Ein großes Land mit großen Problemen

Die politische Krise in der Ukraine kann zu weitgehenden Folgen führen

Während Rumänien seit Wochen die wahrscheinlich langweiligste Seifenoper der Welt über die Hassliebe-Beziehung und die Scheidung des, ach ja, so viel versprechenden jungen USL-Paars unwillentlich verfolgte, überschlugen sich die ohnehin chaotischen Ereignisse in der Ukraine.
Noch am 21. Februar schien die Lage sich zu bessern. Nach zermürbenden Verhandlungen haben Präsident Viktor Janukowitsch und die Oppositionsführer eine vorläufige Vereinbarung zur Lösung der Krise in der Ukraine unterzeichnet. Die Rolle der Bürgen übernahmen der Deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein polnischer Amtskollege Radoslaw Sikorski. Der auch von der Bundesregierung mit ausgehandelte Plan sah vorgezogene Präsidentenwahlen, starke verfassungsrechtliche Vollmachten für die Regierung sowie ein Übergangskabinett vor. Ein Kabinett des nationalen Vertrauens sollte es sein.

Das Gesetz der Stärke

Was danach geschah, passierte schnell und ist wahrscheinlich noch für keinen Beobachter hundertprozentig klar. Nach manchen Angaben verließ der rechtmäßig gewählte Präsident Janukowitsch bereits am selben Tag oder am Tag danach die brodelnde Hauptstadt Kiew – die Mutter der russischen Städte, wie sie noch genannt wird. Am 22. Februar verabschiedete die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, mit 328 von 449 Stimmen das Dekret „Über die Selbstentfernung des Präsidenten von der Erfüllung seiner verfassungsmäßigen Verpflichtungen“. Ab hier kann man ohne Zweifel von einem Staatsstreich sprechen.

Gemäß der ukrainischen Verfassung in ihrer Fassung vom 8. Dezember 2004, also jener Fassung, die in der Ukraine seit dem 22. Februar 2014 wieder gültig ist, gibt es vier Gründe zur vorzeitigen Beendigung der Befugnisse des Präsidenten: Rücktritt, Amtsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen, Amtsenthebungsverfahren oder Tod. Keiner dieser Punkte ist im Fall von Janukowitsch eingetroffen. Der amtierende Präsident kann nach Artikel 111 der ukrainischer Verfassung wegen „Staatsverrats oder eines anderen Verbrechens“ des Amtes enthoben werden. Eine solche Anklage wurde nicht erhoben. Ob gut oder schlecht, Janukowitsch bleibt nach dem Gesetz der einzige legitime Präsident der Ukraine.

Das in der Vereinbarung vom 21. Februar versprochene „Kabinett des nationalen Vertrauens“ kam auch mehr als eine Wochen nach der Unterzeichnung nicht zustande.Von einer demokratischen, im modernen Sinne des Wortes, Vorgehensweise bei der Ernennung der Minister kann man auch nicht sprechen. Praktisch werden die Kabinettsmitglieder nach dem Willen des bewaffneten und aggressiven Mobs am Unabhängigkeitsplatz (Majdan Nesaleschnosti) bestimmt. Das Parlament wurde zum willenlosen Werkzeug der tobenden Menge herabgestuft. Im neuen Kabinett finden sich Vertreter der rechtsradikalen Bewegungen und „Helden“ des Majdans wieder. Der einzige Verdienst vieler der neuen Minister besteht einzig und allein in der Unterstützung des Aufstandes. Das Kabinett genießt jedoch kein Vertrauen weder im prorussischen Osten noch im Westen.

Der Osten und die Krim machen nicht mit

Die westlichen Medien bemühten sich bereits bei der Präsidentschaftskampagne 2004 ein Bild der Ost-West-Spaltung in der Ukraine zu zeigen. Dieses stimmt gewisser Weise nicht nur in der Politik. In den Regionen Lugansk, Donezk, Dnepropetrowsk, Charkow, Nikolajew, Saporoschje, Odessa und der autonomen Republik Krim stellen Russen die Bevölkerungsmehrheit dar. Daher haben die russische Sprache und Kultur einen nicht zu unterschätzenden Einfluss in dieser Gegend. Die Ostukraine unterscheidet sich vom Westen auch durch die höhere industrielle Entwicklung und einen im Vergleich zum Westen des Landes höheren Lebensstandard.

Eine besondere Rolle spielt die Halbinsel Krim, die am 8. April 1783 von der Kaiserin Katharina II. „von nun an und für alle Zeiten“ als russisch deklariert wurde. „Alle Zeiten“ dauerten bis 1954 als der Generalsekretär Chruschtschow die Krim in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik eingliedern ließ. Insbesondere Sewastopol, als Stutzpunkt der russischen Schwarzmeerflotte und die Stadt der „russischen Militärehre“, ist mit Russland eng verbunden. Der Status der autonomen Republik wurde der Krim nicht zuletzt wegen des hohen (über 60 Prozent) russischen Bevölkerungsanteils verliehen.
Die Regierung und das Parlament auf der Krim beschlossen am Staatsstreich in Kiew nicht teilzunehmen. Über den Regierungsgebäuden wurden russische Fahnen gehisst.

