„Ein einziger Gedanke: Rumänien“

29 Jahre seit der Revolution

Die Schusslöcher am Sockel des Denkmals am Freiheitsplatz sind auch nach der Sanierung erhalten geblieben. Die Erinnerung an die Revolution soll lebendig bleiben. Foto: Tur der Arhitectură

Ich gehöre wahrscheinlich zu der letzten Generation von Kindern, die die Ereignisse vom Dezember 1989 noch wahrnehmen konnten. Mit viereinhalb Jahren konnten meine Kinderaugen und -ohren vieles sehen und hören – die meisten Bilder stehen mir immer noch lebendig vor den Augen.
Die emblematische Ansicht der Temeswarer Oper, die ewige Flamme an der Gedenkstätte am Heldenfriedhof, die offene Grube am Armenfriedhof an der Lippaer Straße, wo heimlich Märtyrer begraben wurden, oder die bis vor Kurzem noch stehende Barrikade an der Martirilor-Straße mit der Inschrift „Eroii nu mor niciodată“ / „Die Helden sterben nie“ – Sie alle gehören zu meinen eigenen Bildern der Revolution. Als Erinnerungen an all diese Ereignisse gibt es noch zahlreiche Tafeln an verschiedenen Gebäuden in der Innenstadt oder der Name der Straße aus dem Lippaer Stadtteil, wo ich bis zu meinem 20. Lebensjahr gelebt habe, der wenige Jahre nach der Revolution in „Luminița Boțoc“ geändert wurde. Ein Mädchen, das als Märtyrerin in den Tagen der Revolution gefallen ist… hieß es unter den Nachbarn. Dann hat man sich die Frage nach dem Namen wohl nicht mehr gestellt. Erst Jahre später war ich neugierig, den Namen im Internet zu suchen. So fand ich heraus: Boțoc Luminița Florina (16.04.1976 – 17.12.1989) – die Schülerin wurde 14 Jahre alt. Am 17. Dezember wurde sie an der Lippaer Straße von Offizieren der Temeswarer Militäreinheit UM 01942 mit einer Kugel in den Rücken erschossen. Ihre Leiche wurde erst am 15. Januar 1990 im Gemeinschaftsgrab auf dem Heldenfriedhof gefunden. Ähnlich wie Luminița in Temeswar sind in den Tagen der Revolution insgesamt 37 Kinder in der Bega-Stadt und rumänienweit ums Leben gekommen.

Man stellt sich immer noch die Frage: Was war denn im Dezember ´89 geschehen, war es eine Revolution, ein Staatsstreich oder einfach nur Regie? Wer hat auf die Menschen nach dem Fall von Nicolae Ceaușescu geschossen? Welches ist die wahre Zahl der Opfer der Revolution? Viele Fragen bleiben immer noch offen. Doch eines steht fest: Die Vorfälle, die zu den Ereignissen im Dezember 1989 geführt haben, der Widerstand der reformierten ungarischen Gemeinde in der Elisabethstadt gegen die Zwangsversetzung ihres Pfarrers László Tökés, die Demonstrationen und Unruhen am 15. Dezember 1989 waren sogar für die teuflischsten politischen Köpfe eine Überraschung. Wegen der unschuldigen Toten und Verletzten – Kinder und Erwachsene, Mütter, Väter, Töchter und Söhne – sollte man die Revolution nicht mehr in Frage stellen.

Als Beweis für die Schüsse, denen zahlreiche Menschen zum Opfer gefallen sind, dienen immer noch die Schusslöcher an den Gebäuden: an der Fassade des Löffler-Palais am Opernplatz, an der Marienstatue oder am Sockel des Heiligen Nepomuk-Denkmals am Freiheitsplatz.
Die Erinnerungen an die Geschehnisse vor 29 Jahren verblassen leicht. Man gedenkt der Märtyrer einmal im Jahr, man zündet Kerzen an und legt Kränze ohne viel Mitgefühl nieder. Man läuft an den Schusslöchern im Gewimmel des Alltags ahnungslos vorbei. Die meisten von uns werden es nicht einmal bemerken, wenn die Löcher infolge der Gebäudesanierungen im Laufe der Zeit mit neuem Verputz abgedeckt werden. Die Straßennamen werden in einigen Jahren keine neugierigen Fragen mehr erwecken und die Barrikade an der Giroker Straße steht auch nicht mehr da. Man darf aber, als Temeswarer, den Dezember 1989 nicht vergessen. Uns allen soll ab und zu die Inschrift an der Temeswarer Staatsoper durch den Kopf gehen: „Vouă, celor care mulți sau puțini cândva veți trece neliniștiți peste urmele noastre, ale celor care am fost generația lui decembrie ´89, un singur gând: România.“ (Deutsch: „Euch, den vielen oder wenigen, die unruhig über unsere Fußspuren eilen werdet, die wir einst die Generation des Dezembers ’89 waren, ein einziger Gedanke: Rumänien.“)