Eine Schicksalswahl wie jede andere

Der 26. Mai ist nur Vorspiel für Präsidentschafts- und Parlamentswahlen

Zum vierten Mal seit dem EU-Beitritt vom 1. Januar 2007 sollen die Bürger Rumäniens am kommenden Sonntag ihre Vertreter im Europäischen Parlament wählen. Noch nie zuvor stilisierten heimische Politiker den Urnengang zu einer Art Schicksalswahl, von der die Zukunft Rumäniens, wenn schon nicht der gesamten Europäischen Union, abhängt. Während eine vom Brexit, vom Zickzackkurs des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, vom Machthunger Chinas, den Einmischungen Russlands, nicht zuletzt von ihren eigenen Schwächen und Konstruktionsfehlern geplagte Europäische Union in der Tat um ihre Zukunft als erfolgreichstes Friedens- und Wohlstandsprojekt in der Geschichte des Kontinents bangen muss und eine Riege größtenteils amtsmüder und alle Krisen aussitzenden Dauerpolitiker in Hermannstadt/Sibiu eine folgenlose Deklaration verabschiedet, tragen hiesige Führungseliten ihre üblichen Kämpfe aus und erwecken erneut den Eindruck, dass es dieses Mal wirklich um alles oder nichts geht.


Mehr als vor fünf oder zehn Jahren, als Europa noch als wohltätiger, teure Geschenke verteilender Weihnachtsmann präsentiert wurde, vor dem man brav sein Gedicht vortragen muss und ihn ja nicht vergraulen darf, geht es heute um den angeblich so verletzten Nationalstolz der Rumänen. Die beiden größten Parteien, die regierenden Sozialdemokraten und die Möchte-Gern-Regierenden von der PNL, senden dieselbe Botschaft aus: Rumänien zuerst, Rumänien über alles, Rumänien verdient mehr, Rumänien muss respektiert werden. Von der EU, von den anderen Mitgliedstaaten, von egal wem, Hauptsache Respekt. Ähnlich lautet es auch bei der ALDE, der Pro România und bei dem neuen Bündnis der USR und der Partei PLUS von Ex-Premier Dacian Cioloș: Man müsse die PSD wegfegen und alles werde besser. Man müsse auch so einiges tun, um den Straßenverkehr in den Großstädten zu verbessern und um die Landwirtschaft zu fördern. Schade, dass die USR-PLUS-Allianz keine so großartigen Bürgermeister hat wie die PNL, die zum Beispiel glaubt, dass die Bürger in Botoșani, Slobozia oder Slatina die PNL wählen, nur weil der Bürgermeister von Großwardein/Oradea ein paar Altbauten sanieren ließ oder dessen Arader Kollege ein paar Bänke zwischen kommunistischen Plattenbauten hingestellt hat und somit nun seine Heimatstadt ab sofort als ein wahres Klein-Wien empfindet, wie der Herr Bürgermeister überall damit prahlt.


Wie dem auch sei, das Beste, was die PNL, die allseits gepriesene Alternative zur PSD-Despotie, diesmal zu bieten hat, ist kein anderer als Rareș Bogdan, ein lächerlicher Fernsehclown, der mit ernstem Journalismus nie was zu tun gehabt hat, dafür aber ziemlich viel mit zweifelhaften Geschäften rund um den Pleite-Sender Realitatea TV. Man wird es ja kaum abwarten können, dass Rareș Bogdan in das Europäische Parlament einzieht, sich dort in die Riege glanzvoller rumänischer EP-Mitglieder wie Elena Băsescu, Corneliu Vadim Tudor, Gigi Becali, Mircea Diaconu und Maria Grapini einreiht, nur um den krächzenden PNL-Vorsitzenden Ludovic Orban rasch zu entsorgen. Dem Volk wird indes weiterhin erzählt, dass nur die PNL ein europäisches Rumänien garantiert. Man wird den Eindruck nicht los, dass es sich hierbei nur um eine gelb gefärbte PSD handelt und dass sowohl die PNL als auch die anderen sogenannten „rechten Parteien“, die USR und die PLUS, sich derselben Rhetorik bedienen, wie die der „roten Pest“, nur andersrum. Die Spaltung der rumänischen Gesellschaft wird genauso von der PNL und dem Duo USR-PLUS ausgenutzt wie von der PSD. Auch dieses Mal hieß es Jung gegen Alt, Arbeitnehmer gegen Rentner, Gebildete gegen Ungebildete, im Ausland Arbeitende gegen hier Gebliebene, die seit eh und je existierende tiefe Spaltung scheint tiefer und tiefer zu werden und genau diejenigen, die sie kitten sollten, graben eifrig weiter.


