Diversität – Verantwortung und Reichtum zugleich

Ein Gespräch mit Dr. Günther Rautz, Koordinator des Instituts für Minderheitenrecht an der Europäischen Akademie Bozen (EURAC)

Günther Rautz bei der Vorstellung des Minderheiten-ABC.
Foto: privat

Multikulturalität ist mehr als ein Modebegriff, wenn man die Vielfalt Europas näher betrachtet, doch gerade in sogenannten „Minderheitengebieten“, in denen mehrere Völker zu Hause sind, ist auch das Konfliktpotenzial bedeutend höher. Dr. Günther Rautz, Jahrgang 1968, setzt sich intensiv mit der vielschichtigen Thematik rundum Minderheitenschutz, Menschenrechte und Medien auseinander. Er ist Absolvent der juristischen Fakultät der Universität Graz sowie des dortigen medienkundlichen Lehrgangs, hat Forschungsprojekte an den Universitäten in Bari und Rom durchgeführt und arbeitet zurzeit als Minderheitenexperte und Koordinator des Instituts für Minderheitenrecht an der Europäischen Akademie (EURAC, www.eurac.edu) in Bozen/Bolzano, Italien. Als Minderheiten-Berater ist er weltweit unterwegs, als Gastdozent unter anderem an der Westuniversität in Temeswar/Timişoara tätig. Ende der neunziger Jahre wirkte er außerdem an der Gründung der Europäischen Vereinigung von Tageszeitungen in Minderheiten- und Regionalsprachen (MIDAS, www.midas-press.org) mit, die er seither ununterbrochen als Generalsekretär koordiniert. Die „Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien“ (ADZ) ist Mitglied dieser Vereinigung. 2010 veröffentlichte Dr. Günther Rautz gemeinsam mit Gabriel N. Toggenburg von der EU-Grundrechteagentur in Wien das Lexikon „ABC des Minderheitenschutzes in Europa“ (Böhlau Verlag, Wien). Über europäische Minderheiten, ihre Probleme und ihre Erfolge sprach mit Dr. Günther Rautz ADZ-Redakteurin Christine Chiriac.

Herr Dr. Rautz, wie kamen Sie eigentlich zum Thema Minderheiten?

Ich komme aus Kärnten, aus dem Gebiet, wo die Kärntner Slowenen wohnen, und bin insofern zweisprachig aufgewachsen, weil meine Urgroßeltern noch Slowenisch gesprochen haben. Im Laufe der Zeit wurde in der Familie zunehmend Deutsch gesprochen, aber die Volksschulklasse, die ich besucht habe, war zweisprachig. Ich bin in die Zeit geboren, in der in Kärnten der „Ortstafelsturm“ stattfand. 1972 wurden von der österreichischen Bevölkerung die zweisprachigen Ortstafeln beseitigt, umgekehrt von slowenischer Seite die Schulen beschmiert. Die Situation habe ich als Kind nicht dramatisch miterlebt, aber zur Kenntnis genommen. Dann hatte ich eine Zeit lang keinen Bezug zu der Minderheitenthematik mehr, aber über mein Jurastudium und meine Diplomarbeit zu den Grundrechten in Verfassungsbestimmungen bin ich wieder zum Bereich Menschenrechte und Minderheitenschutz gekommen. Es war ein Umweg und ein Kreis, der sich geschlossen hat.

Inwiefern hat sich die Situation in Kärnten gewandelt?

Erst nach sehr langem Hin und Her gibt es heute eine Lösung zu den Ortstafeln: seit 1972 hat es keine vollständige Umsetzung der gesetzlichen Grundlagen gegeben, und ab 2001 hat das Verfassungsgericht mehrere Urteile ausgesprochen, die dann eben erst 2011 umgesetzt wurden. Seit zwei Jahren gibt es also einen Ortstafel-Kompromiss, mit dem alle ein wenig unzufrieden sind –  was wohl heißt, dass es ein guter Kompromiss ist. Alle können damit leben und die Lage hat sich beruhigt.

Sie koordinieren seit 2001 das EURAC-Institut für Minderheitenrecht. Welches sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?

