„Diese Orte sind nicht nur schön, sondern haben auch etwas zu erzählen“

ADZ-Gespräch mit Paula Schneider, Stadtschreiberin von Kronstadt

Paula Schneider in ihrer Kronstädter Wohnung
Foto: Robby Dannenberg

„Besonders viel Platz aber hat der Himmel genau hier: im Rendezvousgebiet von Süd- und Ostkarpaten, in Siebenbürgen, dem Burzenland, in Kronstadt. Auf eine einzelne, vergessene Industrieschornstein-Nadel kann er sich stützen, auf gemäßigt hohe Häuser. Auf den Berg Zinne mit Braşovs Namensbuchstaben, auf Burgberge, den Skilift-besetzten Schuler oder eine ganze Kette Zweitausender, Zweieinhalbtausender dahinter. Sonst ist dieser Himmel frei. Schüttelt einen seltenen Hubschrauber ab wie eine lästige Hummel. Und ist nicht, wie anderswo, umkreist, umschnürt, zerkratzt von Luftverkehr“. Der Himmel über Kronstadt ist frei, Häuser haben „Platzwundenlidschatten um stockfeuchte Augen“ und erzählen Geschichten – seit Anfang Mai hält die deutsche Autorin Paula Schneider ihre Eindrücke über die Stadt unter der Zinne in Wort und Bild fest, in einem Online-Tagebuch. Es sind die vielen Details, die ihren Blog so lesenswert machen. Details, die den Bewohnern der Stadt in der täglichen Hektik entgehen, obwohl sie schon tausendmal an ihnen vorbeigelaufen sind. Bis Oktober ist Schneider (Jahrgang 1976) Stadtschreiberin von Kronstadt. Eine vom Deutschen Kulturforum östliches Europa berufene Jury entschied sich im Januar für die bereits mehrfach ausgezeichnete Autorin.

Eine Stadtschreiberin zu haben, ist für Kronstadt eine einmalige Gelegenheit. Als Wanderstipendium konzipiert, findet das Stadtschreiber-Projekt jedes Jahr in einer anderen Ortschaft statt – üblicherweise nur in europäischen Kulturhauptstädten. Doch anlässlich des Reformationsjubiläums, das in diesem Jahr gefeiert wird, und der Tatsache, dass sich die Reformation im südosteuropäischen Raum von Kronstadt aus verbreitet hat, entschieden sich die Veranstalter für die Stadt unter der Zinne.
Die Aufgabe von Paula Schneider ist es, sich in ihrem Blog mit dem historischen Kulturerbe Kronstadts und der Region literarisch auseinanderzusetzen, über spannende Begegnungen und Erlebnisse zu berichten, Sehenswertes zu zeigen und Kontakte zu knüpfen. Nun nähert sich der Aufenthalt der Stadtschreiberin seinem Ende. ADZ-Redakteurin Elise Wilk führte ein Gespräch mit Paula Schneider, an einem der Lieblingsplätze der Schriftstellerin – auf der Promenade unter der Zinne.

Frau Schneider, Sie haben vor ein paar Jahren anlässlich einer Reise nach Sankt Georgen/Sf. Gheorghe, nur 30 Kilometer von Kronstadt entfernt, einen kleinen Teil von Rumänien entdeckt. Danach wollten Sie zurückkommen. Weshalb haben Sie sich gewünscht, Stadtschreiberin von Kronstadt zu werden?

2012 habe ich die internationale Theaterbiennale „Reflex“ in Sankt Georgen besucht, um für eine deutsche Theaterzeitschrift darüber zu berichten. Ich habe viel notiert und fotografiert, auch über das Festival hinaus, und habe angefangen, mich für die Region zu interessieren, mir ihrer Multikulturalität bewusst zu werden. Irgendetwas hat diese Gegend in mir bewirkt. Zuvor wusste ich fast nichts darüber. Dann aber wurden mir lauter Verbindungen bewusst. Mein Großonkel ist im Zweiten Weltkrieg im Banat gefallen, zum Beispiel, ein Nachbar stammt aus Bessarabien, andere kommen zum Arbeiten aus Siebenbürgen. Ich war davor in Polen und Russland, und zu der Zeit hat sich neben den aktuellen und historischen Bezügen mein Interesse für die deutschen Minderheiten, die in der Welt verstreut sind, ausgeweitet.

