Flüchtlinge – eine Verantwortung auch für Rumänien

ADZ-Gespräch mit Mircea Mocanu, Leiter der Vertretung der Internationalen Organisation für Migration

Mircea Mocanu, Leiter der Vertretung der Internationalen Organisation für Migration in Rumänien
Foto: IOM

Angst um Leib und Leben, Verlust der Existenzgrundlage, mangelnde Stabilität und keine Zukunft für ihre Kinder, dies sind die Faktoren, die sie dazu bewegten, in der Heimat alles aufzugeben, um in Europa eine neue Chance zu suchen: Flüchtlinge. Viele riskieren ihr Leben. Manchmal bleibt ihnen nur dieses und die Kleidung am Leib. Dass die Massenflucht aus Syrien eine Konsequenz des Klimawandels ist, wie Mircea Mocanu, Leiter der Vertretung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Rumänien, erklärt, nimmt uns Europäer umso mehr in die Pflicht. Oder vielleicht sind wir die nächsten Opfer? „Vor neun Jahren zerstörte eine vierjährige Dürre die Wirtschaft in Syrien. Sie führte zu Instabilitäten und schließlich zum Krieg“, klärt Mocanu auf. „Stellen Sie sich vor, Sie sind Farmer mit 10.000 Hektar Land, das schon Ihre Eltern und Großeltern bewirtschaftet haben – und auf einmal produziert es vier Jahre lang nur noch Sand!“ Wenn 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung eines Landes mit Millionen Einwohnern betroffen sind, ist soziale Instabilität vorprogrammiert.

Migration. Seit Beginn der Menschheitsgeschichte ist sie immer wiederkehrende Realität. Die IOM, 1952 gegründet, um die nach dem Zweiten Weltkrieg in ganz Europa verstreuten Menschen in ihre Heimat zurückzuführen, ist längst eine regierungsübergreifende Einrichtung mit 155 Mitgliedsstaaten. Zu ihren Aufgaben gehört die Unterstützung von Migranten oder Opfern von Menschenhändlern, die Reintegration von Rückkehrern und das Erarbeiten rechtlicher Empfehlungen. Über die Herausforderungen der aktuellen Flüchtlingswelle aus Syrien spricht Mircea Mocanu mit Nina May.

Zum Einstieg eine banale Frage: Was bewegt all diese Menschen, ausgerechnet nach Europa zu drängen?

In Europa leben derzeit ca. fünf Prozent Einwanderer aus Drittländern, die dort noch Verwandte haben. Über moderne Kommunikationsmittel lassen sich Informationen, z. B. über mögliche Migrationsrouten, schnell verbreiten – auch in Flüchtlingslager im Libanon oder der Türkei, wo Menschen leben, deren Kinder seit Jahren keine Schule mehr besucht haben und deren Versorgung von internationalen Organisationen abhängt. In Europa sehen sie eine Chance, sich wieder eine Lebensgrundlage aufzubauen. Dies geht aus all unseren Interviews mit Betroffenen hervor.

Sie meinen, in den Flüchtlingslagern hat man Smartphones und Internet?

Neben dem Geld für die Reise ist der Erwerb eines Smartphones die wichtigste Investition für den Flüchtling, weil es ihn zeitnah mit essentiellen Informationen versorgt: neue Routen, Kartenmaterial, Tipps von denen, die unterwegs sind oder die es geschafft haben.

Wie viele Flüchtlinge aus Syrien sind bisher in Rumänien angekommen und was hat sie zu dieser Wahl bewogen?

In den letzten fünf Jahren etwa 800 bis 1000 pro Jahr. Davon haben 95-99 Prozent hier Familie oder Freunde, die ihnen erste Unterkunft und Hilfe bei sprachlichen Problemen oder Arbeitssuche bieten. Wenn die Asylantrag stellen, haben sie hier eine 95-prozentige Chance auf Anerkennung.

Und wie viele Flüchtlinge werden im Rahmen der vereinbarten Verteilung aus Italien und Griechenland erwartet?