Ungeachtet der Tatsache, dass die Krim zurzeit wahrscheinlich die sicherste und ruhigste Region in der Ukraine ist, wird die legitime Regierung der Halbinsel des Separatismus beschuldigt. Der Aufstand in Kiew ist für die westlichen Medien jedoch „das Recht des Volkes auf Wiederstand“. Die Ostukraine und die Krim verbinden enge wirtschaftliche und familiäre Beziehungen zu Russland. Daher kann man vom „prorussischen“ Teil der Ukraine sprechen. Was aber nicht bedeutet, dass die Westukraine, wie viele westlichen Medien meinen, proeuropäisch wäre. Die Westukraine ist antirussisch und stark nationalistisch geprägt, was für den Osten nicht annehmbar ist. Genauso wie der Versuch der neuen Machthaber, die regionalen Sprachen abzuschaffen.

Einmarsch der Russen

Die Nachricht über den angeblichen Einmarsch der russischen Truppen auf der Krim ging am Wochenende um die Welt. Verzeihung? Die Russen brauchen nicht einzumarschieren! In Sewastopol sind nach Schätzungen eine 25.000-köpfige starke Truppe stationiert. Diese bewegen sich auf der Halbinsel, nach der Angabe des russischen UN-Botschafters Witali Tschurkin, entsprechend dem Abkommen zwischen der Ukraine und Russland betreffend die Stationierung der Schwarzmeerflotte. Dafür zahlte übrigens Russland jährlich rund 150 Millionen Dollar.

Der russische Föderationsrat (das Oberhaus des Parlaments) bewilligte am 1. März auf das Ersuchen des Präsidenten Putin den Einsatz der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Die Ursache dafür war eine an Putin gerichtete Bitte des Premierministers der Autonomen Republik Krim Sergej Aksjonow um „Bewahrung von Frieden und Ruhe“. Gleichzeitig ließ Kreml mitteilen, dass der Beschluss nicht den sofortigen Einsatz der Truppen bedeutet. Bis jetzt sorgen die unbewaffnete Bürgerwehr und die nur auf der Krim erhaltene Sondereinheit der Polizei „Berkut“ für die Ruhe und Ordnung auf der Halbinsel. Seit dem Sonntag verfügt die Republik über die eigenen Marinestreitkräfte: Der kommandierende Admiral der ukrainischen Marine schwor Treue der Regierung der Autonomen Republik Krim.

Kommt der neue Krimkrieg?

Das hängt heute von vielen Faktoren ab. Am wenigsten von der so genannten ukrainischen Regierung. Das „Kamikaze-Kabinett“ von Arsenij Jazenjuk hat weder im Osten noch im Westen wirkliche Macht. Unterstützt wird es aus dem demokratischen Ausland. So soll es heute ein Treffen zwischen dem US-amerikanischen Außenminister John Kerry und den neuen ukrainischen Machthabern stattfinden. Jedoch braucht das Kabinett keine Worte, sondern mindestens 15 Milliarden Dollar. Das Land steht vor dem Staatsbankrott. Richtig veräppelt sollten sich der deutsche und der polnische Außenminister fühlen, deren Unterschriften unter dem Vereinbarung vom 21. Februar stehen: Das Kabinett „des nationalen Vertrauens“ sieht sehr vertrauensunwürdig aus. Wirkliche Stärke im ukrainischen Machtvakuum haben die rechtsradikalen Organisationen und Menschen mit Waffen. Jeder Versuch des „Heimholens“ der abtrünnigen, also der neuen Regierung nicht unterstehenden, Regionen im Osten bringt Russland ins Spiel. Bei den Rechtsradikalen kann man eben nicht auf Vernunft bauen. Leider gibt es auch in Russland genug „heiße Köpfe“, die gerne den „kleinen Brüdern“ in der Ukraine „helfen“ würden.

Die Vereinigten Staaten von Amerika, Europäische Union, NATO und der Internationale Währungsfonds spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Aus auf den ersten Blick unerklärlichen Gründen erkennen die USA eine illegitime Regierung der Ukraine an und drohen Russland mit Sanktionen. Kanzlerin Merkel nahm trotz scharfer Worte ihre gewohnte Wartehaltung ein. Die NATO ruft jetzt „zu einer Lösung durch einen bilateralen Dialog“. Die Frage ist nun: Wer soll mit wem reden? Der Weltwährungsfond könnte der Ukraine einen Kredit gewähren, die Wunschsumme ist inzwischen auf 35 Milliarden Dollar angestiegen, aber niemand wirft gerne Geld in ein Fass ohne Boden. Schließlich bleibt Russland, das praktischerweise Militärmanöver in der Nähe des Krisenstaates führt. Sollte es hart auf hart kommen, wird es zu einer de jure Spaltung des de facto bereits gespaltenen Landes kommen. Man kann jetzt darüber diskutieren, wo die neue Grenze verlaufen wird. Die Einmischung der USA oder der NATO bringt die Welt entweder vor oder weit hinter den Abgrund.