Etwa während der Recherchen für meine beiden Radiofeatures „Totleben – eine russische Insel, die es nicht gibt“ und „Dewotschka und toter Mann“, beide gesendet vom Deutschlandfunk. Es geht darin unter anderem um die Sippe Totleben, die mehrere abenteuerlich umtriebige, in vielen Regionen Europas tätig gewesene historische Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Totleben ist, dadurch ausgelöst, beispielsweise auch der Name einer Insel in der Nähe von Sankt Petersburg und auch der Name einer Ortschaft in Bulgarien. Die Themen meiner Features berühren sich oft. Diese Themen haben Kreise um Kronstadt gezogen, die immer enger wurden. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa schreibt das Stadtschreiber-Stipendium jedes Jahr aus. Ich hatte mich auch im Vorjahr für Breslau in Polen beworben, aber in die diesjährige Bewerbung habe ich mehr Leidenschaft gesteckt. Bei Breslau gab es nicht diese Kreise, diese Berührungen, von denen ich früher sprach. Ich habe die Jury wohl damit überzeugt.

Mit welchen Erwartungen sind Sie Anfang Mai nach Rumänien gekommen?

Ich bedauere es, dass das Stipendium bald zu Ende ist. Ich hatte erwartet, viel mehr zu schaffen, Hermannstadt und Temeswar zu besuchen. Ein Thema, worüber ich gerne recherchieren würde, sind Heime wie das Kindernest-Zentrum in Rothbach, ein Kinderheim, das von Deutschen eröffnet wurde. Ich habe es noch nicht geschafft, es zu besuchen. Ich muss wiederkommen. Andere Städte sind sicher auch inspirierend, aber ich habe mir gedacht: Ich bin Stadtschreiberin von Kronstadt, ich konzentriere mich mehr auf diese Stadt. Mein Ziel war, Kronstadt zu entdecken. Was früher nur eine ab-strakte Information war, konnte ich jetzt wirklich sehen und hören. Ich wollte wissen, wer hier wer ist, wie die Kommunikation zwischen verschiedenen Institutionen läuft. Leider habe ich es nicht geschafft, Rumänisch zu lernen, um mich mit mehr Leuten unterhalten zu können. Ich habe aber festgestellt, dass junge Leute hier sehr gute Fremdsprachenkenntnisse haben – viele haben Deutsch in der Schule gelernt.

Was ist Ihnen am Anfang besonders aufgefallen?

Die besondere Lage der Stadt, umarmt vom Gebirge. Die deutsche Minderheit ist ein wenig isoliert. Der Austausch zwischen den Kulturinstitutionen ist nicht gerade optimal. Die Zusammenarbeit könnte besser sein, finde ich. Zum Beispiel hätte ich einen etwas besseren Austausch mit den Studenten der Germanistik-Abteilung der Transilvania-Uni erwartet, aber dort wusste man zunächst gar nicht, dass ich kommen werde. Auch die Abstimmung der Events könnte besser laufen. Ich hatte am Anfang meines Aufenthaltes eine Lesung im Deutschen Forum und zur selben Zeit fand eine andere Veranstaltung statt. Es wurde nicht so viel vernetzt, wie es vielleicht optimal wäre.

Sie beschäftigen sich viel mit dem Feature, einer Gattung, die leider in Rumänien noch nicht sehr verbreitet ist. Haben Sie hier guten Stoff für ihre Recherchen gefunden?

Ja, auf jeden Fall. Ein Thema, das mich interessiert, ist die junge Vergangenheit und der Umgang mit der Zeit des Kommunismus. Ich hatte beispielsweise überhaupt nichts vom Kronstädter Arbeiteraufstand von 1987 gewusst. Jetzt hat das Geschichtsmuseum einen Dokumentarfilm über diesen Aufstand mitproduziert, der mich sehr interessieren würde. Ich bin in der DDR geboren und kann sagen, dass es viele Ähnlichkeiten, aber auch viele Unterschiede zu Rumänien gibt.
Im Sozialismus aufzuwachsen, kenne ich selbst. Mit allem, was dazugehörte, Krippe, Pionierappell, bescheidenes Warenangebot. Ich habe erlebt, wie in den 80er Jahren lustlos Fahnen getragen wurden für alte, realitätsferne Männer auf Tribünen. Später Verstrickungs-Diskussionen, Unsicherheiten auf verschiedenen Alltagsebenen. Trotz allem oder eben drum habe ich bis heute aus dem Bauch heraus eine tiefe Verbundenheit zu Osteuropa, zu seiner Geschichte, den grauen Fassaden und Brüchen.

