Die Gewalt von oben

König Heinrich VIII. von England (1509-1547) ernannte den berühmten Gelehrten Thomas More zum Lordkanzler seines Reiches. Dieser Mann war einer der charaktervollsten Männer seiner Zeit. Der von seinen Leidenschaften beherrschte König überwarf sich mit dem Papst, weil dieser seine zweite Ehe zu Lebzeiten der ersten Gattin nicht anerkannte. Der selbstherrliche König riss die Kirche Englands von Rom los und ließ sich vom willfährigen englischen Parlament zum Oberhaupt der Kirche Englands erklären. Thomas More aber machte nicht mit. Da ließ ihn der König in den Kerker werfen in der Hoffnung, ihn mit Gewalt gefügig zu machen. 

Am 12. Juni 1535 kam der Staatsanwalt Richard Rich zu Sir Thomas More in den Kerker, um einen Grund zur Anklage gegen Sir Thomas finden. „Sie sind ein kluger, gelehrter Mann” begann er, „und sehr bewandert in den Gesetzen des Königreiches. Wollen Sie mir auf eine Frage antworten? - Wenn ein Parlamentsbeschluss mich zum König machte, würden Sie, Herr More, mich dann als König anerkennen?” „Ja, das würde ich tun”, war die Antwort. „Wenn nun ein Parlamentsbeschluss mich zum Papst machen würde, würden Sie mich als solchen anerkennen?” Sir Thomas More antwortete: „Auf Ihre zweite Frage will ich mit einer Gegenfrage antworten. Glauben Sie, das Parlament könnte durch ein Gesetz beschließen, dass Gott nicht mehr Gott sei?” „Kein Parlament der Welt könnte ein solches Gesetz machen”, gab der Staatsanwalt zu. Da sagte Thomas More: „Gut, aus denselben Gründen kann kein Parlament den König zum Haupt der Kirche Gottes auf Erden ernennen.” Aufgrund dieser Unterredung wurde Thomas More als Hochverräter zum Tode verurteilt und enthauptet. Die Kirche hat diesen heldenmütigen Mann heiliggesprochen.

Es ist klar: Für ein weltliches Amt mit den entsprechenden Vollmachten kann ein Mensch entweder vom Volk oder durch seine Bevollmächtigten ernannt werden. Er hat seine Gewalt von des „Volkes Gnaden”. Aber ein Amt mit göttlichen Vollmachten kann kein Volk und kein Parlament verleihen, sondern nur, wer göttliche Vollmacht besitzt. Diese grundlegende Wahrheit kündet uns das heutige Evangelium. Christus sagt zu Petrus: „Du bist der Fels. Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen... Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: was du auf Erden bindest, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden löst, das wird im Himmel gelöst sein.”

Also, in der Kirche kommt die Gewalt nicht von unten, sondern von oben, von Gott. Das ist der Unterschied zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt. Sind wir nun der Willkür kirchlicher Gewaltträger ausgeliefert? Kann ein kirchlicher Amtsträger schalten und walten, wie er will? Nein! Christus gibt die Gewalt nicht zum Herrschen, sondern zum Dienen. Das unterstrich er eindringlich, als er beim letzten Abendmahl den Aposteln die Füße wusch: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.” Der kirchliche Amtsträger soll der Diener Christi und der Gläubigen sein. Der Papst nennt sich selbst „Diener der Diener“. Kirchliche Gewalt wird gegeben, um dem Volke Gottes zu dienen, um es zu Christus zu führen. Wir wollen in den kirchlichen Amtsträgern die Bevollmächtigten Christi sehen, sie sind Verkünder der Lehre Christi. Deshalb prägen unser Verhalten den kirchlichen Vorstehern gegenüber die Worte Christi: „Wer euch hört, der hört mich!“