Die Gesamtschau auf Europa als Raum einer reichen kulturellen Entfaltung und Verschiedenheit stärker beleuchten

Ein Gespräch mit Dr. Andreas Otto Weber, Direktor des Hauses des Deutschen Ostens in München

Foto: Dorothee Elfring

Ob es um das Königsberger Schloss, den Adel in Schlesien, die Kulturlandschaften in den nördlichen Karpaten oder den siebenbürgischen Künstler Eduard Morres geht – das Haus des Deutschen Ostens (HDO) in München hat eine Vielfalt von Veranstaltungen, Ausstellungen und Projekten zu Themen der früheren deutschen Staats- und Siedlungsgebiete in Osteuropa auf der Agenda. Die Einrichtung wird von Privatdozent Dr. Andreas Otto Weber geleitet, der im Mai 2013 die Nachfolge von Dr. Ortfried Kotzian angetreten hat. Nach dem Studium der Geschichte und Geografie an der Ludwig-Maximilians-Universität und der Technischen Universität München war er in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie am Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig, wo er heute noch lehrt. Nicht nur fränkische oder mittelosteuropäische Geschichte faszinieren ihn, sondern auch Volkskunde und internationale Weinkultur. Für das Haus des Deutschen Ostens hat er sich eine Erweiterung der Perspektiven und neue Schwerpunkte vorgenommen. Mit Dr. Andreas Otto Weber sprach in München ADZ-Korrespondentin Christine Chiriac.

Herr Dr. Weber, was hat Sie motiviert, die Leitung dieses Hauses zu übernehmen?

Ich hatte schon immer großes Interesse daran, Geschichte zu vermitteln. Nach meiner Promotion war ich zunächst einige Jahre lang in einem forschungsintensiven Projekt tätig, das sich zwar als sehr interessant, aber für mich doch als etwas weltfremd herausstellte. Im Jahr 2000 hatte ich dann das Glück, das Angebot an der Universität Erlangen-Nürnberg zu bekommen, wo ich seither in der universitären Lehre und Forschung tätig bin – aber selbst das war mir persönlich noch nicht genug Vermittlung. Mein Wunsch war es, Geschichte nach außen, in die Gesellschaft hinein zu vermitteln, was ich dann ehrenamtlich getan habe, beispielsweise indem ich Projekte, Kulturwege und Ausstellungen für und gemeinsam mit den Studenten organisiert habe. So habe ich auch gemerkt, dass das etwas ist, was ich noch stärker in den Mittelpunkt meiner beruflichen Situation stellen wollte. Schließlich hat sich die Chance ergeben, dass das Haus des Deutschen Ostens einen neuen Direktor suchte, und ich gleichzeitig sehr gerne in meine Heimatstadt München zurückkehren wollte. Mein grundsätzliches historisches Interesse an der Materie und mein Wunsch, Geschichte in die breitere Öffentlichkeit zu bringen, haben dazu beigetragen, dass ich hier überzeugen konnte.

Welches sind die Aufgaben und Ziele des Hauses des Deutschen Ostens?

Unser Kulturauftrag ergibt sich aus dem Paragrafen 96 des Bundesvertriebenengesetzes: Er verpflichtet die Länder der Bundesrepublik Deutschland unter anderem dazu, die deutsche Kultur  im östlichen Europa und die Geschichte der Vertreibung und der Flucht von Deutschen aus diesem Raum im Bewusstsein der Deutschen und des Auslandes zu erhalten und dazu Archive, Museen und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten. Außerdem soll die Kulturleistung der  Vertriebenen und Spätaussiedler in der Gesellschaft von den Bundesländern gefördert werden. Wichtig ist es auch, die Leistungen der Menschen, die infolge von Flucht, Vertreibung oder Spätaussiedlung nach Deutschland gekommen sind, zu würdigen.

