Der Rechtsstaat Rumänien und seine wehrhaften Bürger

Rumänische Gesellschaft besteht Probe zivilen Ungehorsams / Bei der PSD brechen alte Gewissheiten weg

Proteste richten sich verstärkt gegen Regierung und Dragnea.
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Viele Eltern haben am Wochenende auch ihre Kinder zur Demonstration mitgebracht.
Foto: Eugenia Kovacs

Rumäniens Bürger schreiben zweifelsohne Geschichte: Seit mehr als einer Woche ist das Land in Aufruhr, die Bilder der Hunderttausenden, die auf die Straße gegangen sind, kreisten bereits um die Welt. Mit Erfolg hat das Volk den zivilen Ungehorsam gegen eine Regierung geprobt, die ihre Legitimität auf erstaunliche Art und Weise binnen weniger Wochen nach Amtseinführung verspielt hat. Nach tagelangen Demos in zahlreichen Städten des Landes, selbst in verschlafenen Kaffs, wie zum Beispiel Odobeşti im Kreis Vrancea, wo ein einziger Bürger protestierte, musste Premierminister Sorin Grindeanu mit zitternder Stimme am Samstagabend erklären, dass die Regierung die Eilverordnung Nr. 13/2017 zurücknehmen werde.

Dies geschah dann auch am Sonntag, im Amtsblatt Rumäniens wurde bereits die Eilverordnung Nr. 14/2017 veröffentlicht, die die Eilverordnung Nr. 13/2017 außer Kraft setzt. Und gleichzeitig hat das Kabinett die Protokolle der Regierungssitzung vom 31. Januar in voller Länge sowie vom 18. Mai 2016 teilweise veröffentlicht. Am letzten Datum hatte die Technokraten-Regierung unter Premier Dacian Cioloş über die Änderung des Strafrechts beraten und einige Änderungen an der Strafprozessordnung vorgenommen, auf den ersten Blick eher uninteressant. Interessant ist aber, wie schnell das Grindeanu-Kabinett am Abend des 31. Januar den Haushaltsentwurf angenommen, im Nachhinein über Freikarten für Studenten im CFR-Fernverkehr beraten und zum Schluss die Eilverordnung Nr. 13/2017 verabschiedet hat. Keine Diskussion, keine Auseinandersetzung, Schwuppdiwupp, alle dafür, keine Enthaltung, keine Gegenstimme, alles unter Dach und Fach, beim Amtsblatt liefen bereits die Druckmaschinen.

Am selben Sonntag aber, als dieser Artikel entstand, waren die Protestaktionen weiterhin im vollen Gange und die Reaktion der Sozial-Demokratischen Partei ungewiss. Eine Gegendemonstration vor dem Schloss Cotroceni verkam zu einer peinlichen Lachnummer. Weil aber in Rumänien sich alles schlagartig ändern kann, bleibt dem Journalisten, der für eine gedruckte Zeitung schreibt, nur die Möglichkeit, die Vergangenheit zu analysieren, die Gegenwart zu dokumentieren und vorsichtig in die Zukunft zu blicken; gegenüber Facebook, Twitter und natürlich den Fernsehsendern ist er im Nachteil.
Am 31. Januar hat das Kabinett also beschlossen, den Straftatbestand des Amtsmissbrauchs zu ändern, eine Mindestgrenze des durch Amtsmissbrauch entstandenen Schadens von 200.000 Lei einzuführen und den Straftatbestand der Fahrlässigkeit zu entkriminalisieren. Und dann wurde auch ein Gesetzesentwurf an das Parlament geschickt, der die Begnadigung einiger Gefängnisstrafen vorsieht. Begründungen gab es vielerlei: So habe es das Verfassungsgericht veranlasst, so wolle es das Europäische Gericht für Menschenrechte in Straßburg, dem Land drohe ansonsten eine saftige Geldstrafe, die Gefängnisse seien überfüllt, Fahrlässigkeit und Amtsmissbrauch seien keine Straftatbestände, andere Rechtssysteme in Europa würden sie gar nicht kennen. Ganz wichtig auch: Die Protestierenden sind allesamt bezahlt worden, von George Soros, über jene NGOs, die er hierzulande mitfinanziert. Ceauşescu hatte es 1989 ähnlich formuliert, auch der verstorbene Corneliu Vadim Tudor hatte zu jeder Stunde ähnliche Parolen bereit: Soros, die Juden, die Freimaurer, die Weltverschwörung. Ein hässliches Déjŕ-Vu.

