Ein Meister in Zwischenzeilentaktik

Lesung aus Dieter Roths Roman „Der müde Lord“: Was man im Kommunismus nicht sagen und erst recht nicht schreiben durfte...

Autor Dieter Roth (links) auf dem Presseseminar der „Siebenbürgischen Zeitung“, neben ihm Hans-Werner Schuster, Bundeskulturreferent des Verbands der Siebenbürger Sachsen.
Foto: George Dumitriu

„Und eines sollten Sie sich für die Zukunft auf jeden Fall merken: Was gestrichen ist, ist kein Fehler.“ Mit diesem zweideutigen Satz erklärte der Chefredakteur dem frischgebackenen Journalisten Christian Rosenow, warum er seinen Artikel ein wenig „kürzen“ musste. Ein wenig „kürzen“, ausgerechnet um die Passage, in der dieser stolz erklärt, wie der Held der Arbeit, Meister Militaru, „täglich mit der wunderbaren Leistung von 130 Prozent Planerfüllung glänzen kann“ – nämlich auf Kosten der anderen Mitarbeiter, die sich dafür auf Weisung von oben recht dumm anstellen müssen, wie ihm jemand aus dem Betrieb heimlich zuflüstert…

Ein Sahnestückchen aus dem Roman „Der müde Lord“ von Dieter Roth – und nur eines von vielen. Ein Stückchen Zeitgeschichte außerdem, ist doch Rosenow niemand anderer als das Alter Ego des Autors, wie Hannes Schuster, Alt-Chefredakteur der „Siebenbürgischen Zeitung“ (SbZ), aber auch der Karpatenrundschau, und damit ein Zeitgenosse von Roth, auf der Lesung zum Anlass des Presseseminars vom 14.-16. Oktober in Leitershofen bei Augsburg erklärt. Als ehemaliger Mitarbeiter des „Neuen Wegs“ 1954-1965 – also der Vorgängerversion der heutigen ADZ – schildert er in 60 Anekdoten den kuriosen Redaktionsalltag und die Kulturszene im kommunistischen Bukarest der 50er bis 70er Jahre, der mit seiner Ausreise nach Deutschland endet. „Es gibt keinen anderen, dermaßen erfahrungsgesättigten und zugleich klaren Text über das, was einst in Rumänien in deutscher Sprache kulturell, zumal literarisch geschah“, lobt der Schriftsteller und Literaturkritiker Georg Äscht.

„Der müde Lord“, erschienen 2013, ist der erste und einzige Roman des 1936 in Ploieşti geborenen Dieter Roth. Als Absolvent des Kronstädter Honterus-Gymnasiums heuerte dieser – zeitgleich mit seinem Haupthelden – beim „Neuen Weg“ an, studierte parallel Germanistik in Bukarest und avanciert schließlich zum Leiter des Lektorats im Kriterion Verlag. Nach seiner Ausreise machte er sich auch in Deutschland einen Namen als Herausgeber, Übersetzer und Schriftsteller, zuletzt bis 2001 als Feuilletonchef der Rhein-Neckar-Zeitung. Im Anschluss an die Lesung fand eine Diskussion mit den Seminarteilnehmern statt, in der Roth und Schuster die Absurdität der erforderlichen Winkelzüge und Zwischen-den-Zeilen-Taktiken lebhaft vor Augen führten.

Unterschiedliche Rezensenten nannten dieses Buch einen „Schlüsselroman“ über die Protagonisten des rumänischen Geisteslebens, erklärt Hannes Schuster. „Ihre im Roman oft nur leicht veränderten Namen lassen den einst mitimplizierten Zeitzeugen, als den ich mich wohl bezeichnen darf, unschwer auf die realen Personen schließen“, fährt er fort, doch versichert, es sei keine Abrechnung mit diesen. Roths „Spottgeburten, die gernegroßen Apparatschiks und die willfährigen Zuträger des Geheimdienstes, die ‚Sekretängs‘ und ‚Schnüffelköter‘, wie sie der Autor nennt, allesamt passieren Revue, nicht um ihrer selbst und ihrer Bloßstellung willen, sondern als Produkte und Zeugnisse realer Existenzen in einer totalitär determinierten Welt.“ Wie mit einem Brennglas wird das Erlebte – Treue und Verrat, Selbstzweifel und Selbstvergewisserung, kollegiale Solidarität und „klassenkämpferisch“ kaschierter Berufsneid, nahtlos Seite an Seite in „anekdotisch geraffte Erzählkerne“ gezwängt, beschreibt Schuster den Stil des Autors.

