Die Nieserin

Symbolgrafik: pixabay.com

Es ist immer wie eine kleine Explosion, die das ganze Haus erschüttert. Nachdem die Wände zu wackeln aufgehört haben und die Kollegen wieder unter den Schreibtischen hervorgekrochen sind, tönt es aus der oberen und unteren Etage im Chor: „Gesundheit!!!“ Die Nieserin kann nichts dafür, sie befürchtet halt einfach zu platzen, wenn sie ihre 160 Stundenkilometer Niesgeschwindigkeit nicht ungehemmt entfesseln kann.

Für uns Zimmergenossinnen, nur je eine Schreibtischlänge vom Epizentrum entfernt, ist es jedes Mal ein kleiner Herzinfarkt. „Sag mal, kannst du uns nicht vorwarnen?“, schlug ich eines Tages vor.“ Ja – manche Leute machen vorher HA-HA-HAAAA, bevor das große -TSCHI kommt“, meint die andere Kollegin. Nur, bei der Nieserin ist es kein -tschi. Der Urknall ist ein Schlaflied gegen das, was bei ihr folgt. „Oder mach doch ein kleines vorwarnendes Katzennieserchen, bevor die große Explosion kommt“, scherze ich weiter. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. „Ich könnte die Hand heben“, meint die Nieserin kooperativ. „Wir gucken doch nicht dauernd auf dich“, tönt es hinter dem anderen Computer hervor. Nun aber geht es los mit den kreativen Ratschlägen. Die noch unverbrauchte morgendliche Energie in einer Redaktion ist nicht zu bremsen. „Wir könnten dir eine kleine Hupe am Schreibtisch anbringen. Wenn der Nieser kommt, drückst du vorher schnell den Balg!“ Die Nieserin kichert. Es ist nicht das erste Mal, dass wir solche Diskussionen führen. Spaßig-liebevoll freilich, denn wir wollen schließlich auch nicht, dass sie platzt. Und so üben wir halt den kleinen Herzinfarkt, wöchentlich oder täglich, je nach Pollenflug und Wetterlage.

Aber wozu niest der Mensch eigentlich? Ein Nieser ist ein Schutzreflex, der dafür sorgt, dass etwas, das nicht in die Lunge gehört, auch nicht hineingelangt. Er kann bis zu 160 Stundenkilometer erreichen – das ist, wie wenn einem ein Porsche aus der Nase fährt! Weil dabei kräftig Bakterien und Viren herausgeschleudert werden, empfiehlt ein Ratgeber im Internet: „Die hygienischste Methode ist, in die eigene Armbeuge zu niesen. Denn mit der Armbeuge berührt man weder Menschen noch Gegenstände und somit ist eine Übertragung der beim Niesen ausgestoßenen Keime unwahrscheinlich.“ Was man anschließend – nachdem man in der U-Bahn, mitten am Victoria-Platz oder eben im Büro „politisch korrekt“ geniest hat – mit dem Rotzärmel anfangen soll, wird nicht verraten. Am besten man führt eine ausreichende Menge an Wechselkleidungsstücken mit, vor allem in der Erkältungszeit. Aber – so sehr ich seither auf Armbeugen meiner Mitmenschen schiele, noch nie konnte ich dort einen verdächtig feuchten Fleck oder schleimiges Glitzern entdecken. Wohl doch nicht so verbreitet, die Methode...

Auch warum man nicht in ein Taschentuch niesen soll, wird in dem Artikel erklärt: Beim Zusammenknüllen verteilen sich die Keime über die Hände. Falls man es doch tut, so der Ratgeber, sollte man zumindest das Taschentuch nicht verknüddeln. Also: reinniesen, am äußerten Zipfelchen halten und schnell zum Mülleimer tragen, bevor die Rotzglocke runtertropft? Oder doch lieber knüllen und dann schnell Händewaschen – und die Badezimmertür bitteschön nur mit dem Ellbogen aufdrücken, denn sonst bleiben die bösen Keime dort hängen und man nimmt sie am Rückweg wieder mit. Dies freilich nur, wenn man die Armbeuge-Niesmethode nicht praktiziert, denn sonst ist auch der Ellenbogen pfui.
Gut überlegen – Oktoberfestgänger aufgepasst! – sollte man vor diesem Hintergrund, mit wem man Bruderschaft trinkt. Am besten vorher fragen: Heute schon geniest? Oder: 1. Arme verhaken, 2. Bier trinken, 3. Pulli wechseln.
Das tut ganz neue Marktchancen auf: der Einweg-Niespulli im Zehnerpack, die Wechsel-Armbeugenbinde mit Klettverschluss, der Warn-Niespulli, bei dem sich die Armbeuge automatisch nach dem Hineinniesen rot färbt, oder lieber grün. Nee - iiih! Doch lieber blau. Blau kann man mit nichts anderem assoziieren. Auch im Fernsehen ist Windelwerbung daher immer mit blau.

„Ich mach schnell einen Rundgang und zähle die Opfer“, verabschiede ich mich grinsend bei der Nieserin auf dem Weg zum Drucker. Und denke: Vielleicht doch nicht so schlecht, diese Armbeuge-Methode – vor allem aus schalltechnischen Gründen...