Die Rumänen außerhalb Rumäniens

Vorstellung einer diplomatischen Studie aus dem Jahr 1945 im Kulturhaus „Friedrich Schiller“

Nicolae-Şerban Tănăşoca (Mitte), Leiter des Instituts für Süd-Osteuropäische Studien an der Rumänischen Akademie, die Linguistin Dr. Cătălina Vătăşescu (rechts) und der Militärgeschichtsexperte Oberst Dr. Petre Ota (links) präsentierten die Lage der Auslandsrumänen im Jahr 1945 im Kulturhaus „Friedrich Schiller“. Stehend die Projektkoordinatorin Aurora Fabritius

Trachten des aromunischen Stammes Farşarotesc.
Fotos: George Dumitriu

„Weil Rumänien die Minderheiten auf nationalem Gebiet mit großer Toleranz behandelte, erwartete man, dass auch andere Staaten, in denen rumänische Menschen leben, die gleiche Haltung annehmen würden“, schreibt der rumänische Diplomat Emil Oprişanu 1945 in seiner Studie „Die Rumänen jenseits der Grenzen“. Ergänzt durch Statistiken, Tabellen, topografische und ethnografische Karten sowie Listen mit rumänischen Schulen und Kirchen, war das Werk dem Ordner der rumänischen Delegation für die Aushandlung des Pariser Friedensvertrags als Entscheidungsgrundlage beigelegt. Auf dessen Basis sollte eine optimale politische Strategie erarbeitet werden, welche die Rechte der rumänischen Minderheit in Zentral- und Südosteuropa berücksichtigt, erklärt der Historiker und Philologe Dr. Nicolae-Şerban Tanaşoca, Herausgeber der  2014 erschienenen Neuauflage dieser Studie, die vom Institut für Süd-Osteuropäische Studien an der Rumänischen Akademie erstmals in vollständiger Form veröffentlicht wurde. Das Werk liefert nicht nur interessante Einblicke in die damalige Minderheitenpolitik, sondern auch in die Geschichte der rumänischsprachigen Volksgruppen und ihre Verbreitung in Europa.

Stolz hält Tanaşoca das blaue Buch in die Höhe, das er am 25. Juni im Kulturhaus „Friedrich Schiller“ einem wissbegierigen Publikum präsentiert. Neben ihm als Mitvortragende die Linguistin Dr. Cătălina Vătăşescu und der Experte für Militärgeschichte, Oberst Dr. Petre Ota. Projektkoordinatorin Aurora Fabritius – wieder einmal beweist sie ihre Vorliebe für schwergewichtige historische Themen – führt in die Veranstaltung ein. Für Auflockerung sorgen die jungen Musiker Marius Boldea und Ana Bădică mit vierhändigen Einlagen am Klavier. Im Hintergrund illustriert eine kleine  Fotoausstellung, aus Urkundensammlungen von Tanaşoca zusammengestellt, die Geschichte der Aromunen, Meglenorumänen, Dakorumänen und Istrorumänen. „Im guten Glauben an die Verträge zum Schutz der Minderheiten, die im Nachgang der letzten Friedenskonferenz unterzeichnet wurden, hat Rumänien die von Rumänen dicht bevölkerten Gebiete direkt vor seinen Pforten nicht zurückverlangt, sondern sich damit begnügt, anzunehmen, dass die fremden Staaten der rumänischen Minderheit freie geistliche und kulturelle Entwicklung gewähren würden“, fährt Oprişanu fort und beklagt die kontinuierliche, progressive Abnahme der Zahlen dieser Minderheit als Beweis für die Missachtung der erwarteten Rechte. In seiner Empfehlung schließt er mit dem Beispiel Griechenlands und der Türkei: „Der Transfer der gesamten Bevölkerung beweist, dass dies der einzig zu verfolgende Weg ist, um einen der Hauptgründe für Reibungen zwischen den Staaten auszuschalten.“

