„Die Rumänen suchen noch immer nach einer Führerfigur“

Ein Gespräch über die Entwicklung der rumänischen Zivilgesellschaft mit der Europaforscherin Dr. Roxana Stoenescu

Dr. Roxana Stoenescu promovierte mit der Arbeit „Arbeit und Existenz. Eine Metaphysik der modernen Gesellschaft am Beispiel Rumänien“ an der Fakultät für Geschichte und Philosophie der Babeș-Bolyai-Universität.

Dr. Roxana Stoenescu ist Dozentin am Departement für Internationale Beziehungen und Deutsche Studien der Babeș-Bolyai-Universität in Klausenburg/Cluj-Napoca. Am 15. Mai wird sie bei den „Hermannstädter Gesprächen“ des Demokratischen Forums der Deutschen in Hermannstadt zusammen mit dem Umweltschützer und politischen Aktivisten Hans Hedrich, Ciprian Ciocan von der Bürgerstiftung „Fundația Comunitară Sibiu“ und Karoline Gil vom Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart zum Thema „Die Zivilgesellschaft als Gefahr für die korrupte politische Klasse“ diskutieren. Mit ADZ-Redakteur Michael Mundt sprach Frau Stoenescu über die Entwicklung der Zivilgesellschaft in Rumänien.

 

Frau Stoenescu, wie würden Sie die rumänische Zivilgesellschaft des Jahres 2018 beschreiben?

Sie steht erst am Anfang ihrer Entwicklung und erst jetzt hat sich auch ihr Bild davon verändert, was beispielsweise Demons-tration oder Protest bedeutet. Bisher stand Zivilgesellschaft immer im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung, wie den Mineriaden. Dadurch, dass Rumänien das einzige Land war, in dem es eine blutige Revolution gab, wurde Zivilgesellschaft immer mit Gewalt und Repression verbunden. Erst jetzt beginnen die friedlichen Aktionen der noch schwachen Zivilgesellschaft, die sich bisher kaum vernetzend organisiert hat.


Sie sagen, die Zivilgesellschaft steht erst am Anfang. Wann entstand denn Zivilgesellschaft?

Der Anfang ist die Bürgergesellschaft, von der auch Jürgen Habermas immer gesprochen hat, die sich im 19. Jahrhundert in den westlichen Ländern entwickelte, mit dem Aufkommen des Bürgertums. Es ist immer eine Bewegung der Mittelschicht gewesen, und nicht der Arbeiter. Daher verorte ich ihre Anfänge dort und daher sind die osteuropäischen Staaten auch 100 bis 200 Jahre im Verzug. Die Bürgergesellschaft ist in den westlichen Ländern mit der Industrialisierung in Zusammenhang zu bringen, was dann wiederum auch viel mit dem Auftauchen des Liberalismus zu tun hat sowie auch den klassischen Parteien, dem Sozialismus und Kommunismus, aber im marxistischen Sinne. Dies alles fand in Rumänien nicht statt, daher könnte man den Begriff Zivilgesellschaft, die aus der Arbeiterbewegung heraus gewachsen ist, mehr oder weniger erst im Kommunismus verwenden. Doch auch diese Zivilgesellschaft hat sich in Rumänien nicht wie in Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarn entwickelt, wo die Arbeiterbewegung von der Elite gesteuert und sich mit ihr zusammengetan hat, um gegenüber der sowjetischen Besatzung und dem Regime Rechte einzufordern. Anders als in Rumänien gab es in diesen Staaten schon vor 1989 eine teilweise Liberalisierung.


Warum war dies in Rumänien nicht möglich?

