Der Überwachungsstaat 2.0

Oder wie wir lernen müssen, Facebook zu fürchten

Symbolfoto: freeimages.com

George Orwells bekanntester Roman „1984” handelt von einem totalitären Präventions- und Überwachungsstaat. In jeder Wohnung und in jedem Haus sind Fernseher mit Kameras angeschlossen, wodurch der Staat alles sehen kann, was sich hinter den vier Wänden abspielt. Es gibt keine Privatsphäre. Der sogenannte „Große Bruder” sieht alles und weiß alles. Bis heute entsetzt das Buch die Leser. In den letzten 25 Jahren trösten sich viele zumindest damit, dass durch den Fall der kommunistischen Regime in Europa auch der Überwachungsstaat nur noch in Orwells Buch bestehen bleibt. Doch dann denke man zurück an das Jahr 1999, als in den Niederlanden eine neue Fernsehshow weltweit für Schlagzeilen sorgte....

Die Firma Endemol Entertainment machte aus Orwells albtraumhafter Vision von der totalen Überwachung eine Vergnügungssendung. Sie sollte von dem  voyeuristischen Drang des Menschen profitieren, alles über den anderen wissen zu wollen, und steckte zehn Unbekannte in ein Containerhaus, um sie 24 Stunden am Tag wie Laborratten zu überwachen. Außer dem stillen Örtchen wurden in jedem Zimmer Kameras angebracht, versteckt hinter großen Spiegeln sowie an unzugänglichen Orten.

Der anfängliche Schock mancher wich der Neugier der Massen. Alle wollten sehen, was sich in dem Haus abspielen würde. Durch die Möglichkeit, über den Verbleib der Bewohner abzustimmen, erhielt sogar jeder einzelne Zuschauer die Macht eines „Großen Bruders”. Schließlich heißt auch die Sendung „Big Brother” und ist inzwischen ein weltweites Phänomen mit zahlreichen Staffeln und Variationen des gleichen Konzeptes.

Es ist nur eine Show, aber auch ein Zeichen dafür, in welche Richtung sich Gesellschaften entwickeln würden. Lange bevor Smartphones ein Begriff waren, es soziale Netzwerke überhaupt gab und das Internet allgegenwärtig wurde, warf eine niederländische Fernsehshow bereits Fragen zum Thema Privatsphäre auf, welche Grenzen man überschreiten darf und welche nicht.

Anno 2014 behaupten viele Facebook-Kritiker, dass inzwischen alle im „Big Brother” leben. Das soziale Netzwerk hat in den letzten Jahren zunehmend seine Endbenutzer-Lizenzvereinbarungen geändert, um besonders Unternehmen legal Zugang zu den persönlichen Daten seiner inzwischen rund 1,23 Milliarden Mitglieder zu ermöglichen. Alles, was auf Facebook steht, kann gegen dich verwendet werden. So ungefähr lautet der Vorwurf. Was vom Nutzer freiwillig mit der Welt geteilt wird, daran stören sich die meisten Kritiker nicht. Viel mehr geht es ihnen um die vertraulichen Informationen und den Handel damit.

2012 verschickte der amerikanische Einzelhändler „Target” Coupons für Babyprodukte an Kunden, die mutmaßlich (87 Prozent) schwanger waren. Ein empörter Vater ging mit der ausgedruckten Mail in einen „Target”-Laden und beschwerte sich bei den Verkäufern, sie würden seine minderjährige Tochter dazu ermutigen, schwanger zu werden. Dann die böse Überraschung: Es stelle sich heraus, dass seine Tochter tatsächlich bereits schwanger war. „Target” hatte dies herausgefunden, indem es das Kauf- und Suchverhalten im Netz seiner Kunden untersuchte.

Durch die Vernetzung von Seiten  – Facebook erlaubt es Mitgliedern inzwischen, sich mit ihrem Konto auf andere Webseiten einzuloggen, anstatt dort unabhängige Profile anzulegen – ist man schon lange nicht mehr anonym.

Doch es ist längst nicht mehr nur der Staat, der alles über seine Bürger wissen möchte, so wie es bei Orwell der Fall ist. Die eigentliche Gefahr, die heute viele Experten befürchten, kommt von den Unternehmen.

Der US-amerikanische Science-Fiction-Film „Blade Runner” wird auf vielen Listen als einer der besten Filme seines Genres gepriesen. Darin wird eine Welt dargestellt, die von großen Unternehmen kontrolliert wird. Sie sind die wichtigsten Entscheidungsträger und üben einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft aus als die Politik.

Die Prognosen des Buchs „1984” sind inzwischen überholt. Stattdessen scheint Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt” wahr zu werden. Huxleys Dystopie-Roman liest sich in der Zusammenfassung wie eine Statistik. Im Jahr 2540 werden Kinder im Labor gezeugt und bereits während den embryonalen Entwicklungsstadien körperlich und intellektuell an ihre künftigen Gesellschaftsrollen angepasst. Der britische Schriftsteller prophezeite den Verlust der Individualität, den Aufschwung einer trivialen, oberflächlichen Gesellschaft, wo uns der Überschuss zum Verhängnis wird, wo Demokratie zum Totalitarismus verkommt. Anders als in George Orwells „1984“ führt in Huxleys Dystopie die Selbstzufriedenheit der Menschen zum Verlust von Werten wie individueller Freiheit. Statt Entzug stopft Huxleys Dystopie den Menschen voll: Sex wird mit jedem geduldet, Drogen sind alltäglich, Verschwendung wird gefördert. Eine Weltgesellschaft auf Glück getrimmt, ohne Kriege und ohne Armut, jedoch zu einem Preis: der eigenen Individualität.

Hinzu kommt der Aufschwung des Internets und der Leichtsinn, mit dem Nutzer im Word Wide Web surfen. Deutschland und viele europäische Nachbarländer gehen inzwischen konsequent gegen Facebook und Google vor. Die Politik bemüht sich, ein strenges Datenschutzgesetz durchzuboxen, trotz der starken Lobby dieser milliardenschweren Unternehmen.

Googles Zukunftspläne klingen für Skeptiker noch schauderhafter als die von Facebook. Mit Google Glass, einer der ersten Smart-Brillen, sollen Benutzer jederzeit und überall Zugriff zu Informationen erhalten, sowohl über Unternehmen, Einrichtungen, als auch über Privatpersonen. Nur ein Augenzwinkern soll den Brillengläsern das Signal geben, ein Foto zu machen. Die Methoden und die Möglichkeiten erinnern an Agentenfilme. Somit wird jeder Brillenträger zu einem potenziellen Spitzel, nicht anders als es früher in den sozialistischen Staaten der Fall war. In Südkorea wurde sogar seitens des Staates die Initiative eingeführt, jeden Bürger zu belohnen, der seinen Mitmenschen bei den Behörden verpfeift, wenn er kleine Delikte begangen hat. Wer seinen Müll nicht rechtzeitig austrägt, soll sich über eine Geldstrafe nicht wundern. Vermutlich wurde er dafür von den Nachbarn angeschwärzt.

Solche Szenarien kannte man bisher aus Orwells Roman. Wo selbst das eigene Kind den Vater anzeigt. Heute scheint sich diese furchterregende Zukunftsvision nicht nur zu erfüllen, sie würde sich auch, so Experten, in eine perverse Richtung entwickeln. Denn der Feind schaut anders aus. Die Gründe sind andere. Es ist Huxleys Zukunftsmensch, zu dem wir mutieren. Der „Große Bruder” ist nicht mehr länger eine ominöse, fiktive Gestalt, fabriziert von einer Gruppe von Eliten. Der „Große Bruder” sind du und ich.