Auch im Gegenlager wurde so Manches falsch dargestellt, Korruption sollte „straffrei“ werden, hieß es selbst in den angeblich informierten deutschen Medien. Von der Entkriminalisierung der Bestechung und anderen mit Korruption in Zusammenhang stehenden Straftaten war allerdings nie die Rede, auch der Amtsmissbrauch sollte nicht gänzlich aus dem Strafgesetzbuch getilgt werden. Jedoch birgt die Einführung eines Mindestschadenssatzes von 200.000 Lei natürlich eine Menge Gefahren, zahlreiche bereits strafverfolgte oder verurteilte Straftäter – Politiker natürlich eingeschlossen – wären dadurch gerettet gewesen. Tatsächlich: Folgt man der inneren Logik des Strafrechts, könnte die Regierung mit ihren Änderungen unter Umständen sogar Recht haben, einiges in ihren Stellungnahmen stimmt sogar, einiges wiederum nicht, plump sind die Manipulationsversuche allemal. Zählt das alles? Zählt die juristische Auseinandersetzung überhaupt noch?
Nein, das Sachliche zählt kaum mehr. Denn die Vorgangsweise der Regierung und der Regierungspartei haben die Sinnhaftigkeit der Gesetzesänderung, über die sich natürlich streiten lässt, gänzlich annulliert. Verfahrensregeln sind zweckentfremdet worden, Verfassungsnormen sind ihres Inhaltes beraubt worden, über den Geist geltender Gesetze hat sich die Regierung einfach hinweggesetzt. Einzelne Interessen sind vor das öffentliche Interesse gestellt, rechtsstaatliche Verhaltensmuster sind aufgegeben worden. Einfach so. Die törichte Arroganz des Justizministers Florin Iordache schien fast beispiellos. Genauso wie die Unverfrorenheit des PSD-Chefs Liviu Dragnea und seiner strammen Gefolgsleute, die Schuld, die Premierminister Grindeanu auf sich geladen hat, und die wohl nicht mehr gutzumachen ist, auch wenn er weiterhin am Regierungsprogramm der PSD festhält und dieses in voller Treue seinen Wählern gegenüber umsetzen will. Der Image- und Autoritätsverlust des Regierungschefs und seiner Mannschaft kann kaum mehr wettgemacht werden.

Auf der einen Seite eine Regierung, die offensichtlich an Realitätsverlust leidet, auf der anderen Seite Hunderttausende, die auf die Straße gehen. Sicher, es gibt Millionen, die zu Hause bleiben, aber die Stimme der Hunderttausenden kann keine Regierung überhören. Auch wenn führende PSD-Politiker immer wieder gedroht haben, sie würden ihre Leute auch auf die Straße holen, so als wären ihre Unterstützer (die es sicherlich gibt) bloß eine gestalt- und hirnlose Masse, die einfach hin- und her geschoben werden kann, wenn es der PSD nur so passt.
Kann eine demokratisch gewählte Regierung die politische und wirtschaftliche Stabilität des Landes und dessen internationale Beziehungen opfern, damit ein Parteichef, der sich wie ein Mafiaboss aufführt, einer Gefängnisstraße entkommt? Kann es sein, dass es in der Sozialdemokratischen Partei keine Vernünftigen gibt, aus der ersten oder der zweiten Führungsriege, die sich zu einem Coup gegen Dragnea & Co. aufraffen können und dem tristen Spektakel ein Ende setzen? Ist für die Sozialdemokraten nicht allzu viel im Spiel, dass sie ihr Schicksal an das Schicksal von Liviu Dragnea knüpfen? Jedenfalls brechen nun bei den Sozialdemokraten alte Gewissheiten weg, das Land, das alte RKP- und Securitate-Kader regiert haben, gibt es nicht mehr.

Dass es im Dezember 1989 keiner im ZK der RKP gewagt hat, Nicolae Ceauşescu den Rücktritt nahezulegen, das stimmt. Aber Dragnea ist nicht Ceau{escu, die PSD ist nicht die RKP, trotz der naheliegenden Vergleiche. Allein deshalb, weil Rumänien 2017 mit dem Rumänien von damals innen- und außenpolitisch keine Gemeinsamkeiten mehr hat. Früher oder später wird der Mann seinen Hut nehmen müssen, in den Abgrund zieht er den politisch toten Sorin Grindeanu sicherlich mit; der Gesichtsverlust der Regierung ist total. Es werden die Politikwissenschaftler sein, die genauestens analysieren werden, wie eine frei gewählte Regierung, die in der Tat alle Hebel in der Hand hatte, sich selbst in so kurzer Zeit ins Aus manövrieren kann, wie sie im Nu ihren Realitätssinn verliert und die größten Demos hervorruft, die dieses Land seit 1989 gesehen hat. Nichts ist von dem Paradigmenwechsel übrig geblieben, den die PSD im Dezember, durch kluge Wahlkampfexperten beraten, versprochen hat. Der ganze Kredit, den Dragnea und sein Trupp hatten, ist verspielt worden, vielleicht müsste das gesamte Kabinett seinen Hut nehmen, Dragnea sollte ebenfalls zurücktreten. Denn als PSD-Vorsitzender hat er die Sozialdemokratie kompromittiert, schlimmer noch als beispielsweise Victor Ponta. Nicht einmal dem ist es gelungen, einen derart großen Mist zu bauen, wie jenem, der 2015 maßgeblich zum Sturz Pontas beigetragen hat und nun das Land wie ein Bojar aus Phanariotenzeiten seine Landgüter, seine Leibeigenen und seine Zigeunersklaven verwalten will.

