und Ural von der Ukraine über die pontische Steppe bis nach Rumänien und Bulgarien und teilweise Ungarn reichte. Diese Kultur beerdigte ihre Toten in Tumuli, auf dem Rücken liegend, die Arme seitlich angelegt, die Knie nach oben abgewinkelt, der Kopf nach Osten, die Beine nach Westen ausgerichtet. Typisch ist, dass die Körper mit einem roten Ockergemisch bedeckt wurden. „Es handelt sich um eine prä-indoeuropäische Kultur“, erklärt Dorel Paraschiv, im Wesentlichen nomadisch, mit vereinzelter Landwirtschaft nur in der Gegend von Flüssen. Knochenfunde in Hügelgräbern deuteten darauf hin, dass sie Rinder, Schafe, Ziegen, Schweine und Pferde hielten, deren Fleisch auch als Wegzehrung für das Jenseits mitgegeben wurde. Ihre kurzfristigen Siedlungen mit Grubenhäusern hinterließen kaum Spuren, sodass alle Hinweise auf diese Kultur fast ausschließlich aus Hügelgräbern stammen. Doch nur selten entdeckt man  aufwendigere Beigaben – oder gar kleine Sensationen, wie in einem Grab in Dnepropetrovsk (Ukraine) mit Resten von über 100 Wagen! Im Erdmantel der Grabhügel finden sich allerdings oft Nachbestattungen aus späteren Epochen. So stellt sich ein Hügelgrab für die Archäologen als aufwendige Puzzlearbeit dar.

Menhire sind Seltenheiten in Osteuropa

Der Menhir von Peceneaga verrät uns, dass in dem Hügelgrab eine Persönlichkeit hohen Rangs begraben sein muss. Über dem Grab wurde eine Plattform aus Felsblöcken errichtet, damit er nicht bei Regen in der Erde versinkt oder umfällt. Dies sind die Steine, die das Entdeckerpaar am Fuße des Hügels zusammengetragen vorfand. Welch glücklicher Zufall, dass der Menhir daneben – und nicht darunter lag. Wie wohl einst die schweren Kalksteinblöcke angekarrt worden sein mögen? Kilometerweit gibt es hier weit und breit keinen Felsen.
Im Gegensatz zu Westeuropa, wo Menhire fester Bestandteil der Megalithkultur waren und – meist in unbehauener Rohform senkrecht aufgestellt – Gräber oder Kultstätten bezeichneten, sind sie in Ost- europa selten anzutreffen. In der Dobrudscha wurde 1924 ein einziger Menhir entdeckt, in einem angeschnittenen Hügelgrab beim Bau der Eisenbahnstrecke Medgidia – Babadag, nahe der Ortschaft Baia. Der Menhir von Baia, den man heute im Museum der Festung von Histria bestaunen kann, wird der Bronzezeit zugeordnet und ist aufwendiger bearbeitet als der von Peceneaga. In Siebenbürgen wurden bisher zehn Menhire gefunden, zwischen Baia de Criş und Ţebea, bei Ciceu-Mihăileşti, Floreşti, Gherla und Deutschpien/Pianu de Jos. Von all diesen ähnelt der aus Ciceu-Mihăileşti in Bistritz-Nassod dem Menhir von Peceneaga am meisten. Ansonsten gab es vereinzelte Funde im Norden und Westen des Schwarzen Meers, auf der Krim, in der Republik Moldau (Zone Bugeac) und in Bulgarien.

Vier Stück wurden in Ungarn entdeckt. Sie alle stehen in Verbindung mit den Hügelgräbern der Jamnaja-Kultur. Über die Bronzezeit in der Dobrudscha ist fast nichts bekannt, weil es aus dieser Zeit kaum Funde gibt. Keine einzige Siedlung wurde entdeckt, und obwohl ein großer Teil der Tumuli aus der Bronzezeit stammt, wurden nur wenige untersucht. „Von den etwa 100.000 Exponaten in unserem Museum zeigt nur eine Vitrine Artefakte aus der Bronzezeit“, bedauert die Archäologin. Auch der Grabhügel des Menhirs von Peceneaga wird wohl aus Mangel an Finanzmitteln unerforscht bleiben. Dabei könnte sich eine Untersuchung diesmal lohnen, gibt Dorel Paraschiv zu bedenken. Dies nicht nur, weil Menhire nur Gräber bedeutender Persönlichkeiten kennzeichnen, sondern auch, weil dieses Hügelgrab Teil eines außergewöhnlichen Ensembles ist: Insgesamt sechs Tumuli, alle aus derselben Zeit, sind hier in einer schnurgeraden Linie von Osten nach Westen angeordnet!
Viele Kulturen hatten die Eigenart, ihre Toten in Richtung Sonnenaufgang zu bestatten. Wir kennen dies nicht nur aus dem Alten Ägypten, wo man glaubte, mit der aufgehenden Sonne stiegen die Seelen der Verstorbenen verjüngt aus ihren Gräbern. Selbst Kirchen sind von Westen nach Osten orientiert, der Altar dem Sonnenaufgang zugewandt.
Weil die Entdecker, Mihaela Iacob und Dorel Paraschiv, keine Experten für die Bronzezeit sind – sie ist auf römische Münzen spezialisiert, er auf römische Keramik – , haben sie bereits ein Kooperationsangebot von entsprechenden Fachleuten aus dem Museum von Ploie{ti erhalten. Gemeinsam werden sie den Menhir untersuchen und ihre Erkenntnisse publizieren. Dann soll der kostbare Zeitzeuge das Archäologiemuseum am Fuße des Wahrzeichens von Tulcea bereichern. Auferstanden aus der Erde nach langem Schlaf ist er ans Licht gekommen, um seine dunkle Vergangenheit ein klein wenig mehr zu erhellen. Auserkoren, uns ein paar scheue Worte zuzuflüstern, über 5600 vergangene Jahre hinweg.