Die EURAC wurde 1992 gegründet und beschäftigt sich hauptsächlich mit Südtiroler Themen, zum Beispiel mit der Mehrsprachigkeit, der alpinen Umwelt, der Situation der Minderheiten, Fragen zur Autonomie und zum Föderalismus. Insofern ist unser Ausgangspunkt sowohl in der Forschung, als auch in der Politikberatung meistens Südtirol. Wir ergründen die Frage, was bei uns besser oder weniger gut funktioniert als in anderen Minderheitengebieten und ob einzelne Instrumente des Südtiroler Autonomiemodells übertragbar sind. Nehmen wir als Beispiel den ethnischen Proporz, den wir hier in Südtirol haben, und der beispielsweise die Ressourcenverteilung und die Gleichberechtigung bei der Stellenvergabe von öffentlichen Ämtern zwischen der deutsch-, der ladinisch- und der italienischsprachigen Bevölkerung sicherstellt. Dieses Instrument könnte auch in anderen Minderheitengebieten angewandt werden – vor allem wenn es darum geht, eine Konfliktsituation zu lösen. So gibt es einige weitere Instrumente in der Südtiroler Autonomie, die übertragbar sind, aber nie das ganze Modell. Die Forschung betreiben wir inzwischen weltweit: wir haben Projekte in Südasien, Mittelosteuropa oder Südamerika.  

Von welchen Modellen könnte Südtirol noch lernen?

Es gibt andere Autonomiemodelle in Europa, die etwas weitergehend sind. Man könnte das Beispiel der Aland-Inseln nehmen, die als Minderheitengebiet vollkommene Einsprachigkeit genießen. Der Inselarchipel befindet sich zwischen Schweden und Finnland, wird von etwa 25.000 Aländer Finnlandschweden bewohnt und gehört zu Finnland, wobei nur das Schwedische als Amtssprache und als Unterrichtssprache gilt. So weit wollen wir in Südtirol natürlich nicht gehen, weil hier ein Drittel der Bevölkerung italienisch und fünf Prozent ladinisch ist. Vom Aländer Modell könnte man aber einzelne Aspekte übernehmen, beispielsweise die regionale Steuerkompetenz. Für Südtirol liegt sie noch in Rom, aber es wird diskutiert, ob das Gebiet nicht eine eigene Steuerhoheit und damit mehr Autonomie bekommen könnte. Ein weiteres Beispiel ist die Polizei, die in Südtirol die staatliche italienische ist – im Baskenland aber gibt es eine eigene Polizei.

Die Ladiner sind eine sehr kleine Bevölkerungsgruppe in Südtirol und somit eine Minderheit in der Minderheit – welches ist ihre Situation?

Durch das Gruber-de-Gasperi-Abkommen, dem bilateralen Vertrag zwischen Österreich und Italien, der als Grundlage für das ganze Autonomiemodell und den Minderheitenschutz in Südtirol dient, wurden die Ladiner seit 1946 immer gleich behandelt wie die deutschsprachige Bevölkerung. Insofern sind die Ladiner den Deutschsprachigen gleichgestellt und haben dieselben Rechte. Verbesserungspotenzial gibt es im Schulsystem: 50 Prozent des Unterrichts verlaufen derzeit auf Italienisch, 50 Prozent auf Deutsch, und nur im Kindergarten und in den ersten Schuljahren wird noch Ladinisch gesprochen. Je höher die Schulstufe, desto weniger wird Ladinisch unterrichtet. Trotzdem zeigen die Umfragen in den ladinischen Tälern, dass die Menschen mit dem Schulsystem recht zufrieden sind.

Wie kam es zur Gründung der MIDAS vor zwölf Jahren und was konnte seither erreicht werden?

Die ersten Treffen zur Vorbereitung der Gründung hat es schon vor fünfzehn Jahren gegeben, und zwar auf Initiative von Bojan Brezigar, dem damaligen Chefredakteur der slowenischen Tageszeitung in Trieste, „Primorski Dnevnik“. Er war gleichzeitig Präsident einer Lobbying-Organisation der Minderheiten in Brüssel, und hat die Notwendigkeit einer Verbindung von Minderheitenzeitungen und Minderheitenorganisation verstanden.

Die Hauptaktivität bei MIDAS war am Anfang der Austausch von Informationen zwischen den Chefredakteuren: Man hat die Situation des jeweils anderen kennengelernt, sowohl was die Zeitung, die redaktionelle Arbeit, den Druck, den Vertrieb angeht, als auch die Lage der Minderheiten selbst. Spätestens seit der Gründung gibt es einen recht regen Austausch, sodass beispiels-weise in den „Dolomiten“, der deutschsprachigen Zeitung hier in Südtirol, auch über Katalonien und das Baskenland berichtet wird, oder dass in der baskischen Tageszeitung „Berria“ zurzeit eine Serie über Zeitungen und Minderheiten erscheint und man unter anderem einen Artikel über die Schweden in Finnland und deren Publikation „Vasabladet“ lesen kann. Dieser Informationswechsel in Form von Artikeln und Kontakten zwischen Journalisten und Chefredakteuren ist eine sehr wichtige Grundlage unserer Tätigkeit.

