Ein facettenreiches historisches Puzzle

Gesammelte Lebenserinnerungen von Deutschen aus ganz Rumänien

„Jein, Genossen. Rumäniendeutsche erzählen. Vom zweiten Weltkrieg bis zum Fall des Eisernen Vorhangs“. Herausgegeben von Hans Fink und Hans Gehl, IKGS Verlag, München 2014, ISBN 987-3-942739-03-0

Erinnerungsbücher gibt es viele, sagt Hans Fink, einer der beiden Autoren des gut fünf Zentimeter starken, blassgrünen Wälzers mit dem vielsagenden Titel „Jein Genossen“ – und erklärt damit, warum die vorliegende Anthologie anders ist. Denn bisher bezogen sich solche Bücher entweder auf ein ganz bestimmtes Thema – die Russland-Deportation, die Verschleppung in den Bărăgan – oder auf einen beschränkten Kreis von Personen. Was fehlte, war ein Gesamtwerk, das Rumäniendeutsche aus allen Siedlungsgebieten – Siebenbürgen, Banat, Sathmarer Land, Oberwischau/Vişeu de Sus, Bukowina, Dobrudscha und Bukarest – erfasst und auch ihren Beziehungen untereinander quer durch Rumänien Rechnung trägt. Zum Beispiel der vielfältigen kulturellen Kooperation zwischen Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen, die Fink als herzlich beschreibt, doch sei sie bislang nicht gewürdigt worden.

Mit der vorliegenden Geschichtensammlung, zusammengetragen von Hans Fink und Hans Gehl, hat sich diese Lücke nun geschlossen. 70 authentische Lebensberichte, erzählt aus der Sicht von Menschen verschiedenster Berufe und sozialer Schichten, flechten ein Band gemeinsamer Zeitgeschichte vom Zweiten Weltkrieg bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Hautnah, lebensecht, mitreißend, manchmal auch schockierend, gewähren sie Einblicke in Systeme wie Schule, Kirche, Forschung, Kollektivwirtschaft, Fabriken, Krankenhäuser, Kasernen und Gefängnisse, all dies vor dem Hintergrund des Kommunismus. Einige schildern abenteuerliche Fluchtversuche, erfolgreiche und gescheiterte, ihre akribische Vorbereitung, die Ankunft in der neuen, alten Heimat, die Erkenntnis, dass auch dort der Neubeginn mit Hürden gepflastert ist, den Schmerz des Zurücklassens und der Trennung. Auch auf die Frage nach der Motivation für die in den 70er und 80er Jahren begonnene Ausreisewelle gibt es zahlreiche Antworten. Nicht die materielle Not, so die allgemeine Tendenz, sondern das Gefühl, in einem Käfig aus Verboten zu leben, in einer Scheinwelt aus Lügen, und durch sinnlose Paraden, inhaltsleere Parteiversammlungen und Schlangestehen kostbare Lebenszeit zu verlieren, hatte den Ausschlag gegeben.

Kostproben...

Das Sammeln von Beiträgen hatte bereits im März 2005 begonnen. Neben aberwitzigen Fluchtgeschichten, die jede Vorstellung sprengen – etwa die von Günter Istok, der beschreibt, wie ein bundesdeutscher Pilot 1982 am helllichten Tag auf einem ländlichen Fahrweg nahe Warjasch landet und unter Einsatz seines eigenen Lebens sieben Personen ausfliegt – sind es auch die vielen persönlichen, scheinbar unspektakulären Bekenntnisse, die das Bild für den Leser vertiefen. Vermächtnisse des Kommunismus: „Man lebte mit zwei Gesichtern, einem öffentlichen und einem privaten“ (Liane Henning-Schlosser, Forscherin aus Mediasch); „Die Nummern 12 und 14, eigentlich als Magensonden für Neugeborene und Säuglinge gedacht, eigneten sich dazu, in die Gebärmutter eingeführt zu werden; damit wurden die verschiedensten Lösungen eingespritzt, um den Embryo abzutöten, vom Seifenwasser bis zum 70-prozentigen Sanitätsspiritus“ (Werner Niederkorn in „Die misslungene Geburtenplanung“); „Er wisse, sagte er, dass mich die Obrigkeit meiner Diözese nicht haben wolle, aber auch der Securitate sei ich ein Dorn im Auge, weil ich die Aussiedlung der Deutschen befürworte und unterstütze. Er legte mir nahe, binnen zwei Wochen das Land endgültig zu verlassen ... ansonsten müsse ich damit rechnen, überfahren zu werden.“ (Pfarrer Anton-Joseph Ilk, Sathmar).

Deutlich wird immer wieder das Dilemma der Auswanderer. Erzählt wird von Aufbruchstimmung, falschen Erwartungen und rosigen Illusionen: „Schon als Kind glaubte ich, dass Deutschland ein tolles Land sein müsse. Das Auto des Onkels war bei jedem Besuch ein anderes und wurde auch immer größer“ (Günter Istok). Es gab aber Hürden und Schwierigkeiten: „Deine Ausreise wird schwerlich genehmigt werden, weil du ein guter Fachmann bist, den man hier braucht (Paul Wagner, Oberwischau). Die Ankunft brachte oft Ernüchterung: „Meine Eingliederung war ein langer und oft schwieriger Prozess des Sich-Findens und des Neubeginns. (...) Enttäuschend war, dass kaum jemand etwas über uns wusste, die meisten wollten auch nichts wissen...“ (Johann Traxler, Oberwischau).

Manchmal überfiel einen das Gefühl der Ausweglosigkeit: „Meine Ausbildung und meine Prüfungen könnten keiner Baden-Württembergischen Lehrbefähigung gleichgestellt werden“ (Traxler). „Man empfahl mir ein Studium... Doch dann machte mir zum einen das Studentenwerk einen Strich durch die Rechnung (mir wurde kein Bafög gewährt, weil zu alt), zum anderen bescheinigte mir das Oberschulamt nur Fachhochschulreife, wodurch ein Studium gar nicht mehr möglich war. Ich gab definitiv auf. (...) Darauf bewarb ich mich für den gehobenen Verwaltungsdienst, bekam beim Bürgermeisteramt Abtsgmünd eine Stellenzusage und bestand den Eignungstest im Regierungspräsidium, wurde aber (wegen Überschreitung der Höchstaltersgrenze) vom Landespersonalausschuss Baden-Württemberg abgelehnt.“

Schon die Titel vieler Erlebnisberichte machen neugierig hineinzuschnuppern: „Heimlicher Religionsunterricht“, „Ich werde mich anzünden!“, „Im Schlauchboot nach Jugoslawien“, „Menschen und Blutegel“ oder „In der Donautiefebene ausgesetzt“. Einmal angelesen, ziehen sie einen unweigerlich tiefer in den Wälzer hinein...
Die vielfältigen Geschichten zeichnen ein historisches Puzzle, lebhaft, bunt, mit stilistischen Ecken und Kanten, die der Authentizität zuliebe offenbar nicht geglättet wurden – freilich auch mit Lücken. Denn hätte man alle verfügbaren Berichte zusammengetragen, wäre der Druck nicht möglich gewesen, bedauert auch Hans Fink. Doch der Facettenreichtum und die Detailtiefe der gesammelten Menschenschicksale verdichten sich im Bewusstsein des Lesers zu einer wahrhaftigeren, greifbareren Vollständigkeit, als dies bei einem vorgefertigten wissenschaftlichen Resümee je der Fall sein könnte. Eine Pflichtlektüre daher für alle, die sich mit der deutschen Minderheit in Rumänien befassen und sich eine eigene Meinung bilden möchten.