Ein Funken Hoffnung im Schatten des Grauens

Russischer Holocaust-Film „Sobibor“: Konstantin Khabenskis Regie-Debüt vereint Dokumentation und Kunst

Der Regisseur Konstantin Khabenski spielt die Rolle des russischen Kriegsgefangenen Alexandr „Sascha“ Petscherski.

Ausstellung über den Holocaust in der ehemaligen Sowjetunion. Foto: George Dumitriu

„Willkommen in Sobibor! Das ist jetzt Ihr neues Zuhause!“ Euphorisch schnarrt die Stimme auf Deutsch aus dem Lautsprecher. Menschen quellen aus dem Zug. Sie werden begrüßt wie in einem Ferienlager. Frauen, Männer, Kinder. „Hier könnt ihr gewissenhaft arbeiten und ruhig leben, bis ihr in euer Land überführt werdet. Danke.“ Dann wird nach Handwerkern ausgerufen: Schuster, Schneider, Goldschmiede. Der junge Schlomo gesellt sich zu letzteren. „Aus hygienischen Gründen müssen Sie jetzt eine Dusche nehmen – Frauen und Kinder zuerst.“ Schlomo verspricht Schwesterchen Rivka, wenn sie jetzt brav mit den Eltern mitgeht, macht er ihr ein Paar hübsche Ohrringe...

Sobibor. Der Name des Nazi-Vernichtungslagers im deutsch besetzten Polen des Zweiten Weltkriegs, am heutigen Dreiländereck Polen-Ukraine-Weißrussland, steht für maßloses Grauen. Aber auch für einen Hoffnungsfunken im Schatten dieser düsteren Geschichte. Die bewegendste Szene des gleichnamigen Films von Konstantin Khabenski – einer der Kandidaten für den diesjährigen besten fremdsprachigen Film im Oskar-Wettbewerb, der jedoch nicht in die engere Auswahl kam - erlöst den Zuschauer aus mehr als zweistündiger Qual: In Zeitlupe stürmen an die 500 Gefangene durch das Haupttor des Lagers. Hinter ihnen Gewehrfeuer, Granaten schlagen ein. Auf ihren Gesichtern: pures Licht! „Man fühlt, es sind nicht nur diese 500, die durch das Tor strömen - sondern auch die Seelen der unzähligen im Lager Ermordeten“, sagt Ruxandra Cernat vom Russischen Zentrum für Kultur und Wissenschaft, das die Filmpremiere gemeinsam mit der Föderation der jüdischen Gemeinschaften in Rumänien (FCER) und der NGO ArtViva am 26. Februar im Bukarester Bauernmuseum organisiert hat.

„Wir tun alles, um die Flamme der Erinnerung an die Jugend weiterzugeben“, versichert der russische Botschafter Valery Kuzmin. Sein Vater hatte selbst im Zweiten Weltkrieg gekämpft, verrät er. „Es gibt tonnenweise Material über den Holocaust“, meint FCER-Kulturdirektor Robert Schorr. „Alle gerechtfertigt.“
Doch „Sobibor“ ist mehr als nur ein weiterer Holocaust-Film. Meisterhaft verstand es der Regisseur und Schauspieler, der selbst einen der Haupthelden mimt, Kunst und Dokumentation zu verbinden. Symbolische Schlüsselszenen. Intensive Bilder. Vier Sprachen im Original, untertitelt: Deutsch, Jiddisch, Hebräisch, Russisch. So geht Geschichte unter die Haut.

Was geschah in Sobibor?

Wie viele Juden in dem Vernichtungslager ermordet wurden, weiß man bis heute nicht genau. Die Nazis haben alle Unterlagen vernichtet. Schätzungen belaufen sich auf bis zu 250.000. Vergast. Auf der Flucht erschossen. Oder als Strafmaßnahme im Lager. Der Film zeigt alltägliche Schikanen: Sascha soll einen gewaltigen Baumstumpf in fünf Minuten spalten. Schafft er es nicht, wird jeder zehnte erschossen - eine Laune des Kommandanten, spontan, ohne Grund. Ringsum schreckensstarre Gesichter, als der Aufgeforderte blindwütig mit dem Beil auf das Holz eindrischt. Er schafft es in viereinhalb! Der Nazi wirft ihm überlegen grinsend einen Apfel zu. Sascha, noch atemlos, lehnt betont höflich ab. „Danke, das Essen im Lager genügt mir.“
Schlomo soll für einen Offizier eine goldene Krawattennadel fertigen. An dem Rohmaterial, das er dafür erhält, hängt noch ein Stück Knochen...

Auf einer „Party“ der Offiziere wird ein Mann, der auf der Suche nach seiner vermissten Frau verzweifelt herumirrt, von einem Offizier lachend mit Schnaps übergossen und brutal abgefackelt. Immer wieder versuchen einzelne Häftlinge aus Sobibor zu fliehen, obwohl das Gelände mit Ausnahme des Haupttors vermint ist. Zur Abschreckung werden die Insassen danach auf dem Appellplatz versammelt, jeder zehnte abgezählt und vor aller Augen erschossen. „Das ist hart, aber gerecht“ feixt ein junger Offizier. Die Insassen werden angehalten, „ungewöhnliche Vorgänge“ zu melden.

Fluchtpläne keimen. Werden wieder verworfen.