Daran hat sich im Laufe der Zeit nichts geändert, neu sind aber immer wieder die Perspektiven, die sich aus den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen ergeben. Mein Vorgänger in der Leitung des Hauses hat sehr deutlich den Themenhorizont erweitert und hat unser Angebot über das engere Publikum der Vertriebenenverbände hinaus in die Gesellschaft geöffnet. Ich möchte mich anschließen und seine Arbeit weiterführen. Außerdem sind wir die Institution des Freistaats Bayern, die mit Mitteln des Bayerischen Sozialministeriums die Kultur der Deutschen im östlichen Europa mitfördert und unterstützt. Hier ist es mir besonders wichtig, auch die junge Generation zu fördern, die an der Erinnerung, an der Pflege der deutschen Sprache und Kultur im östlichen Europa mitwirkt.

Welches sind konkret die neuen Schwerpunkte, auf die Sie sich in Ihrer Arbeit konzentrieren möchten?

Wichtig ist es mir vor allem, den zeitlichen Horizont, den dieses Haus in seinen kulturgeschichtlichen Beiträgen bietet, zu erweitern, und die gesamte Geschichte des vielsprachigen, multikulturellen Europa seit dem Mittelalter bis in die jetzige Zeit in den Blickwinkel zu rücken – einschließlich der gesellschaftlichen und politischen Phänomene. Für mich ist es von großer Bedeutung, Europa vor den zwei Weltkriegen als einen Raum reicher kultureller Entfaltung und Verschiedenheit zu sehen, das Nebeneinander der vielen Einflüsse zu beschreiben und dies als einen positiven Wert der Vergangenheit darzustellen. Konkret geht es mir also darum, nicht nur die einzelnen Regionen hervorzuheben, sondern auch die Gesamtschau stärker zu beleuchten. Oft besuchen Vertreter und Mitglieder der Landsmannschaften vornehmlich jene Veranstaltungen, die ihre eigene Herkunftsregion betreffen – und genau das möchten wir aufweichen, indem wir Querschnittsveranstaltungen anbieten, die größere Räume und Zeiten umfassen.

Wir hatten zum Beispiel im vergangenen November eine erfolgreiche Studienwoche zum Thema deutsche Geschichte und Geschichtskultur im östlichen Europa mit einem Blickwinkel vor allem auf die frühe Neuzeit, die Zeit zwischen dem Mittelalter und dem 19. bis 20. Jahrhundert. Diese Veranstaltung war überregional orientiert, und die Teilnehmer kamen sowohl aus den Reihen der Erlebnisgeneration, als auch zur Hälfte aus verschiedenen Universitäten. Ein zweites Beispiel wäre ein Vortrag zu Karl dem Großen und dem östlichen Europa, den ich im Winter gehalten habe. Auch diese historische Figur ist nicht nur für Böhmen oder Schlesien interessant, sondern hat die Geschichte in vielen Regionen elementar verändert und geprägt. Ein drittes Beispiel wäre eine Veranstaltung, die in die neueste Zeit geht: Wir haben 1989 einen großen Wandel in ganz Europa erlebt, vom Fall der Mauer und dem Niedergang der DDR bis hin zum Ende des gesamten „Ostblocks“, wie man ihn hier genannt hat. Diesen Veränderungen werden wir nun einen größeren Schwerpunkt in unseren Kulturveranstaltungen zuweisen, und zwar in Zusammenarbeit mit fast allen Generalkonsulaten der Staaten Ostmittel- und Südosteuropas hier in München. Die Fotoausstellung „25 Jahre Wandel im östlichen Europa“, die seit Juli im Haus des Deutschen Ostens zu sehen ist, gehört bereits zu diesem Themenkomplex.

Welche Einrichtungen haben Sie in den vergangenen Monaten in Rumänien gefördert?

