Europäischer Sturm und rumänische Politik

Protestteilnehmer haben vielerlei Forderungen, aber keine Vorstellung von Alternativen

Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den sehr unterschiedlichen Demonstranten und ihren Forderungen: Nieder mit B?sescu! Nieder mit der Regierung Boc!
Foto: Christian Binder

Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen den sehr unterschiedlichen Demonstranten und ihren Forderungen: Nieder mit Băsescu! Nieder mit der Regierung Boc!
Foto: Christian Binder

Emil Boc zitierte in seinem B1TV-Interview in dieser Woche Winston Churchills Spruch „Demokratie ist die schlechteste Staatsform, ausgenommen all die anderen, die man von Zeit zu Zeit ausprobiert hat.“ Damit wollte (auch) unser Premier sagen, natürlich im Kontext der gegenwärtigen „spannungsreichen sozialen Situation“, dass es die perfekte Staatsform noch nirgendwo gibt, dass die Demokratie mit allen rechtlich erlaubten Mitteln geschützt werden muss, da sie, trotz mancher Mängel, nach wie vor, am besten geeignet ist, das Zusammenleben der Menschen zu regeln, die Grundrechte jedes Einzelnen gegenüber dem Staat zu sichern.
Diese Straßenproteste der letzten Tage, nicht minder ihre Ursachen, beweisen uns aber erneut, wie unterschiedlich die Menschen, egal ob an den Hebeln der Macht, in den Medien oder der Gesellschaft allgemein, einige dieser Rechte empfinden und ihre Instrumente einsetzten.

Beginnen wir mit der Demonstrationsfreiheit, eine Ausprägung eigentlich von Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Sie steht, so in den Büchern, praktisch jedem Menschen zu, der friedlich demonstriert, ohne die Grundrechte anderer zu verletzen. Es ist bestimmt gut, dass Bürgern gesetzlich die Möglichkeit gesichert wird, Unzufriedenheiten, Frust, Meinungen, Wünsche u. a. m. kundzutun. Und es ist genauso klar, dass die Rumänen heute alle Gründe der Welt haben, nicht glücklich zu sein. Worüber sollten sie auch jubeln? Über die geschrumpften Löhne und Renten? Über die 200.000 gestrichenen Arbeitsstellen im öffentlichen Bereich? Über die im europäischen Raum überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen (mehr als 23 Prozent)? Über das tolle Gesundheitswesen und seine Horror-Stories ohne Ende? Über die Erziehung? Die Korruption?

Nichtsdestotrotz sind diese Proteste, wie so vieles andere in Rumänien, untypisch. Die Demonstrationen sind meist nicht gemeldet, es gibt keinen konkreten Forderungskatalog.  Gegenstand oder Veranstalter der Versammlung sind eher unbekannt. Die Demonstranten verlangen vorverlegte Wahlen oder höhere Löhne und Renten, einige wollen die Einstellung des Goldförderungsprojekts in Roşia Montană, andere mehr Geld für die Hochschulen und Studenten. Der Großteil allerdings fordert den Rücktritt Traian Băsescus und der Regierung Boc, zurzeit allgemeingültige Symbole des Bösen hierzulande. Im Laufe der Tage gab es auch Protestler, die sich für die Monarchie aussprachen oder gegen die  politische Klasse allgemein. An den Kundgebungen landesweit nehmen Schüler und Studenten teil. Und Berufstätige und Arbeitslose, von Kleinkindern begleitet oder nicht. Und Rentner. Und leider Gottes auch Ultras. Viele kommen, um friedlich und demokratisch zu beweisen, dass ihre Geduld die Grenzen erreicht hat. Manche, weil sie von anderen gerufen worden sind. Oder aus Neugier. Einige, um ihr improvisiertes „Waffenarsenal“ einzusetzen und zu randalieren. Das alles erschwert eine Einordnung dieser Demonstrationen. Politologen sprechen von Kundgebungen gegen die Sozialpolitik des Regimes, sogar von Anti-System-Bewegungen. Es stimmt: Es gibt kaum sozioprofessionelle Kategorien oder Altersgruppen, die sich nicht beteiligen an den Protesten. Es ist auch unbestreitbar, dass die Anzahl der Unzufriedenen zu Hause noch viel größer ist.  