Der zweite sehr wichtige Punkt ist der gemeinsame Auftritt mit einer Stimme. Die Situation der Minderheitenzeitungen ist im Grunde sehr ähnlich: Meistens stellt sich die Frage der Finanzierung, ob man öffentliche Mittel zur Förderung einer Zeitung bekommt oder nicht, ob das Annoncengeschäft funktioniert, inwieweit auf europäischer Ebene gemeinsame Ziele erreicht werden können. Zwar kommuniziert die Europäische Union mit den einzelnen Bürgern über die Medien, aber dabei werden die Minderheitenzeitungen oft ausgelassen, weil sie zu klein sind. Wir versuchen mit gebündelten Kräften die EU zu überzeugen, dass lokale und regionale Zeitungen eine wesentliche Rolle spielen, wenn es darum geht, die Informationen wirklich zu allen Bürgern zu tragen. Da sind wir recht aktiv in Brüssel und in Straßburg.

Vor Kurzem wurde der Auftakt für die Bürgerinitiative „Eine Million Unterschriften für die Minderheiten in Europa“ gegeben, bei der es um ein Plädoyer für die Vielfalt und die Verbesserung des Minderheitenschutzes geht. Ist MIDAS beteiligt?

Ja, wir arbeiten mit der Föderalen Union Europäischer Volksgruppen eng zusammen und machen über die MIDAS-Zeitungen Werbung für diese Initiative, damit sie von möglichst vielen Menschen unterzeichnet wird. Ein Punkt ist auch die Unterstützung von Minderheitenmedien – MIDAS hat Lobbying betrieben, damit dieses Thema in den Text der Initiative aufgenommen wird.  

Gibt es gefährdete Minderheitenzeitungen, für die sich MIDAS konkret eingesetzt hat?

Das beste Beispiel ist der Fall der baskischen Tageszeitung „Euskaldunon Egunkaria“, die vor zehn Jahren von den spanischen Behörden geschlossen wurde, weil man vermutet hat, dass die Journalisten Kontakte zur ETA haben. Das konnte nie nachgewiesen werden, und trotzdem wurden zehn Journalisten eingesperrt. Der Fall hat fünf Jahre gedauert, und die MIDAS-Zeitungen haben europaweit berichtet, sodass es plötzlich kein spanisches Problem mehr war, sondern ein europäisches. Ein weiteres Beispiel für unsere Arbeit ist die finanzielle Unterstützung: MIDAS selbst ist noch nicht groß genug, um selber finanzieren zu können, dafür helfen wir aber kleinen Zeitungen, zu öffentlichen Mitteln zu gelangen. Wir haben recht erfolgreich der italienischen Tageszeitung in Kroatien „La voce del popolo“ geholfen, damit sie finanzielle Unterstützung auch aus Italien bekommt.

Schließlich helfen wir auch  mit technischer Beratung, wenn zum Beispiel eine Zeitung den Schritt ins Internet wagt, ihren Internet-Auftritt optimieren will oder sich überlegt, ein E-Paper einzurichten. Wir bemühen uns nicht nur auf redaktioneller Ebene um einen regen Journalisten-Austausch im Rahmen der Studienreisen, die wir regelmäßig in Minderheitengebieten organisieren, sondern es besteht auch die Möglichkeit, dass zum Beispiel ein Techniker von einer Minderheitenzeitung ein Praktikum bei einer großen Druckerei abschließt.  

Sie haben vor wenigen Jahren in Zusammenarbeit mit Gabriel N. Toggenburg das Lexikon „ABC des Minderheitenschutzes in Europa“ veröffentlicht. Füllt dieses Buch eine Lücke? Welche Ziele haben Sie sich damit gesetzt?

