Der Vater

Die erste und einzige Erinnerung ist: Der Vater sitzt in einem Laster, mit Rucksack und Koffer, und winkt. Er fährt davon. An viel Unruhe und Aufregung erinnert sich der damals noch keine fünf Jahre alte Sohn, und daran, dass auch der Vater der anderen Familie auf dem Hof weg war. Im Wohnzimmer stand noch der Weihnachtsbaum.

Ioan Balteş, ein Arbeitskollege des Vaters aus der Chemiefabrik Colorom, wurde zum Helfer und zu einer Lichtgestalt für die Zurückgebliebenen. Er nahm die Kinder mit auf den Zeidner Berg, und, o Wunder, er hatte manchmal ein köstliches Stück Fleisch dabei, das man gemeinsam grillte. Im Winter lernten sie von dem rumänischen Freund ihre eigenen deutschen Weihnachtslieder, denn Ioan Balteş kam mit einem Blockflötenquartett und machte Musik. Vom Vater kam nach der zensierten Postkarte aus Brăila, am 16. Januar rumänisch geschrieben: „suntem sănătoşi”, kein Lebenszeichen mehr. Ein Weihnachtsgruß aus dem russischen Arbeitslager, vom 14. Dezember 1945,  gelangte im Januar des folgenden Jahres auf Umwegen zu Frau und Sohn. „…ich mache mir große Sorgen um euch… erst hier habe ich gelernt, wie wenig man zum Leben braucht…  ich bin gesund… es gibt Gerüchte…  und ich hoffe, dass wir bald zurück kommen…“. Der winzige Brief, mit Bleistift geschrieben, fiel fast auseinander und war kaum zu lesen. Eine Bekannte in Hermannstadt musste ihn erst entziffern und tippen, damit die Familie den Inhalt verstand. Aus dieser Zeit bewahrt der Sohn noch rumänisch geschriebene Postkarten der Mutter auf. Cenzurat ist auf der Vorderseite gedruckt. Sie berichtete ihren Eltern nach Hermannstadt vom Aufbruch des Mannes, vermied jede persönliche Regung  und jeden Kommentar.

Auf der Suche nach dem Verbleib seines Sohnes unternahm der Großvater in Hermannstadt zahlreiche, aber vergebliche Anstrengungen. Wo könnte der Vater sein? Die letzte Adresse: Krasnodonsk, Rabocni batalion. Auf seine Anfragen an die Gesandtschaft Russlands kam nie eine Antwort. Im Jahr 1948 kehrte bei den Nachbarn auf dem Hof ein Mann heim: deren Vater. Während sich die Spielkameraden und ihre Familie freudig begrüßten, verzogen sich Mutter und Sohn nach hinten, in ihre eigene Traurigkeit und Verzweiflung.

Erste Gewissheit brachte ein Brief von Sofia F., die dem Großvater berichten konnte, was sie selbst gesehen hatte: der Gesuchte war Anfang Dezember 1946 gemeinsam mit ihr in einem Lazarett in Frankfurt/Oder gelandet. Auf einer Trage liegend, habe sie ihn erkannt. Seinen Namen und seine Personalien habe er nicht mehr nennen können.  Am 6. Dezember sei er wahrscheinlich verstorben, da sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen habe. Dieses sollte bis zum Jahr 1991 alles sein, was der Sohn über seinen Vater erfahren konnte. Kein Todesschein, kein letzter Brief, nichts Persönliches, keine Grabstelle. In der Familie wurde der Weihnachtsbaum nie mehr vor dem 13. Januar abgeräumt. Der kommunistische Alltag verdonnerte außerdem zum Schweigen: Dass der Vater einst nach Russland zur Zwangsarbeit verschleppt wurde, konnte der Sohn nicht erzählen. Auch die Freunde und Kollegen handhabten es ähnlich. Erst nach der Wende erfuhr man: hier 15 Jahre Gefängnis, dort griechisch-katholische Konfessionszugehörigkeit. Und das Reiseverbot galt für alle gleichermaßen. So kam es, dass erst im Jahr 1991 eine Fahrt nach Frankfurt/Oder möglich wurde, auf der Suche nach einer Grabstelle. Was er hier inzwischen vorfand: auf dem Zentralfriedhof ein Ehrenmal für die Opfer des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, aber keine weiteren Hinweise in Datenbanken, beim Roten Kreuz oder bei der Friedhofsverwaltung. Die Gebeine vieler Tausender von Opfern, Soldaten wie Zivilpersonen, teils umgebettet, ruhten hier seit 1976.

Doch dann öffnete Moskau 1998 seine Archive. Es gab plötzlich Auskunft über das Schicksal vieler Verschollener. Lange Listen tauchten auf, mit Namen, Todesdatum und Grabstelle. So hielt der Sohn eines Tages ein Papier in Händen, wo der Name des Vaters, russisch verballhornt, neben dem Todesdatum 6. 12. 1946 auftauchte. Unauffindbar blieb allerdings die angegebene  Grabstelle. Im zerbombten Frankfurt, Schauplatz grausamer letzter Kriegstage, überschwemmt von Flüchtlingen und Rückkehrern aus dem Osten, wurde damals weit über die Friedhofsmauern in Sammelgräbern beerdigt. Seit 2009, dem letzten Besuch des Sohnes am Zentralfriedhof in Frankfurt/Oder, ziert eine weiße Marmortafel das Areal rund um das Ehrenmal, wo schon so viele Namen in die Erde eingelassen sind: Fritz Türk, Siebenbürgen, 1911-1946. Der Sohn verarbeitet das Trauma der jungen Jahre auf seine Weise. Hans Peter Türk ist heute ein geschätzter, weit über die Landesgrenzen bekannter Komponist. Am 27. März darf er mit Sohn, Enkelkindern und vielen Freunden und Bewunderern seiner Musik den 75. Geburtstag feiern.