Rumänien hat die Bereitschaft geäußert, innerhalb der nächsten zwei Jahre 6000 Flüchtlinge zugeteilt zu bekommen. Wer kommt, das bestimmen die Behörden in Italien und Griechenland zusammen mit IOM. Der Migrant kann auch Wünsche äußern, doch fast alle wollen nach Deutschland, und es ist klar, dass das nicht geht. Der Entscheidungsprozess dauert Monate – in der Zeit erreichen manche vielleicht aus eigener Kraft Deutschland und fallen damit raus. In den letzten Monaten wurden nur etwa 400 Migranten durch den von der EU festgelegten Mechanismus verteilt – das Ziel lag bei über 100.000.

Was sind die Kriterien für eine Verteilung nach Rumänien?

Zum Beispiel, dass jemand hier Familie hat. Auch das Aufnahmeland kann Bedingungen stellen, was die Herkunft der Flüchtlinge betrifft, z. B. wenn es bereits eine Community aus diesem Land gibt. Auch werden die Flüchtlinge danach ausgewählt, wie hoch ihre Chancen auf Anerkennung von Asyl oder subsidiären Schutz sind. Für eine Annahme kommen daher nur Staatsbürger aus Ländern mit mindestens 75-prozentiger Anerkennungsrate infrage – Syrer, Afghanen, Iraker, Eritreer.

Wie geht es hier mit ihnen weiter?

In Rumänien dauert das Antragsverfahren drei Monate. In dieser Zeit leben sie in einem der sechs offenen Flüchtlingslager in Bukarest, Giurgiu, Galaţi, Temeswar/Timişoara, Rădăuţi oder Şuncuţa Mare. Danach können sie durch unsere Programme oder mithilfe anderer NGOs an einem beliebigen Ort eine Wohnung suchen, finanzielle Unterstützung beantragen oder arbeiten. Oder illegal weiterreisen... was aber Risiken birgt! Denn dort muss erneut Asyl beantragt werden und nach der Dublin-Konvention gibt es die Möglichkeit der Rückführung, wenn das System einen Asylanten aus Rumänien identifiziert.

Wie sieht es mit Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus?

Über 65 Prozent der Syrer haben Hochschulausbildung, das hilft! Auch eine berufliche Spezialisierung ist nützlich. Dann ist natürlich wichtig, dass der Flüchtling auch den Kreis seiner Landsleute verlässt und die Sprache erlernt.

Sehen Sie eine Tendenz zur Bildung isolierter Parallelgesellschaften?

Derzeit gibt es sehr viele Enklaven, aber sie sind klein. Viele wollen zum Beispiel nach Colentina, dort gibt es in jedem Block mindestens eine Familie aus China oder eine, die Arabisch spricht. Im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung ist ihre Zahl jedoch gering, sodass wir noch kein Problem darin sehen.

Gibt es Probleme mit Vorurteilen, zum Beispiel gegen muslimische Einwanderer?

Im Online-Medium sind Hassreden gegen Muslime sehr ausgeprägt. Derselbe Trend wie in Westeuropa, aber bei uns ist die Fremdenfeindlichkeit rein deklarativ. In der direkten Konfrontation sehen wir keine sozialen Konflikte oder Sicherheitsprobleme. Was bedeutet, dass Hassreden von Leuten kommen, die das Phänomen nicht kennen, die noch nie einem Syrer begegnet sind. Die nicht wissen, was es bedeutet, in einem Lager zu leben, was Schiiten und Sunniten sind. Die Reaktion ist eine defensive: Sie hassen, weil sie etwas im Fernsehen gesehen haben, das sie nicht wollen. Aber diejenigen, die mit Bürgern aus Ägypten oder dem Libanon zu tun haben, verlieren das Hassgefühl gegenüber der arabischen Welt schnell, weil sie merken, dass es keinen Grund gibt. Es ist Unwissenheit, die zu Hass führt!

Was kann man dagegen tun?