Das Buch haben wir aufgrund der jahrelangen Erfahrung geschrieben, die wir in der EURAC gesammelt haben. Dort sind wir neben der Forschung und der Politikberatung auch für Trainings zuständig, wir betreuen Masterstudierende und veranstalten Sommer- und Winterschulen. Dabei haben wir gemerkt, dass die Teilnehmer meistens sehr interdisziplinär sind – es gibt kaum Gruppen, deren Mitglieder „nur“ Juristen oder „nur“ Politikwissenschaftler sind. Das bringt sehr unterschiedliches Wissen über Minderheiten und ihre Gebiete, über deren Schutz auf nationaler und europäischer Ebene, über die zuständigen Organisationen mit sich. Wir haben gemerkt, das ein Nachschlagewerk, ein ABC fehlt, und haben dann angefangen, Schlagwörter zu suchen, um möglichst flächendeckend ein Buch zum Minderheitenschutz in Europa zu schreiben. Es war uns wichtig, dass es gut übersichtlich und einfach lesbar bleibt, und es freut uns zu bemerken, dass es sowohl bei unseren Studenten, als auch bei Journalisten, Politikern oder Vertretern von Organisationen recht gut ankommt.

Sie unterrichten seit fünf Jahren europäische Integration, Minderheitenschutz und Medien an der West-Universität Temeswar. Wie steht es bei den Studierenden um das Interesse für diese Themen?

Wir haben meistens 20 bis 25 Studenten pro Jahr, die großteils selber Minderheitenangehörige aus Rumänien sind – Deutsche, Ungarn, Serben – oder beispiels-weise aus Ex-Jugoslawien kommen. Die Gruppen sind recht vielfältig, und wenn man das Thema Minderheiten und europäische Integration anspricht, bekommt man sehr viel Feedback von den Studenten. Alle haben zumindest eine Meinung über Minderheiten – auch wenn es „nur“ eine negative Meinung zum Thema der Integration der Roma ist – oder kommen selbst aus einem Minderheitengebiet. Insofern sind die Gespräche oft sehr kontrovers und die Lehrveranstaltungen recht interessant für beide Seiten.

Dank Ihrer Arbeit für die EURAC und die MIDAS haben Sie einen guten Überblick über die Entwicklung der Minderheiten in Europa, vor allem seit der EU-Erweiterung 2004 und 2007. Sind die Minderheiten ein Gewinn für das vereinigte Europa oder eher eine Herausforderung?

Beides. Wenn man die vergangenen zwanzig Jahre des Minderheitenschutzes betrachtet, kann man auf jeden Fall sagen, dass das Pendel in die Richtung einer positiven Entwicklung ausgeschlagen hat – zumindest bis zur großen Erweiterung im Jahr 2004. Die Instrumente des Europarates haben sehr gut funktioniert, und für den Beitritt haben alle neuen Mitglieder beweisen müssen, dass sie die Kopenhagener Kriterien erfüllen, die sich eben auch auf den Minderheitenschutz beziehen. Deshalb hatte man bis ungefähr 2004 das Gefühl, dass für das Thema Minderheiten in Europa alle Türen offen gestanden haben. Seither allerdings schlägt das Pendel wieder zurück in die andere Richtung. Ein Grund dafür ist sicher die Tatsache, dass nach dem Beitritt zur EU nicht mehr so genau kontrolliert wird, ob und inwiefern die Minderheiten in den neuen Mitgliedsstaaten geschützt werden. Außerdem gibt es inzwischen in manchen mittelosteuropäischen Ländern Regierungen, die autoritäre Züge haben – und das spüren natürlich die Minderheiten.

Die Situation ist auch aus einem weiteren Grund verschärft, und zwar weil mit der Wirtschaftskrise auch Sozialkonflikte auftreten und dabei die Minderheiten die ersten sind, die sozusagen unter die Räder kommen. Die Situation ist also nicht ideal, aber ich glaube, dass sich die EU dessen bewusst ist und versucht, da anzusetzen, wenn nicht gerade noch akutere Themen wie Wirtschaft, Sicherheit, Arbeitslosigkeit auf der Agenda stehen. Jedenfalls ändern sich die Ansichten ganz allgemein: Der klassische Minderheitenschutz, wie wir ihn bis vor zehn Jahren gekannt haben, funktioniert zwar noch auf nationaler Ebene, aber auf europäischer Ebene wird das Thema Minderheiten immer mehr den Bereichen europäische Vielfalt, kulturelle Vielfalt, grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Regionalentwicklung untergeordnet. Das spricht dafür, dass Minderheiten zunehmend als Bereicherung wahrgenommen werden.

Herzlichen Dank für das Gespräch.