In Rumänien war es nicht möglich, weil es hier einen nationalen Kommunismus oder Sozialismus gab – wie die Austeritätspolitik von Ceaușescu das bewiesen hat. Rumänien ist seinen eigenen politischen Weg gegangen und war einer der wenigen Ostblockstaaten, gegen die die Sowjetunion militärisch nicht vorgegangen ist. Es war kein von der sowjetischen Armee besetztes Land, wie es im Fall der anderen Satellitenstaaten vorgekommen ist. Es war keine „fremde“ Macht, gegen die man sich wehren musste, sondern die „eigene repressive Macht“ und „eigene nationale kommunistische Partei“ und nicht die Sowjetunion. Dadurch waren der Widerstand und die Oppositionsbewegung auch nicht so massiv wie in anderen Ländern, denn der Kommunismus war zugleich auch die Blütezeit des rumänischen Nationalismus, mit ihm konnten sich die Menschen identifizieren und tolerierten ihn deshalb. Der rumänische Kommunismus benutzte politische Mythen mit identitätsstiftender Funktion, wie die dako-romanische Kontinuitätstheorie, um die Rumänen als eine Nation hervorzuheben – als Christen Europas zu beschreiben, die schon „ewig an den Toren Europas gegen die Barbaren des Orients“ gekämpft haben. Es war das erste Mal, dass sich ein Nationalstolz entwickeln konnte.

Andererseits wurden die Minderheitenstrukturen zerschlagen, ganz bewusst. Beispielsweise wurden nach der schulischen oder beruflichen Ausbildung die Menschen in andere Städte zur Arbeit geschickt. Moldauer kamen nach Kronstadt und Ungarn aus dem Szeklerland mussten in die Moldau oder in den Süden. Das sollte gemeinschaftliche Gruppierungen, wie sie bei den Minderheiten auftauchen, verhindern oder zersetzen; so konnte sich kein wirkliches Gemeinschaftsgefühl unter ihnen entwickeln, auch nicht unter den Rumänen.
Dadurch entwickelte sich bei den Rumänen zwar ein Nationalgefühl, aber kein Gemeinschaftsgefühl. Man wollte/sollte sich als eine alte Nation verstehen, durch die kommunistische Partei und die Securitate wurde aber nur Misstrauen und Feindseligkeit in der Bevölkerung gesät, wodurch oppositionelle Zusammenschlüsse verhindert wurden.


Wie hat sich die Zivilgesellschaft nach 1989 entwickelt?

Langsam. Es lässt sich sagen, dass die Studentenrevolten gezeigt haben, dass es auch unter Ion Iliescu keine Demokratie gab. Die Zivilgesellschaft hat sich nur in sehr geringem Maße entwickelt bis zum NATO-Beitritt 2004, beziehungsweise dem EU-Beitritt 2007. Zuvor hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Rumänien immer wieder für Verfassungsartikel kritisiert, die das Recht der freien Meinungsäußerung massiv einschränkten und Angestellte und Journalisten, die öffentlich Kritik äußerten, mit Gefängnisstrafen bedrohten, was die Bevölkerung wiederum einschüchterte. Darüber hinaus ist die Securitate fast vollständig vom SRI übernommen worden. Es gab keine Strukturänderung und die gleichen Leute waren immer noch im Geheimdienst, in politischen Parteien, in der Wirtschaft und in den Medien tätig.

Andererseits war die Zeit zu Beginn des Jahrzehnts eine sehr dramatische Zeit. Es gab keine wirkliche Befreiung, eine Demokratie war noch nicht vorhanden und die Menschen haben noch einmal eine ganz andere Armutsgrenze erlebt. Auch die massive Arbeitslosigkeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat den Kommunismus in der Erinnerung der Menschen weniger schlimm erscheinen lassen. Die nächste Generation konnte sich daher auch gar nicht mit der Elterngeneration auseinandersetzen. Generell ist mir aber aufgefallen, dass in den Familien wenig über die kommunistische Zeit gesprochen wird. Hannah Arendt hat gesagt, dass man Traumata aus totalen Herrschaften und Diktaturen nicht sehen kann und die Menschen sich der Kommunikationsblockaden durch die psychischen Leiden nicht bewusst sind. Erst jetzt zeigen sich die jungen Studenten am Kommunismus interessiert, auch weil er im Schulunterricht kaum behandelt wird. Man hat gesagt, dass für den politischen Umbau zu einem demokratischen politischen System sechs Monate notwendig sind, es sechs Jahre dauert, um die Wirtschaft von Planwirtschaft auf Marktwirtschaft umzustellen, und 60 Jahre für einen Mentalitätswandel notwendig sind.