Sehr wichtig wären wiederholte, klare Signale seitens der Landesführung, der Regierung und der Presse, dass Rumänien hilfebedürftigen Menschen Unterstützung gewährt. Nicht nur alle paar Monate, sondern bei jeder sich bietenden Gelegenheit! Die Botschaft muss auch zu den lokalen Behörden durchdringen, die sich mit Integration konfrontiert sehen. Ein Problem ist auch, dass diese oft gar nicht wissen, wie sie mit einem konkreten Fall umgehen sollen, welche Gesetze anwendbar sind. Deshalb beginnen wir noch in diesem Monat mit einer Aufklärungskampagne.

Mit welchen Organisationen und Behörden arbeitet IOM zusammen?

Mit dem Generalinspektorat für Immigration im Innenministerium, mit der UNO-Flüchtlingshilfe (UNHCR). Wir werden auch mit dem Arbeitsministerium und den Rathäusern der großen Städte kooperieren, wo die meisten Flüchtlinge hinkommen. Aber: Rumänien ist für Migranten derzeit kein attraktives Zielland. Ihre Anzahl wird jedoch zunehmen, wenn die Wirtschaft wächst. Deshalb müssen die Mechanismen für Integration jetzt etabliert werden.

Denken Sie auch an eine Art Mentorship, bei dem Staatsbürger Flüchtlingen helfen, bei Amtsgängen oder bei den Hausaufgaben in der Schule?

Dieses Modell ist in Westeuropa verbreitet, aber bei uns machen das die Integrationsbeamten in den Zentren, zumindest am Anfang. Weil Rumänien noch wenig Erfahrung hat, wollen wir die ersten Schritte nicht der Bevölkerung überlassen. Einige Jahre später kann man sie einbinden, doch das muss in Babyschritten geschehen, sonst können Schwierigkeiten auftreten.

Haben Sie ein Beispiel für einen gut integrierten Flüchtling, der vielleicht auch beruflich erfolgreich ist oder hierzulande etwas Positives bewirkt hat?

Raed Arafat! Obwohl er kein Flüchtling ist... er kam zum Studium nach Rumänien. Er ist Ehrenbotschafter der IOM – und ein Drittstaatler, der hier einen enormen Beitrag geleistet und unzählige Leben gerettet hat. Der Fall zeigt: Wir brauchen Fremde! Sie kommen oft mit neuen Ideen, großer Einsatzbereitschaft, anderen Visionen. Vor Kurzem kam auch eine syrische Familie zurück, die schon seit Langem die rumänische Staatsbürgerschaft hat, dann aber freiwillig wieder nach Syrien ging und wegen des Krieges erneut flüchtete. Ein Vater mit zwei Kindern, der eine Junge ist sehr begabt am Klavier und sogar bei „Românii au talent“ aufgetreten! Es gibt viele, die sich hier von unhöflichen Schalterbeamten oder Straßenlöchern nicht einschüchtern lassen, weil sie wissen: Wo sie herkommen, ist es viel schlimmer. Sie denken nur daran, sich eine Zukunft aufzubauen.

Wie geht man mit den Traumen der Vergangenheit um?

Viele, die auf dem Weg nach Westeuropa in Rumänien landeten, sind stark traumatisiert. Es gibt Familien mit drei, vier Kindern, die einen Monat lang zu Fuß gegangen sind, von Syrien, durch die Türkei. Die meisten sind zwar bereit, über Erfahrungen zu reden, aber sie haben eine unglaubliche Fähigkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nur an die Zukunft zu denken. Sie möchten viel lieber davon sprechen, wie sie sich integrieren können, was sie später tun. Jede Etappe – die Ankunft in Griechenland, in Mazedonien, in Serbien – ist für sie ein Schritt zum Besseren. Sie sind voller Ehrgeiz weiterzukommen: geografisch und sozial.

Von welcher Altersgruppe sprechen Sie?