Doch bei allen Parallelen gab es in der DDR wohl eine Art vernünftigen Kuschelsozialismus im Vergleich zum rumänischen Regiment. Woher rühren diese Unterschiede? Wie kam es, dass der Umbruch in der DDR gewaltlos und irgendwie ordentlich ablief, und der in Rumänien verworren und blutig? (Und unbeendet freilich auch.) Für einige Fragen habe ich inzwischen Antworten, wenigstens teilweise. Manches bleibt aber unscharf und schwierig.
In Deutschland ist die Vergangenheitsbewältigung ein großes Thema. Es gibt Stasi-Museen, DDR-Museen... Hier in Rumänien, finde ich, wurde wenig bewältigt. Es gibt ja noch die Schusslöcher in den Gebäuden im Zentrum Kronstadts – diese Schusslöcher erzählen Geschichten, und auch die Touristen könnten mehr darüber erfahren. Man könnte auch eine Tour für die Touristen anbieten, in denen man ihnen von der Zeit vor 1989 erzählt.

Ein Kronstädter Lokalrat des DFDR hatte vor, ein Kommunismus-Museum in den Katakomben entlang der Graft einzurichten.

Das wäre sicher eine gute Idee. Ich habe den Eindruck, hier wurde vieles noch nicht genügend aufgearbeitet.
In Rumänien wurden Mitte der 2000er Jahre viele international preisgekrönte Filme gedreht, die den Kommunismus und die Revolution von 1989 thematisierten. In der Zeit sagten viele Leute, sie hätten es satt, Filme über die Revolution zu sehen. Sie wollen nicht mehr daran erinnert werden.
Da wir zum Thema „Film“ kommen, muss ich sagen, dass ich von einem Aspekt sehr positiv überrascht war. In einer Stadt, wo es wohl keine staatlichen Kinosäle mehr gibt, erlebte ich während des Sommers Freiluftkino von mindestens fünf Veranstaltern. Bei verschiedenen Festivals zum Beispiel, und die Filmkarawanen TIFF, NexTund Metropolis. Man konnte Filme unter freiem Himmel sehen, mit freiem Eintritt, das hat beeindruckend funktioniert. Die Geschichte des Kinos in Kronstadt interessiert mich auch. Ich habe erfahren, dass Egon Makkay, der Großvater des gebürtigen Siebenbürgers, inzwischen deutschen Sängers und Kronstädter Ehrenbürgers Peter Maffay, der erste war, der in Kronstadt zwei Kinos aufmachte, zu einer Zeit, in der sie noch Lichtspielhäuser hießen. Auch darüber will ich berichten.

Sie versuchen immer, die Realität zu beobachten und dann auf eine literarische Ebene zu übertragen. In Ihren Geschichten inspirieren Sie sich immer von wahren Begebenheiten. Wie in „Bleib bei mir, denn es will Abend werden“, wo Sie sich von der Liebesgeschichte Ihrer Großeltern inspirieren ließen. Haben Sie auch in Kronstadt ein Thema gefunden, aus dem eine zukünftige Geschichte werden könnte?

Genau, ich habe auch ein Prosa-Projekt, das mit Kronstadt zu tun hat. Und zwar will ich über Leute schreiben, die in diese Stadt kommen und sich entschließen, hier zu leben – aus verschiedenen Gründen.

Sie waren auch viel in der Region unterwegs. Was hat Ihnen besonders gut gefallen?

Extrem beeindruckt war ich von der Tartlauer Kirchenburg, ich fand es unglaublich, dass in der Festung über 200 Notwohnräume eingerichtet wurden, und es war faszinierend, dort herumzulaufen. Ich habe viel fotografiert. Auch Deutsch-Weißkirch ist ein bezauberndes Dorf. Und die Burg ist wie ein Schatzkästchen. Es gibt viele märchenhafte Dörfer mit liebevollen Details an den Fassaden der siebenbürgisch-sächsischen Häuser, wo Gänse durch die Straßen laufen.