Wir haben beispielsweise den Studentenverein Gutenberg gefördert, der die Deutschen Kulturtage an der Universität Klausenburg/Cluj organisiert hat, sowie das Deutsche Jugendforum Kronstadt/Bra{ov, das Ende vergangenen Jahres in einem sehr kurzen Zeitraum eine beeindruckende Gala im Saal der Kronstädter Oper veranstaltet hat. Weitere Beispiele sind das Jugendtreffen der Sathmarer Jugend in Bildegg/Beltiug, eine Ausstellung im Kunstmuseum Kronstadt oder die Kinderspielstadt Danubius des Jugendzentrums Seligstadt/Seli{tat. Seit Jahren engagieren wir uns auch für den Carl-Filtsch-Wettbewerb in Hermannstadt/Sibiu durch die Finanzierung der Preisgelder für die ausgezeichneten jungen Musiker.

Das Publikum Ihres Hauses setzt sich aus unterschiedlichsten Altersgruppen zusammen. Wie gelingt es Ihnen, die verschiedenen Interessen zu bedienen?

Es macht ganz sicher viel Arbeit und es hält unser ganzes Team in Atem. Besonders wichtig ist es uns, breites Interesse an der Arbeit dieses Hauses zu wecken, insbesondere auch bei der jüngeren Generation. Das Rezept lautet meiner Meinung nach, unser Programm mit möglichst interessanten Themen zu füllen und gezielt eine Kooperationspolitik mit jenen Institutionen aufzubauen, denen der Spagat zwischen den Generationen bereits gelingt.

Was bedeutet der „deutsche Osten“, der im Namen des Hauses steht, für die Menschen, die diese Region nicht kennen?

Unser Name stiftet immer wieder Verwirrung: Viele halten ihn nicht für glücklich, weil sich im Laufe der Zeit viele Missverständnisse um ihn gehäuft haben, andererseits gilt er nicht nur unter Historikern inzwischen als Erinnerungsort. Grundsätzlich ist es ein Name, der immer wieder Klärung nötig macht – und dies ist sowohl ein Problem, als auch eine Chance. Wenn ich erzähle, wo ich arbeite, komme ich so gut wie nie darum herum, etwas zu erklären – und damit erhalte ich die Möglichkeit, über dieses Haus zu sprechen. In diesem Namen steckt nun mal die Geschichte eines Hauses, das bereits 1970 gegründet wurde.

Inwiefern sind Münchner, die keinen Zusammenhang mit dem „deutschen Osten“ haben, an dem Kulturangebot des Hauses interessiert?

Es gibt erstens einmal sehr viele Münchner, die in irgendeiner Weise durch ihre Vorfahren eine Beziehung zu diesem Raum haben. Wenn ich zum Beispiel in meinem Freundes- und Bekanntenkreis von meiner neuen Aufgabe erzähle, muss ich immer wieder staunen, wie viele plötzlich etwas über ihre Großeltern erzählen, die aus dem Osten kommen. Dieses ist natürlich das Potenzial, das wir primär für unser Haus erschließen möchten. Andererseits ist es richtig, dass die Geschichte des östlichen Europa, die eng mit unserer mitteleuropäisch-deutschen Geschichte verbunden ist, auch andere Menschen interessiert. Um auf den Vortrag über Karl den Großen und das östliche Europa zurückzukommen – das Interesse war so groß, dass wir einen zweiten Termin ansetzen mussten, und selbst dieser war ausgebucht.

In vielen betroffenen Familien wurde über die Vertreibung und Flucht sehr wenig oder sehr negativ gesprochen. Hat dies die jüngeren Generationen abgeschreckt und von ihrer eigenen Geschichte entfernt?

Die Generationen verhalten sich in dieser Hinsicht sehr unterschiedlich. Die Menschen, die Flucht und Vertreibung als Baby erlebt haben, sind jetzt ungefähr im Alter von 70 Jahren aufwärts – und sie haben in der Tat mit der Generation ihrer Eltern über das Erlebte und die Traumata entweder sehr selten oder zu viel gesprochen. Die zweite Generation, die hier geboren wurde, hat somit entweder eine Überdosis davon abbekommen, oder eben nichts davon gehört. Außerdem hat sich die Generation, die in der Zeit um 1968 studiert hat, erstmals intensiv mit der Schuld des Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft auseinandergesetzt – was dazu geführt hat, dass eine Kollektivschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus auf die Elterngeneration übertragen wurde und die Jüngeren mit den Vertriebenenverbänden und den Landsmannschaften nichts mehr zu tun haben wollten.