Aber man sollte sich nicht allzu viel mit der Wahlkampfrhetorik beschäftigen, es gibt Wichtigeres. Zum einen die Ekel erregende Geste der Sozialdemokratischen Partei mit ihrer Großkundgebung in Jassy/Iași, letztendlich ein Schuss ins Blaue für Dragnea & Co. Dragnea, der womöglich einen Tag vor der Veröffentlichung dieses Beitrags erneut verurteilt werden könnte, hat eindeutig die Kontrolle über sich selbst verloren, sein Tun schadet Rumänien und es schadet seiner eigenen Partei. Das Schicksal der PSD dürfte viele kalt lassen, aber der Schaden, den er durch seine verzweifelten Kundgebungen und seine irren Aussagen über Europa und über die angeblich schlechte Behandlung Rumäniens verursacht hat, ist nur schwer zu beheben. Und deshalb muss Dragnea tatsächlich Halt geboten werden, und zwar viel früher als es die Parlamentswahlen vom Dezember 2020 zulassen. Ein unerwartet schlechtes Abschneiden der PSD an diesem Sonntag dürfte, und dies ist ausdrücklich zu hoffen, für mehr Aufruhr innerhalb der Regierungspartei sorgen, zumal es bei den Sozialdemokraten klar ist, dass für sie die Präsidentschaftswahlen verloren sind. Einen eigenen Kandidaten zu finden, erweist sich für die PSD als kompliziert. Der vorbestrafte Dragnea kann auf keinen Fall kandidieren, während Premierministerin Viorica Dăncilă die Zielscheibe des nationalen Spotts geworden ist. Bleibt natürlich der ambitionierte Călin Popescu Tăriceanu, doch auch er wird es nicht leicht haben. Bei der PSD-Basis wird ein von den Sozialdemokraten unterstützter Kandidat einer anderen Partei ziemlich schwer zu vermitteln sein und ohne diese Basis fehlt dem Ex-Premier Tăriceanu ein Apparat, den seine Zwergpartei ALDE, gebildet größtenteils aus Alt- und Jung-Sekuristen und Hinterbänklern mit überdimensionalen Ambitionen, nicht bereitstellen kann.


Und dann natürlich ist die junge USR-PLUS-Allianz. Die Zehn-Prozent-Marke dürfte sie überschreiten, ihre Wählerschaft bilden vor allem junge Berufstätige in den Großstädten, größtenteils Gutgesinnte, die unbedingt etwas anderes haben wollen, als das, was bisher war, deren größtes Problem jedoch der Mangel an politischer Bildung darstellt. Das führt zu merkwürdigen Auswüchsen, wie bei der jungen Architektin Oana Bogdan, die Kommunalkas bauen wollte, oder Andrei Caramitru, Sohn des Langzeitdirektors des Bukarester Nationaltheaters, der von Umerziehungslagern träumt, vielleicht auch nur deshalb, weil sein Vater so wundervolle Gedichte über Nicolae Ceaușescu vorzutragen wusste. Man kann sich, wie im Falle des deutschen Jusos-Vorsitzenden Kevin Kühnert fragen, was die beiden wohl geraucht haben. Und wieso es zu einem derartigen Verfall der politischen Kultur kommen konnte. Andererseits weiß man es ganz genau: Das Niveau war hierzulande noch nie besonders hoch, aber von Umerziehungslagern und Vergemeinschaftungen hatte seit 1989 nur der bereits erwähnte Vadim Tudor gesprochen. Der hat es immerhin bis in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen aus dem Jahr 2000 geschafft und ist später im Europaparlament zu Straßburg gestrandet.


