Deutschland und Polen – auf gute Nachbarschaft?

Podiumsgespräch zum 25-jährigen Jubiläum des Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrages

Die Berliner Mauer war gefallen, Deutschland – für manche zu schnell – gerade erst wiedervereinigt, und nach großer Euphorie begann zwischen Ostsee und Alpen die schwierige Suche nach einer gesamtdeutschen Identität. Europa lag nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in den Nachwehen des größten Umbruchs seit dem Zweiten Weltkrieg. Welche internationale Rolle würde Deutschland künftig einnehmen? Manche Nachbarn blickten daher mit Sorge auf die damalige Bundeshauptstadt Bonn. Die Erinnerungen an die jüngere Geschichte waren besonders in Ostmitteleuropa noch lebendig: Würde von einem vereinigten Deutschland erneut eine Gefahr ausgehen? Jenseits der Oder, in Warschau, waren diese Sorgen angesichts der bewegten Vergangenheit besonders groß und die Sorgenfalten auf der Stirn noch etwas tiefer. Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag vom Juni 1991 versuchte, diesen Befürchtungen entgegenzutreten und sollte den Weg für ein friedliches und freundschaftliches Zusammenleben Deutschlands und Polens in Europa ebnen.

Ist der Vertrag trotz der Verstimmungen zwischen Berlin und Warschau aber noch lebendig? Seit dem Regierungsantritt der polnischen Nationalkonservativen im November 2015 ist das Klima spürbar abgekühlt: Die Versuche der regierenden Partei für „Recht und Gerechtigkeit“, Kompetenzen der öffentlichen Institutionen zu beschneiden, blieben nicht ohne Kritik aus Berlin und Brüssel. Den aktuellen Dissonanzen zum Trotz: „Der Vertrag ermöglicht noch immer ein offenes Gespräch“, ist Waldemar Czachur überzeugt. Auf einem am Dienstag dieser Woche in den Räumen des Bukarester New Europe College von der deutschen und der polnischen Botschaft organisierten Diskussionsforum zum 25-jährigen Vertragsjubiläum war der Warschauer Germanistikprofessor überzeugt: „Polen hat sich 1991 für eine Bindung an den Westen entschieden“: Angesichts der Vergangenheit sei das Zustandekommen des Vertrags emotional eigentlich kaum möglich gewesen – die Nazis hätten die polnische Intelligenz vernichtet, während sich nach ihrer Vertreibung auch die Deutschen als Opfer gesehen hätten. Die antideutsche Grundeinstellung der kommunistischen Regierung Polens habe eine Annäherung zusätzlich erschwert. Westlich der Oder habe die deutsche Teilung eine einheitliche Position gegenüber Warschau unterbunden. Nicht zufällig seien die ersten, ethnisch motivierten Versuche einer Aussöhnung daher außerhalb der Politik gestartet worden: „Mit ihrem Brief ,Wir vergeben und bitten um Vergebung’ haben die polnischen Bischöfe 1965 ein erstes Zeichen gesetzt.“

Die Ostdenkschrift der Evangelischen Kirche (West-)Deutschlands aus demselben Jahr habe in Deutschland die Entwicklung der öffentlichen Meinung angestoßen. Der historische Kniefall Willy Brands vor dem Mahnmal für die ermordeten Juden des Warschauer Ghettos 1970 sei auch Folge und Ausdruck eines Bewusstseinswandels in Deutschland gewesen: „Brandt wusste, dass der Schlüssel für die deutsche Einheit nicht in Ostberlin, sondern in Moskau und teilweise auch in Warschau liegt“, ist Czachur überzeugt. Und heute? Die Beziehungen zwischen beiden Ländern seien „in der Wirtschaft am engsten, erst dann in der Politik, und ganz am Ende die Zivilgesellschaft.“ Der Vertrag habe keine europaweite Strahlkraft, habe aber trotz aller Differenzen eine Vorbildfunktion: Ein dichtes Netzwerk deutsch-polnischer Kontakte zeige, dass der Vertrag seine Aufgabe bestens erfülle. Zwar könne das seit dem 18. Jahrhundert in Polen erfahrene Unrecht nicht in 25 Jahren vergessen werden, so Czachur. Aber: „Wir haben nun die Chance, endlich aus den Mustern des 19. und 20. Jahrhunderts herauszukommen. Besonders Polen hat hier noch einen langen Weg vor sich.“

Die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau sind seit einem Jahr deutlich abgekühlt. Schadet dies dem Vertrag und der Nachbarschaft? „Es gibt Differenzen, aber man pflegt einen freundlichen Austausch darüber. Das ist doch der Sinn einer guten Nachbarschaft“, gibt sich Stephen Bastos optimistisch. Der Projektleiter der deutschen Stiftung Genshagen und Experte für europäische Integration gibt zu: Der polnische Wahlkampf habe mit seinen teilweise schrillen Tönen Besorgnis in Deutschland ausgelöst, doch man habe keine Sorge um die gute Nachbarschaft. Man sei überzeugt: Die Geschichte dürfe der Politik nicht ihren Stempel aufdrücken. So könne auch offen ausgesprochen werden, dass in Deutschland Besorgnis über das Vorgehen der polnischen Regierung herrsche. Verstimmungen und europaweite Turbulenzen verpflichten beide Länder jedoch dazu, den Vertrag am Leben zu erhalten: „Wir sollten nicht über historische, sondern über aktuelle politische Fragen diskutieren“, fordert Bastos. Die Auseinandersetzungen böten eine Chance für einen lebendigen deutsch-polnischen Dialog. Allerdings zeige sich hier ein Mangel des Nachbarschaftsvertrags: Er habe keine offiziellen Kommunikationskanäle geschaffen. „Deren Einrichtung ist heute nötiger denn je.“ Der auch von Berlin kritisierte Umbau von Polens Justiz, die deutliche Neuausrichtung der polnischen Politik an christlich-konservativen Werten und die schroffe Ablehnung von Merkels vorübergehender Willkommenskultur – die Beziehungen seien in der Tat „dynamisch“, gibt Czachur zu. Die Beziehungen seien an einem Punkt, den man längst überwunden glaubte. Auf beiden Seiten herrsche Unverständnis über die Vorgänge beim Nachbarn. Aber: „Wie in den letzten 25 Jahren wird es auch dieses Mal eine Lösung geben.“