Nun wiederum gibt es neue Generationen – etwa meine eigene, bei der ich sehr stark das Nachdenken über die eigenen Wurzeln entdecke. Das merkt man als Historiker unter anderem an dem zunehmenden Interesse für Ahnenforschung und Archivarbeit. Außerdem ist dieses Nachfragen nach den eigenen Wurzeln auch bei den derzeitigen Studenten deutlich der Fall. Die Veranstaltungen zum Thema der deutschen Geschichte und Geschichtskultur im östlichen Europa sind nach kürzester Zeit voll besetzt. Oft wird es von den Studierenden als Manko empfunden, dass derartige Themen im gymnasialen Geschichtsunterricht zu wenig bedient werden. Deshalb strebt das Haus des Deutschen Ostens nicht zuletzt Projekte in Zusammenarbeit mit Schulen an.

Nicht nur Flucht und Vertreibung selbst, sondern auch die Ankunft und die Integration in Deutschland waren in vielen Fällen ein Trauma. Wird dieser Aspekt in der Arbeit Ihres Hauses thematisiert?

Das ist auf alle Fälle ein wichtiger Punkt in unserer Tätigkeit. Persönlich habe ich zu diesem Thema geforscht – genauer über den Anteil der Vertriebenen und Flüchtlinge an der kulturellen Entwicklung im ländlichen Raum während der Nachkriegszeit. In vielen Regionen haben erst die Vertriebenen überhaupt ein Kulturangebot geschaffen! Das wird sicherlich auch ein wichtiges Thema werden, nachdem in diesem Jahr im September zum ersten Mal in Bayern ein Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation begangen wurde. Die Schwierigkeiten, die Menschen in den ersten Jahren ihres Lebens im neuen Umfeld hatten, und die Verbrechen, die sie erleiden mussten, gehören da selbstverständlich eng zusammen.

Inwiefern ist die Debatte über die „Armutszuwanderung“ aus Rumänien und Bulgarien mit der damaligen Integrationserfahrung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen? Kann die damalige Integration der jetzigen ein Beispiel liefern?

Unser Haus ist für ein derart großes Thema zu klein – wir konzentrieren uns vornehmlich auf den kulturell-historischen Bereich. Aber selbstverständlich kommt auch diese Frage oft ins Gespräch. Gerade bei Angehörigen der Erlebnisgeneration von Flucht und Vertreibung oder bei Spätaussiedlern aus Rumänien, Polen, Russland gibt es große Empathie für die nach Deutschland zuwandernden Menschen. Ein interessantes Beispiel ist die Stadt Geretsried, südlich von München, die größtenteils durch den Beitrag der Vertriebenen und Flüchtlinge entwickelt wurde. Diese Stadt hat man in der Umgebung verächtlich „Flüchtlingsried“ genannt, doch sie ist bis heute ein Brennpunkt der Zuwanderung und ein Vorbild von erfolgreicher Integrationspolitik auf kommunaler Ebene.

Herr Dr. Weber, Sie sind auch Weinhistoriker und Weinkulturexperte. Gibt es einen rumänischen Wein, den Sie empfehlen würden?

Ich werde versuchen zu antworten, ohne Schleichwerbung zu machen. Mein rumänischer Lieblingswinzer ist ein Sathmarschwabe, Johann Brutler in Bildegg, der als Spätaussiedler nach Augsburg gekommen war und vor etwa zehn Jahren wieder in seine Heimat zurückgekehrt ist. Dort hat er ein mustergültiges, in der Größe überschaubares Weingut aufgebaut. Die Naturweine, die dort erzeugt werden, stehen meines Erachtens mit an der Spitze der Qualität in Rumänien.