Erst als der jüdische Häftling Leon Fendhendler und der russische Leutnant Alexandr Petscherski, ein Kriegsgefangener der Roten Armee, der am 23. September 1943 mit einem Transport von 2000 Juden und 80 kampferfahrenen, taktisch geschulten sowjetischen Soldatenkollegen ins Lager kam, aufeinandertreffen, werden sie konkret. Auslöser ist die Ankunft eines weiteren Zugs. „Willkommen in Sobibor“, tönt es abermals freundlich aus dem Lautsprecher. Die Waggontür geht auf. Dahinter: ein Haufen Toter. Plötzlich regt sich etwas in den leblosen Gliedern. Dann eine Stimme. Sie kann den Häftlingen von Sobibor noch mitteilen, bevor sie der „Gnadenschuss“ ereilt: Es sind die Insassen aus dem nahen Lager Belzac, von den Nazis ermordet, bevor die vorrückende russische Armee dieses erreichen konnte! Den Gefangenen von Sobibor wird sofort klar: Wenn die Russen schon so nahe sind, steht uns bald ähnliches bevor.

Wenn Opfer zu Tätern werden...

Minutiös und in eingeschränktem Kreis wird beraten. Ein Fluchttag festgelegt. Zuerst ist es der 13. Oktober, dann wird wegen einer Umbesetzung der NS-Bewachung auf den 14. umgeplant. Die deutschen Offiziere sollen unter einem Vorwand nacheinander einzeln in die verschiedenen Werkstätten gelockt und dort hinterrücks getötet werden. Möglichst lautlos, innerhalb einer Stunde. Ihre Eitelkeiten sollen ihnen zum Verhängnis werden: Erstes Lockmittel ist ein Ledermantel, nach der neuesten Pariser Mode gefertigt. Der interessierte Offizier würde sich zum Probieren des Waffengurts entledigen müssen… Doch wer hat den Mut, Lockvogel zu spielen? Zwischen ratlosen Gesichtern zirpt ein Kinderstimmchen auf: Toivi will es wagen.

Meisterhaft zeigt Khabenski von nun an den Konflikt in den Gesichtern der selbst zu Tätern werdenden Opfer. „Ihr habt uns töten gelehrt“, flüstert Schlomo mit Blick auf den ersten toten Nazi. Ihre Taktik, in jeder Werkstatt ein bisschen anders, geht auf. Zwölf Offiziere sind bereits beseitigt, als das letzte Opfer ungeplanterweise Zeit zum Schreien findet. Nun muss alles blitzschnell über die Bühne gehen! Zehn Minuten früher als sonst dreht Leon die Sirene zum Abendappell. Die ahnungslosen Mitinsassen sind irritiert. Zögernd begeben sie sich doch zum Appellplatz. Die verbliebenen Nazis merken - etwas stimmt hier nicht! Erste Schüsse fallen. „Jetzt. Ruf jetzt alle zur Flucht auf!“, zischt Leon, noch an der Kurbel, seinem Komplizen zu. In der selben Sekunde stürmt das gesamte Lager los, alle auf das Haupttor zu...

Schlussszene: Schlomo hastet allein über ein endloses, weites Feld. Die Hoffnung der Szene am Tor schlägt um in ein Gefühl von Ungewissheit, Einsamkeit, Verlorenheit. Der junge Goldschmied ist einer der 47 Menschen, die die Flucht aus Sobibor und den Holocaust überleben, doch seine Familie hat er verloren.

Etwa 100 seiner Mitflüchtlinge werden erschossen, noch bevor sie den schützenden Wald erreichen. 150 werden von den lokalen Bewohnern verraten, getötet oder ausgeliefert. Das Lager selbst wird von den Nazis unmittelbar nach dem Ausbruch aufgegeben, die verbliebenen Häftlinge erschossen, das Gelände dem Erdboden gleichgemacht. Zur Vertuschung wird ein Bauernhof darauf errichtet. Als hätte Sobibor nie existiert.

Doch dank des erfolgreichen Ausbruchs gibt es Zeitzeugen: Der erste, der der Welt über die Geschehnisse in Sobibor berichtet hat, ist Toivi, der als Schriftsteller Thomas Blatt bekannt wurde und 2015 in den USA starb. Blatt war auch der einzige Holocaust-Überlebende, der sich später mit einem der Kommandenten des Lagers, dem SS- Oberscharführer Karl Frenzel (im Film gespielt von Christopher Lambert), getroffen hat, erzählt Ruxandra Cernat.

 

------------------------------

 

Zur Filmpremiere wurde vor dem Kino „Horia Bernea“ des Bauernmuseums auch eine Ausstellung über den Holocaust in Russland eröffnet. Die Paneele zeigen Fotos, Dokumente und Zeichnungen aus staatlichen russischen Archiven, Museen, Geheimdienstarchiven und militärischen Institutionen etc. und liefern einen kleinen Überblick zu den Geschehnissen im Zweiten Weltkrieg:

- Babi Yar, Kiew: Am 29. und 30. September 1941 werden dort über 34.000 Juden von den Nazis ermordet. Der Ort gilt als Symbol für den Holocaust in der Sowjetunion.

- Nach dem Einfall in Litauen am 22. Juni 1941 begann auch dort die Ausrottung von Juden und Halbjuden. Bereits in den ersten Wochen finden zahlreiche Progrome statt, durchgeführt von lokalen Kollaborateuren. 2.700.000 Menschen werden insgesamt ermordet.

- In Russland wurden 44 Ghettos eingerichtet, in denen 200.000 Juden starben. Im Ghetto von Velizh (Smolensk Oblast) werden noch 1200 Insassen ermordet, kurz bevor die Rote Armee am 28. Januar 1942 die Stadt befreien kann. Nur 17 können fliehen.

Das Kaluga Ghetto wird am 30. Dezember 1941 befreit. Es ist das erste in Europa, in dem die meisten Insassen gerettet werden können, nur sieben von 155 sterben.