Welchen Eindruck hat Ihnen das Kulturleben in Kronstadt hinterlassen?

Das Kulturleben ist für mich eine Überraschung – Alt und Neu koexistieren hier und sind miteinander verbunden. Da gibt es die ganz traditionellen Sachen, wie Volkstänze auf dem Marktplatz, und dann gibt es ganz jugendliche und urbane Veranstaltungen wie Amural oder das Street-Food Festival.

Inspiriert Sie Kronstadt?

Ja, die Stadt ist inspirierend, und zwar in viel mehr verschiedenen Richtungen, als ich zuvor gedacht habe. Neben dem historischen Zentrum gibt es ja auch die anderen Stadtviertel mit Plattenbauten, auf dem Weg vom Zentrum zum Bahnhof oder Richtung Bukarest. Zu schade, dass es hier in den ehemaligen Industriegeländen keine Galerie und keinen Underground-Club gibt. Das fehlt der Stadt noch.

Welches sind ihre Lieblingsplätze in Kronstadt?

Die Zinne mit ihrer Promenade und der Seilbahn, die hinaufführt, die Mauerreste der historischen Burg, die Hollywood-Schrift „BRASOV“ mit den riesigen Buchstaben. Mir gefällt die Gegend um die Salomonsfelsen, mit den vielen Grillplätzen, es ist ein unglaublich schöner Ort. Ich mag Orte mit Ausblick, wie die Zitadelle. Meistens sind diese Orte nicht nur schön, sondern haben auch etwas zu erzählen, und diese Kombination mag ich am meisten.

Unsere Leser werden sich sicher fragen: Wie sieht der Alltag eines Stadtschreibers aus?

Es gibt Tage, wo ich gar nicht aus dem Haus gehe, außer dass ich meine Tochter in den Kindergarten führe. Diese Tage sind mir auch sehr wichtig, ich brauche solche konzentrierten Schreibtischtage als Schriftstellerin. Es gibt auch Tage, an denen ich verschiedene Termine habe und mich mit Leuten treffe, Veranstaltungen besuche. Dann gibt es Tage, an denen ich viel spazieren gehe – sehen und beobachten sind ein wichtiger Teil meiner Recherche. Ich fotografiere viel. Besonderes Interesse gilt immer dem, was mir die Wände und Mauern erzählen. Ich halte vieles in Fotos und Tonaufnahmen fest, auch damit ich es nicht vergesse. Ich habe vor, ein Buch mit Fotografien und Bildtexten über Kronstadt zu veröffentlichen.

Gibt es auch negative Aspekte in der Stadt, die Ihnen während Ihres Aufenthalts aufgefallen sind?

Kronstadt ist wunderschön, nur funktioniert es mit dem Tourismus nicht so, wie es könnte. Zum Beispiel ist es schade, dass der weiße und der schwarze Turm, das Olympia-Restaurant, Sportanlagen wie der alte Tennisstadion und die Schlossberg-Zitadelle geschlossen sind. Vieles wartet noch auf richtige Nutzung und wird also auch nicht genug beworben.

Welche besondere Entdeckung haben Sie in Kronstadt gemacht?

Zum Beispiel die Freiluftkino-Karawanen, die immer offenen Dachlukenfenster oder diese komischen Schmelzkäserollen, die wie Würste aussehen.

Frau Schneider, wir danken für das Gespräch!


Der Blog, in dem Paula Schneider ihre Eindrücke aus Kronstadt schildert, ist unter folgender Adresse abrufbar:  http://stadtschreiberin-kronstadt.blogspot.ro
Am Freitag, dem 29. September, um 19.30 Uhr können die Kronstädter die Stadtschreiberin im Café „Tipografia“ (Ecke Kühmarkt/Str. Diaconu Coresi mit der Spitalsgasse/Str. Postăvarului) treffen. Petra Antonia Binder und Robert Elekes lesen aus ihren Texten vor.
Am Montag, dem 2. Oktober, findet um 12 Uhr in der Aula des Honterus-Lyzeums die Abschlussveranstaltung des Stadtschreiber-Projektes statt.
Paula Schneiders Buch „Bleib bei mir, denn es will Abend werden“ ist in der Aldus-Buchhandlung in Kronstadt erhältlich.