Rumänen außerhalb der Landesgrenzen und ihre linguistische Klassifizierung

Um die Bedeutung dieser Empfehlung zu verstehen, müssen wir einen Blick auf die Geschichte der rumänischen Volksgruppen werfen, die nach dem Ersten Weltkrieg außerhalb der Landesgrenzen verblieben sind. Opri{anu zählt diese in seiner Studie auf: Es sind vier rein rumänische Dörfer in der Karpatenukraine an der Grenze zur Maramuresch; mehrere Dörfer entlang der Grenze in Ungarn (als Folge des Vertrags von Trianon dort verblieben); zwei kompakte rumänische Gruppen im Banat und der Krajina des damaligen Jugoslawien sowie weitere rumänische Einwohner in Mazedonien und einige auf dem gesamten Staatsgebiet. Rumänische Gruppen in Bulgarien leben entlang der Flüsse Donau und Timok, im Osten und in den südlichen Bergregionen. Eine rumänische Sprachinsel liegt im griechischen Pindos-Gebirge und kleinere Gruppen in Makedonien, Thessalien und der Olymp-Region, sowie vereinzelte, isolierte ethnische Rumänen in ganz Griechenland. Die Rumänen in Albanien konzentrieren sich vorwiegend in der Ebene Myzeqeja, vereinzelt auch im Südosten des Landes. Zuletzt werden die Istrorumänen bei Opatija auf der kroatischen Halbinsel Istrien erwähnt.

Linguistisch unterscheiden die meisten Wissenschaftler vier Dialektgruppen des Rumänischen, die sich alle auf das Urrumänische oder Protorumänische zurückführen lassen, das seinerseits aus dem Vulgärlatein  Südosteuropas entstanden ist: Dakorumänisch, Aromunisch/Mazedorumänisch, Meglenorumänisch und Istrorumänisch.

1. Dakorumänisch: Die standardisierte Form dieses Dialekts wird heute generell als Rumänische Sprache bezeichnet. Der Begriff Dakorumänisch geht auf die Sprachforscher Samuil Micu und Gheorghe [incai zurück, die damit das Sprachareal nördlich der Donau bezeichnen, wobei Ausläufer auch südlich in der Dobrudscha, im Osten Serbiens oder entlang der Donau im Norden Bulgariens liegen. Suggeriert wird ein Bezug zum antiken Staat bzw. der späteren römischen Provinz Dakien und zum Verbreitungsareal der Daker. Dakorumänisch wird von der rumänischen Minderheit in der Karpatenukraine, in Ungarn, auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und in Bulgarien an der Donau und am Timok gesprochen.

2. Aromunisch/Mazedorumänisch: Aromunen oder Mazedorumänen leben als Minderheit vor allem im Norden Griechenlands, in Albanien, Mazedonien und im Süden Bulgariens. In Rumänien siedelten sich die meisten nach den beiden Weltkriegen in der Dobrudscha an. Aromunisch wird von einigen Linguisten als eigenständige, mit Dakorumänisch eng verwandte Sprache eingestuft, während andere es als Dialekt des Rumänischen betrachten. Die Kenntnis dieser Sprache bildet den Hauptpfeiler für das Bekenntnis zur Ethnie der Aromunen. Aromunen sind meist christlich-orthodox, nur in Albanien eher konfessionslos als muslimisch oder christlich. Es gibt kein geschlossenes aromunisches Siedlungsgebiet, die Ethnie lebt in Sprachinseln über Südosteuropa verstreut. Die größte liegt im Pindos-Gebirge im Nordwesten Griechenlands.

3. Meglenorumänisch: Die Meglenorumänen gehören dem gleichen geografischen Raum wie die Aromunen an, sind jedoch aus geschichtlichen und sprachlichen Gründen von diesen zu unterscheiden. Sie wanderten vermutlich im 14. Jahrhundert aus der südlichen Walachei aus, weswegen ihr Dialekt am stärksten dem Dakorumänischen ähnelt. Interessant ist, dass sie sich – anders als Dakorumänen, Aromunen und Istrorumänen – in ihrer Muttersprache selbst als Walachen („vlaşi“) bezeichnen. Während in der Sprache der Aromunen griechische Einflüsse vorkommen, haben die Meglenorumänen eine slawische Prägung. 1923 mussten einige Hundert Meglenorumänen, die im 18. Jahrhundert zum Islam übergetreten waren, im Rahmen des Bevölkerungsaustausches zwischen Griechenland und der Türkei aus Notia (Mazedonien) in die Türkei auswandern, wo sie nach Ostthrakien deportiert wurden. Meglenorumänisch wird heute von ca. 20.000 Menschen in Griechenland und Mazedonien gesprochen.
4. Istrorumänisch: Die Istrorumänen sind eine kleine romanische Volksgruppe, die nur noch in wenigen Dörfern im Osten der kroatischen Halbinsel Istriens , zwischen Rijeka und Opatija, vorkommt. Schät-zungsweise 500 bis 1000 Menschen sprechen heute Istrorumänisch. Früher wurden diese auch als Tschitschen bezeichnet, nach der als Tschitschenboden bezeichneten dortigen Karstregion. Istrorumänen sind die letzten Nachfahren der Maurowalachen, die im Laufe des Mittelalters von den umgebenden Slawen assimiliert wurden.

