Der Nobelpreis, Tarzan und ich

1977 bin ich aus dem kommunistischen Rumänien geflohen, ich war damals ein blutjunger Französisch- Rumänischlehrer, und um hier arbeiten zu können, studierte ich anschließend Englisch in Schottland. Drei Jahre später, als ich meine Stelle als Lehrer an einer Höheren Handelsschule in Köln antrat, sagte der Schulleiter beim Vorstellungsgespräch misstrauisch: „Soso. Sie kommen also aus Rumänien und wollen nun hier bei uns unterrichten. Meinen Sie, dass Sie das können?“ „Ja, ich habe schon in Temeswar unterrichtet“, sagte ich.  „Jaja“, erwiderte mein künftiger Chef nachdenklich. Dann räusperte er sich und fragte mich geradeheraus: „Und wie haben Sie das gemacht? Mit Büchern?“ Ach so war das also! Er stellte sich offensichtlich vor, dass man im wilden Rumänien auf Höhlenwänden statt auf einer Tafel schrieb, dass der Lehrer womöglich seinen Stoff durch gutturale Affenlaute statt durch Worte vermittelte, und die Schüler nach der Schule folgerichtig von Liane zu Liane wild durch die Lüfte nach Hause sprangen, wie Mowgli im Dschungelbuch.

Als Stefan Hell am 9. Oktober den Nobelpreis für Chemie erhielt, vollführte auch ich einen wilden Luftsprung, und noch nicht einmal dem heftigen, daraufhin einsetzenden Kniegelenkschmerz gelang es, meiner Freude Abbruch zu tun. Ich setzte mich enthusiastisch an den PC und postete Stefan Hells Foto bei Facebook, mit dem Kommentar: „Glückwunsch! Der Junge kommt übrigens wie ich aus dem Banat und war Schüler des Lenau-Gymnasiums in Temeswar.“  Nun hatte diese Schule also schon zwei Nobelpreisträger hervorgebracht, zuerst Herta Müller und nun Hell. Ich habe zwar nicht das Lenau-Gymnasium besucht, dafür aber ein hundert Kilometer davon entferntes Gymnasium in Reschitza, und von hier aus gesehen sind diese zwei Schulen nur einen Katzensprung voneinander entfernt. Auf meinen Facebook-Eintrag hin bekam ich innerhalb von nur drei Minuen um die 150 Likes, eins davon von meinem Freund Steinar. Steinar ist Norweger, lebt in Oslo, hat in den 80ern Rumänisch in Bukarest studiert, und weiß mehr über Rumänien als alle Enzyklopädien zusammen, und sogar noch mehr als ich. „Mein lieber Schwan! Die Banater haben ja schon wieder dick abgeräumt“, kommentierte Steinar Hells Foto. „Erst Tarzan, dann Herta Müller und jetzt Hell.“

„Du hast es erfasst, Steinar“, schrieb ich zurück. „Und jetzt werde ich dir etwas verraten: Zu Tarzan habe ich sogar einen fast persönlichen Bezug. Denn Tarzan wurde ja von Johnny Weissmüller gespielt, und meine Großmutter kannte Johnny Weissmüllers Großmutter, so wie ich dich kenne. Sie wohnten beide im selben Viertel in Temeswar. Und in meiner Kindheit hat mir meine Großmutter von Johnny Weismüllers Großmutter erzählt, wie sie sie immer wieder in ihrer Jugend Anfang der 20er Jahre auf dem Markt in der Elisabethstadt getroffen hatte, beim Einkaufen, und wie sich diese alte Frau nach ihrem nach Amerika ausgewanderten Enkelsohn Johnny – sie nannte ihn János – die Augen ausweinte. Ach ja, Tarzan!“ sagte ich und daraufhin wurde ich ganz melancholisch und plötzlich fiel mir mein Ex-Schulleiter aus Köln ein. Der hatte mich wohl für einen Urwaldmenschen gehalten und meine Zuweisung auf seine Schule nicht geliked, aber was soll’s. Damals gab es ja auch noch kein Facebook.