Abzuwarten bleibt natürlich, ob das protestierende Volk lernt, dass es der Politik in Zukunft nicht mehr fern bleiben kann. Dass es vor allem wählen gehen muss, damit es nicht zwei Monate nach der Parlamentswahl auf die Straße zu gehen hat, um einen skrupellosen Straftäter davon abzubringen, dem Land einen unvorstellbaren Schaden zuzufügen. Eine Initiative in Temeswar/Timişoara, die am Wochenende vor etwa 40.000 Menschen verlesen worden ist und wonach, unter anderem, kein verurteilter Straftäter ein öffentliches Amt bekleiden darf, deutet darauf hin, dass die Protestierenden es nicht dabei belassen wollen. Ob mehr daraus wird, bleibt abzuwarten.
Abzuwarten bleibt auch, wie Präsident Klaus Johannis die bewegte Innenpolitik in gelenkte Bahnen bringen kann. Der Mann sprach klare, willkommene Worte, aber sein Besuch beim Obersten Rat der Magistratur und beim Ombudsmann Victor Ciorbea zeugten fast von der Hilflosigkeit der Präsidialverwaltung. Einen genauen Plan, um der Lage wieder Herr zu werden, scheint es im Schloss Cotroceni nicht zu geben, trotz der wiederholten Rufe zur Ordnung, die der Staatschef an die PSD gerichtet hat.
Klar ist, dass die Wahlen vom 11. Dezember die Mehrheit der Bürger nicht zufriedengestellt haben, eben jene Mehrheit, die damals zu Hause geblieben ist und jetzt seit Tagen auf Plätzen protestiert und durch die Innenstädte zieht. Mit Pauken und Trompeten, mit den Loch-Fahnen, die an Dezember 1989 erinnern, mit zahlreichen Solidaritätsgesten: Taxifahrer bringen Leute kostenlos zum Victoriei-Platz, Jugendherbergen stellen freie Zimmer zur Verfügung, Kneipen schenken heißen Tee aus, Temeswarer und Klausenburger steigen in Billigflieger, um in Bukarest zu protestieren und werden von Bukarestern vom Flughafen abgeholt, vor der Temeswarer Oper wird lauthals geschrien: „Bucureşti, rezistă!” Dass so viele Bürger Rumäniens gemeinsam den Geist zivilen Ungehorsams ausleben, hat die regierende Partei wohl nicht geahnt.

Man muss die Botschaft der Hunderttausenden auf den Straßen auch in ihrer europäischen Dimension begreifen, denn implizit geht es auch um Europa, um ein europäisches Rumänien. Das haben die Bürger in den Nachbarhauptstädten Chişinău und Sofia verstanden, die Solidaritätskundgebungen veranstaltet haben. Und natürlich die Auslandsrumänen, in Berlin, London, Paris, Rom oder Madrid. In einer krisengeschüttelten Europäischen Union, in der unmittelbaren Nachbarschaft von Scheindemokratien wie zum Beispiel jene in Ungarn, beweisen die Rumänen, die „Armutseinwanderer“, denen 2014 deutsche Politiker an deutschen Grenzen Fingerabdrücke abnehmen wollten und die als Untergang Großbritanniens dargestellt worden sind, dass der europäische Gedanke an den Außengrenzen der EU noch hellwach ist. Dass der Rechtsstaatsgedanke angekommen ist. Rumäniens junge, urbane Schicht hat den Mut gehabt, die Machthaber herauszufordern. Weil diese ihre Legitimität verspielt haben, weil sie umkehren wollten, was unumkehrbar sein muss. Ob die Massenproteste des Februar 2017 Rumäniens Gesellschaft nachhaltig verändern werden, bleibt abzusehen, richtig sind sie auf jeden Fall.