Wertvolle Basis für wissenschaftliche Studien

Die Bedeutung des Werks Oprişanus sieht Tanaşoca in mehreren Aspekten: Zum einen demonstriert  es die akribische Vorgehensweise der damaligen diplomatischen Vertreter Rumäniens bei der Datenakquise. Die Daten wurden während der Auslandseinsätze durch Kontakte mit den Gemeinschaften der Minderheiten erhoben. Ihre Vielfalt, Detailtiefe und Präsentation im Zusammenhang genügt jedem akademischen Anspruch, so Tanaşoca. Beeindruckend jedoch auch das Bemühen um Objektivität seitens des damaligen diplomatischen Corps: So verzichten Oprişanu und seine Kollegen völlig auf romantische Übertreibungen oder nationalistische Tendenzen bei der Beschreibung, inwiefern sich diese Minderheiten mit dem rumänischen Mutterland identifizieren oder untereinander solidarisch zeigen. Das damalige rumänische Außenministerium verfolgte eine wahrheitsbasierte, realistische Politik, hob Tanaşoca hervor.

Interessant ist die Studie aber auch im Hinblick auf den Umgang des Staates mit der Problematik Minderheiten. „Ein Thema, von dem man gelegentlich denkt, es wäre nur heutzutage hochaktuell“, bemerkt der Herausgeber. Versuche verschiedener Länder zur sprachlichen und nationalen Assimilierung der Minderheiten nach dem Ersten Weltkrieg führten schließlich zur Umsetzung der vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vertretenen Idee des Selbstbestimmungsrechts der Nationen als theoretische Basis für die politische Organisation der Welt. Am 10. Januar 1920 nahm der Völkerbund als Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg seine Arbeit auf. Ziel war, den Frieden durch schiedsgerichtliche Beilegung internationaler Konflikte dauerhaft zu sichern, aber auch die Schaffung eines Rahmens zum Schutz sprachlicher, rassischer oder religiöser Minderheiten. Umgesetzt wurden diese Bemühungen nur teilweise, meist durch bilaterale Konventionen zwischen den Ländern.

Die Unzulänglichkeit des Völkerbundes durch zahllose politische Kompromisse besiegelten dessen Ende 1938.
Doch selbst nach der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen 1945, nach dem Zweiten Weltkrieg, und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gelang es nicht, die Minderheitenrechte in einer für alle Mitglieder akzeptablen Form verbindlich zu verankern. Bis heute bemüht sich die EU um die Durchsetzung allgemeiner Regeln zum Minderheitenschutz. Weder das 1995 vorgelegte Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, noch die 1992 erarbeitete Europäische Charta der Regional- oder Minderheitssprachen wurden bisher von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert. Das Selbstverständnis, mit dem Rumänien seinen Minderheiten die Erhaltung der kulturellen Identität zugesteht, führt Tanaşoca auf ein „hohes Prinzip seit Jahrhunderten“ zurück, ohne das auch die Gründung von Großrumänien nach dem Ersten Weltkrieg nicht hätte stattfinden können. Anders wäre es kaum möglich gewesen, die Rumänen des Altreichs mit denen der österreich-ungarischen oder russischen Provinzen – Siebenbürgen, dem Kreischgebiet, der Maramuresch, Sathmar, dem Banat, der Bukowina und Bessarabien – von einer geopolitischen Union zu überzeugen, argumentiert der Experte.

Die neuaufgelegte Studie liefert in 11 Kapiteln mit 22 statistischen Tafeln und 22 Karten ein umfassendes Bild über die Rumänen außerhalb der Landesgrenzen und stellt damit eine wertvolle Basis für wissenschaftliche Studien zum Thema dar.