Da am Sonntag dem Bürger nicht nur ein Zettel für die Europawahl in die Hand gegeben wird, sondern auch zwei andere, sollte auch darüber etwas gesagt werden. Präsident Klaus Johannis, der bereits um seine Wiederwahl kämpft, möchte vom Volke wissen, ob im Falle von Korruptionsstraftaten Begnadigungen und Amnestien verboten werden sollen und ob der Regierung verboten werden soll, Dringlichkeitsverordnungen in den Bereichen des Strafrechts (Straftaten und Strafen) sowie der Gerichtsverfassung zu verabschieden. Es ist davon auszugehen, dass der Großteil der teilnehmenden Wähler den Vorschlägen zustimmt und mit „Ja“ auf die beiden Fragen antwortet. Aber geschehen wird nichts. Am 27. Mai wird Rumänien weiterhin von derselben Regierung regiert, dieselben Gesetze sind in Kraft und eine Änderung bedarf einer Parlamentsmehrheit, die Präsident Johannis nicht hat und so schnell womöglich auch nicht haben wird. Sein Lager vertritt die Ansicht, dass die Wähler sich durch ein massives „Ja“ von der Strafrechtspolitik der gegenwärtigen Regierung abgrenzen und Johannis somit ein zusätzliches Druckmittel in die Hand bekommt, um Kabinett und Parlament in Schach zu halten. Die Rechnung dürfte nicht gänzlich aufgehen. Zum einen, weil sich viele Wähler mit der höchstmöglichen Verurteilung von Dragnea durch den Obersten Gerichts- und Kassationshof zufrieden geben könnten, zum anderen, weil sie die komplizierten Strafrechtsänderungen nicht weiter interessieren und diese sowieso nicht im Detail verstehen können.


Und dann bleibt noch ein verfassungsrechtlicher Aspekt von großer Bedeutung. Die Volksbefragung ist ein verfassungsrechtliches Mittel, das man nicht missbrauchen darf. Genauso wie die Europawahl, ist auch die Volksbefragung zu einem außerordentlichen Event stilisiert worden, von dem alles abzuhängen scheint. Es hängt, genauso wie im Falle des 2009er Referendums über die Höchstzahl der Abgeordneten und das Einkammerparlament, gar nichts von diesem Referendum ab. Im besten Falle ist es nur ein Rädchen im bevorstehenden Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl.


Ein Referendum darf nicht deshalb organisiert werden, um Zeichen zu setzen oder um politische Meinungen und Mehrheitsverhältnisse zu testen. Für Meinungen gibt es Umfragen, für Mehrheiten gibt es Wahlen, reguläre oder vorgezogene. Wenn man aber dem Volk erzählt, das Referendum ist lebenswichtig und alles hängt von ihm ab, am Tag darauf passiert aber rein gar nichts, vertut man politisches Kapital und kann nur schwer den Bürgern erklären, dass auch der nächste Urnengang eine Schicksalswahl ist. Der Eindruck der Unehrlichkeit entsteht gerade dort und dann, wo und wann er nicht entstehen sollte.


Am Sonntag sollte jeder wählen gehen, ohne Wenn und Aber. Jede Wahl, jede Volksbefragung ist an und für sich wichtig, aber nicht jede ist eine Schicksalsfrage. Für die Europäische Union als Staatengebilde, als Garantin des Friedens und des Wohlstands in Europa und auch in Rumänien, ist der 26. Mai sicherlich ein Tag von herausragender Bedeutung, die kommenden Jahre werden es zeigen. Die inländische Volksbefragung zur Justiz ist lediglich ein Mittel, ein politisches Werkzeug zweitrangiger Qualität. Schicksalswahlen wird es hierzulande sowieso genug geben: im Winter 2019 und im Winter 2020. Man sei gefasst.