Die erste große Bewegung waren dann die Proteste gegen das Goldbergbauprojekt in Roșia Montană, zu welchen sich viele Menschen ab 2002 zusammengetan und positioniert haben. Außerdem haben die Menschen gemerkt, dass sie auf die Straße gehen können, um friedlich zu protestieren und ihre Meinung kundzutun.


Was geschah nach den „Rettet Roșia Montană“-Protesten, die 2013 ihren Höhepunkt erreichten?

„Roșia Montană“ war ein Kollektivereignis für die heutigen zivilgesellschaftlichen Kampagnen und Organisationen. Durch den Staatsstreich im Sommer 2012 kam es auch zu einer politischen Krise, dann kam die Wahl von Klaus Johannis, bei der sich das erste Mal auch die Diaspora eingesetzt hat. Ein besonderes Ereignis war nochmal der Brand im Club „Colectiv“. Das war ein politisches und administratives Desaster und eine menschliche Katastrophe, bei welcher offensichtlich wurde, welche schwachen und defizitären Strukturen Rumänien immer noch hat. Auch der politische Umgang mit der Tragödie sowie die Erklärung der orthodoxen Kirche, dass die Leute in die Kirche hätten gehen sollen, anstatt zu einem Rockkonzert, hat die Gesellschaft gespalten und verärgert. Ab diesem Moment hat sich die demokratische, friedliche Zivilgesellschaft entwickelt, die wir heute erleben und die jetzt auch tatsächlich beginnt, sich konstruktiv zu organisieren und zu vernetzen, was wiederum die Vă-Vedem-Proteste gezeigt haben.


Mit Blick auf andere europäische Staaten, ist es etwas Besonderes, dass die großen Proteste der letzten Jahre friedlich verlaufen sind?

Ich glaube von der rumänischen Gesellschaft her waren die Proteste immer friedlich, anderseits kann sich die Regierung heute auch keine gewalttätigen Auseinandersetzungen mehr erlauben. Gewaltsame Proteste wie die Mineriaden sind heute nicht mehr denkbar, was auch auf die Medien zurückgeht, die Ereignisse dokumentieren, auf die Europäische Union und auch auf Klaus Johannis.


Warum sollten Proteste wegen Klaus Johannis nicht mehr gewaltsam aufgelöst werden können?

Er ist ein Garant dafür, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geachtet werden. Es würden sich die Europäische Union, der Europarat oder der Europäische Gerichtshof einschalten. Eher versucht, die Regierung die Demonstranten durch Negativwerbung zu diskreditieren oder durch Manöver wie die Ankündigung eines Weihnachtsmarktes auf der Piața Victoriei in Bukarest, dem Platz der Demonstranten, zu unterminieren. Dadurch, dass die Strukturen immer noch sehr schwach ausgeprägt sind, sind die Menschen immer noch leicht durch die großen Medienunternehmen, die meist einer bestimmten politischen Couleur angehören, beeinflussbar.

Andererseits suchen die Rumänen noch immer nach einer Führerfigur. Ich glaube sie verstehen auch nicht, dass Klaus Johannis nur eine repräsentative Funktion hat. Sie projizieren das, was sie mit dem Ceaușescu-Bild verbunden haben, auf eine neue Person. Viele Menschen sind noch immer (politisch) total desorientiert, was verständlich ist, denn lange Zeit hat der Staat alles vorgegeben und nun sollen oder müssen sie selbst Initiative ergreifen.