Von den 25- bis 50-Jährigen. Ältere sind nur dabei, weil ihre Kinder sie mitgenommen haben, sie wollten sie nicht zurücklassen. Alleinstehende gibt es kaum. Aber ich habe Frauen ohne Mann gesehen, die wegen ihrer Kinder nach Europa wollten.

Wie stellt sich die Lage der Flüchtlingskinder dar?

Manche sind in Flüchtlingslagern geboren worden und kennen nichts anderes. Es gibt Zehn- bis Zwölfjährige, die noch nie in der Schule waren!

Wie kann man diese noch integrieren?

Man macht eine Evaluierung und schaut, in welche Klasse man sie geben kann. In diesem Alter saugen Kinder Informationen auf wie ein Schwamm. Ihre Integration hängt davon ab, wie schnell sich Verlorenes aufholen lässt. Jedes Jahr, das ohne Schulbesuch oder nur in einer improvisierten Lagerschule vergeht, hat bis ins Erwachsenenalter gravierende Auswirkungen.
Es gibt auch Menschen, die seit 30 Jahren auf der Flucht sind: Zur Zeit des Krieges in Afghanistan flüchteten zwei Millionen in den Iran. Dann brach dort der Krieg aus und sie flüchteten in den Irak, und als es dort losging, nach Syrien. Das lässt sich mit keiner Erfahrung aus unserem Vorstellungsbereich vergleichen! Ein Europäer kann nicht nachempfinden, wie es ist, wenn man aus einer Stadt rausgeworfen wird.

Und auch diese blicken in die Zukunft, ohne vom Schrecken eingeholt zu werden?

Die meisten finden innere Ressourcen, das alles zu überwinden, bis sie in eine stabile Situation gelangen.

Was sind ihre Ängste, wenn sie im Zielland angekommen sind?

Dass man sie zurückschickt, bevor der Konflikt beendet ist. Ansonsten drehen sich ihre Befürchtungen meist um die Kinder und verletzbare Angehörige, um den Zugang zur Schule und zum Gesundheitssystem.

Wie wird letzterer bewerkstelligt?

Jeder Flüchtling bekommt eine Personenkennziffer CNP und kann sich damit beim Hausarzt anmelden. Meist wissen die Flüchtlinge schnell Bescheid – ein neues Formular oder wo man was beantragen muss, spricht sich wie ein Lauffeuer herum. Oft wissen sie mehr als die Einheimischen. Sie haben eine hohe soziale Intelligenz – anders als wir, die wir uns daran gewöhnt haben, viel mehr vom Staat abzuhängen. Auch hier helfen ihnen moderne Kommunikationsmittel: Sie sind sehr versiert in den neuen Technologien – ein Smartphone um 500 Dollar, das nicht mal ich mir kaufe, ist für einen Syrer eine überlebenswichtige Investition, für die er sich notfalls auch von Verwandten Geld leiht.

Welche Botschaft möchten Sie noch übermitteln?

Es sind vulnerable Personen, die JETZT Hilfe brauchen! Und es ist klar, dass eine Bevölkerung von 500 Millionen Menschen in Europa von einer Million Flüchtlinge - oder sogar zwei bis fünf Millionen - nicht destabilisiert werden kann. Wenn doch, dann war das Fundament eben nicht ausreichend solide.
Was ihnen passiert, kann auch uns jederzeit treffen. Noch vor Kurzem gab es in der jetzigen EU bewaffnete Konflikte auf dem Balkan und Flüchtlinge aus dem Kosovo...
Es ist klar, dass die Bilder von aggressiven Jugendlichen und solche, die Migranten in „Parias“ unserer Gesellschaft verwandeln, Manipulationen der Presse sind! Die Mehrheit der Einwanderer ist nicht so. Wenn wir ihnen eine Chance geben, haben wir mehr zu gewinnen als zu verlieren. Ganz wichtig aber ist: Menschen, denen einmal geholfen wurde, geben diese Geste bereitwillig weiter - im Gegensatz zu denen, die Hass und Zurückweisung erfahren haben.

Vielen Dank für die Ausführungen!