Das veranlasst Altpräsidenten Ion Iliescu, welch eine Ironie, nicht wahr?, wie alle seine Kollegen in der Opposition, auf vorgezogenen Neuwahlen zu bestehen, mit der Begründung, dass diese Protestwelle auf den Verlust der Unterstützung des Volkes für die regierende  Koalition deutet. Was durchaus möglich ist, wahrscheinlich, laut Umfragen, sogar stimmt, aber nicht aus den sozialen Unruhen der letzten Tage hervorgeht.

Denn, um zurückzukommen auf das mehr oder weniger originelle Verständnis von demokratischen Grundprinzipien: Demokratie, in Übersetzung Volksherrschaft, baut auf das Mehrheitsprinzip und das berücksichtigen die 20 oder auch 50 Tausend Protestler nicht. Was keinesfalls zu bedeuten hat, dass nicht jede einzelne Unzufriedenheit wichtig ist und zählt, was auch nicht heißt, dass sich ein Großteil der Menschen zu Hause nicht denselben Rücktritt von Băsescu, Boc und einer arroganten politischen Klasse, die den Wähler meist verachtet, wünscht. Nur: Das beste demokratische Mittel, Recht und zugleich moralische Pflicht, um das zu erfahren und genau zu erfassen, sind die Wahlen. Diese sollen 2012 allen rumänischen Bürgern die Möglichkeit geben, nicht allein das zu äußern, was sie nicht wollen (auf den Losungen der Demonstranten kann u. a. gelesen werden „Weg mit der PDL. Die PSD und die PNL wollen wir auch nicht“), sondern auch über die Alternative zu entscheiden.  

Eine wichtige Ursache all dieser vergangener und bestimmt auch künftiger Missstände in Rumänien ist das unglaublich ausgeprägte Manko an Kommunikation, das fast alle institutionellen, politischen und gesellschaftlichen Beziehungen dominiert: So bringt die Regierung Boc z. B. einen bedeutenden Teil ihrer Gesetze per Vertrauensfrage durch, ohne das Parlament zu befragen; Macht und Opposition führen sowohl in den Kammern als auch außerhalb keinen Dialog; Präsident und Ministerpräsident entlassen den Arzt Raed Arafat und ziehen das Projekt zum Gesundheitsgesetz zurück aufgrund von falschen Informationen; Gewerkschaften haben wenig Kontakt zu ihren Mitgliedern; Demonstranten verfolgen ihre Forderungen individuell; Tage nach dem Ausbruch der Protestwelle trauen sich noch immer wenige Politiker, sich mit der Situation öffentlich auseinanderzusetzen; den sonst medienfreudigen Staatschef sieht und hört in letzter Zeit auch keiner mehr; die Bevölkerung wird fast nie informiert von der Bedeutung der Maßnahmen, die getroffen werden, TV-Kanäle kommentieren obsessiv eher Rating sichernde und postenpolitisch richtige als informationsorientierte Nachrichten...

In seinem jüngsten B1TV-Auftritt sprach der Ministerpräsident, sehr spät, von dem in ganz Europa tobenden Sturm, von unpopulären und schmerzhaften Sparpaketen, die zwar zu einer stabilisierten Wirtschaft in Rumänien führen konnten, aber noch keine Lohn- und Rentenerhöhungen erlaubt. Er sprach von dem nötigen Dialog mit der gesamten politischen Klasse und der Gesellschaft allgemein, um anschließend Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft, Förderung der Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen durchsetzen zu können.

Inzwischen ist Raed Arafat ins Gesundheitsministerium zurückgekehrt. Die USL-Leader Victor Ponta und Crin Antonescu haben Emil Boc und seine Koalitionskollegen getroffen und in einem erneut tauben Dialog nichts anderes bestimmen können als die Einberufung einer außerordentlichen Parlamentstagung in der kommenden Woche. Sonst? Die Opposition will die Demission der Regierung und vorgezogene Wahlen, die Machthaber sind dagegen (nicht primär für die zahlreichen und groben Fehler ihrer Regierungszeit sollten ihre Köpfe jetzt rollen, sondern eher für die notwendigen, aber ungeschickt durchgesetzten Maßnahmen, die sie nicht imstande waren, zu erklären). Einige Bürger demonstrieren landesweit weiter, die meisten zu Hause sind mit gutem Recht unzufrieden. Noch in diesem Jahr sind Wahlen, da können sie alle zusammen etwas tun.