Wenn auch für den nicht-kommunismuserfahrenen Leser so manche Andeutung oder Zweideutigkeit mitunter erst auf den zweiten Blick verständlich wird, ist es doch ein kolossales Lesevergnügen, ein Potpourri an kraftvollen Bildern und seltsamen Gefühlen. Schon das Inhaltsverzeichnis weckt mit kuriosen Kapiteltiteln wie „Affentheater am Platz der Flieger“, „Schädlinge im universitären Unterholz“ oder „der Schikaneur“ die Neugier des Lesers. In ersterem verweist Rosenow in einem Gespräch mit einem Freund sarkastisch auf einen der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus, Egon Erwin Kisch, im Roman „Egonek“ genannt: „Wo ‚Egonek‘ sich aus der kapitalistischen Hölle, in die er nun einmal hineingeboren war, immer die heißesten Kastanien herausholen konnte, und zwar weltweit über Länder und Grenzen hinweg, da war man hier und heute in dieses rote Paradies richtiggehend eingesperrt und musste zusehen, in welchem seiner Winkel es noch auffälligere Blumen zu pflücken gab.“

Gehässig fügt er an: „Stell dir vor, der ‚Egonek‘ müsste, wie ich mit ein paar anderen neulich, über einen Ersten-Mai-Aufmarsch im Bukarest des Jahres 1955 schreiben.“ Eine Reportage, in der freilich die „Lederjacken“, die den Volksmassen von den Dächern der Rundfunkwagen mit Megaphonen aus zuriefen, „sie sollten doch gefälligst fröhliche Gesichter machen“, mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt werden...
Der Roman spiegelt aber auch die unterschiedlichen Etappen des Kommunismus wider, macht Schuster aufmerksam. Bedient wird die bekannte rumänische Witzfigur Bulă, übersetzt als „Eleve Benis“, der beim Anblick der Brancuşischen „Endlosen Säule“ tönt, sie versinnbildliche wohl eindeutig das Regime: „Mal drücken die uns die Gurgel zu, mal lassen sie es lockerer zugehen.“

In der Diskussion wurde die Frage laut, ob man denn trotz Zensur auch Befriedigung an der journalistischen Tätigkeit erfahren konnte. Hannes Schuster illustriert dies mit einem Beispiel: Zu einer Zeit, in der es verboten war, in den Dörfern rein deutsche Kulturveranstaltungen zu organisieren – etwa den traditionellen Kathreineball –, hatte die Karpatenrundschau statt dessen zu „Lesertreffen mit Kulturprogramm” aufgerufen. Man traf sich also mit den Lesern, ging auf deren Fragen und Anregungen ein – und genoss im Anschluss das zu Ehren der Besucher dargebotene Kulturprogramm. Über die „KR-Lesertreffen” wurde natürlich anschließend berichtet. Mit diesem Trick gelang es, in über 50 rein deutschen Dörfern die identitätsbewahrenden Bräuche am Leben zu erhalten, bis sich das Regime etwas lockerte und man dies offiziell wieder durfte.

Eine andere Taktik war das Zwischen-den-Zeilen-Schreiben, wobei die Leserschaft eine Perfektion im Deuten entwickelte. Dieter Roth hatte als verantwortlicher Verlagsdirektor zahlreiche Bücher von Autoren herausgegeben, die sich in fast jedem Text einer Zwischenzeilentaktik bedienten – und sie wurden massenhaft gekauft. „Wir alle hatten Spaß daran”, bestätigt auch Hannes Schuster und nennt wiederum ein Beispiel: In einem Roman hieß der Schriftsteller, der einen anderen durch sein Geständnis ins Gefängnis gebracht hatte „Pirol”, weil er gesungen hatte – kein Name war genannt worden, doch jeder wusste, wer gemeint war. Ein anderes betrifft einen großen Autor und Verlagslektor aus Klausenburg, der wiederholt vom Leiter des DDR-Schriftstellerverbandes Ulf Kirsten nach Dresden eingeladen worden war, jedoch keine Ausreisegenehmigung erhielt. Dem Publikum teilte er dies in Form eines launigen Gedichts im „Neuen Weg” mit: „Ulf Kirsten und ich trinken ein Bier. Er in Dresden – und ich hier.”

„Der müde Lord” – diesen Spitznamen hatte ein Redaktionskollege beim „Neuen Weg” dem Autor alias Christian Rosenow heimlich verpasst – entpuppt sich tatsächlich als aufgeweckter Geist, der zwischen den Zeilen auf so manchen brillanten Einsatz lauert.

Dieter Roth, „Der müde Lord“, Rhein-Neckar-Zeitung, ISBN 978-3-936866-46-9