Freiwilligenarbeit und Engagement für die Heimat

Ukrainische Frauen „kämpfen“ in Temeswar für ukrainische Mitbürger

Mehrere Flüchtlinge aus der Ukraine organisierten Anfang des Sommers einen Flashmob auf dem Temeswarer Freiheitsplatz. Sie stellten sich vor, sie würden mit ihren Frauen, Kindern, Vätern, Müttern und Freunden tanzen, die angesichts der russischen Kugeln und Bomben zu Hause geblieben sind.

Evgenia Rozbytska hat in den letzten Monaten geholfen, eine Brücke zwischen der ukrainischen Gemeinschaft und den Rumänen vor Ort zu bauen. Jane, wie sie von den meisten genannt wird, möchte das Gute fördern.

„Ich bin keine Nationalistin, sondern eine Patriotin. Ich liebe einfach mein Land“ – sagt Helena (Lena) Serbinovych. | Fotos: privat

Alle für einen gemeinsamen Zweck – zum ukrainischen Unabhängigkeitstag, am 24. August, wird in Temeswar eine Veranstaltungsreihe ausgetragen, für die auch eine Wandmalerei im Studentencampus entstehen soll. Der rumänische Künstler Andrei Drăgan (LUX) arbeitet derzeit an seinem Werk.

Anfang August besuchte Helena zum ersten Mal ihre Heimatstadt Odessa und war überrascht zu sehen, wie sehr sich der Geist der Stadt und der dort verbliebenen Menschen verändert hat. Von Schmuck (erstes Bild) und Straßenkunst bis zu blau-gelben Eissorten (unten) – alles spricht für „Slava Ukraini“.

Über 2600 Flüchtlinge aus der Ukraine wurden in den letzten fünf Monaten offiziell in Temeswar/Timișoara registriert. Knapp über 1000 von ihnen haben sich vorübergehend in der Stadt und in den umliegenden Ortschaften niedergelassen. Diese Menschen haben Pakete, Sozialgutscheine und eine Unterkunft erhalten, sie wurden bei der Arbeitssuche unterstützt und man hat ihnen generell geholfen, diese schwierigen Zeiten leichter zu überstehen. Mehr als 360 haben auch eine Arbeitsstelle gefunden. Freiwilligenarbeit, Hilfsaktionen, Sozialisierungsevents – all das hat in den letzten Monaten zu einer neuen Gemeinschaft vor Ort geführt. Die Mehrheit davon, Frauen mit Kindern verschiedenen Alters, Großmütter und Männer - Menschen, die sich zu Beginn des Jahres nicht einmal kannten, schließen sich für ein gemeinsames Ziel zusammen: für die Ukraine zu überleben und ihrer Heimat, auch wenn aus der Ferne, beizustehen. 

„Wie kann ich euch helfen, anderen Menschen zu helfen?“ Mit dieser Frage kam Evgenia Rozbytska Mitte März nach Temeswar. Die 40-jährige Ukrainerin ist schon am ersten Tag, in den ersten zwei Stunden nachdem die Bomben am 24. Februar in der Ukraine niedergegangen sind, mit ihrer Familie, Mann und Sohn, aus Odessa geflüchtet. Ihr erster  Halt in Rumänien war in Klausenburg/Cluj-Napoca. Als aktive Person, die in den letzten Jahren im Bereich der Eventveranstaltung und im Tourismus in der Ukraine tätig war, hatte Evgenia einen einfachen Wunsch: Mitbürgern aus der Ukraine auf ihrer Flucht vor dem Krieg zu helfen. „Das, was uns nach Temeswar zog, war das gut organisierte Unterstützungszentrum für Flüchtlinge vor Ort, denn ich wollte unbedingt mithelfen“, erzählt Evgenia, die in Temeswar einfach Jane gerufen wird. 

Ukrainer in Temeswar

Durch ihre guten Englischkenntnisse konnte sie weiteren ukrainischen Flüchtlingen wichtige Informationen vermitteln. Zuerst war sie im Unterstützungszentrum als Freiwillige tätig, doch da die Anzahl der Menschen, die gegen Ende März in Temeswar ankam, immer größer wurde und die Informationen fast immer die gleichen waren, fragte sie sich, wie man das alles effizienter organisieren könne. So gründete Jane die Telegram-Gruppe „Ukrainians in Timișoara“ (Ukrainer in Temeswar), wo mit-tlerweile um die 700 Personen aus der Ukraine Mitglied sind. Alle notwendigen Informationen sind nun dort hochgeladen, damit Landsleute, die entweder auf der Durchreise in der Begastadt sind oder gerade angekommen sind und länger bleiben umfassend und korrekt informiert werden: Welche Dokumente braucht man als Flüchtling in Rumänien? Wie kann man eine Unterkunft bekommen? Wo gibt es Versorgungshilfe? Wie finde ich einen Job? Und vor allem: Wie kann ich mit anderen Menschen aus der Ukraine in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, in Verbindung treten? Zu all diesen Fragen gibt es nun eine Antwort online, einfach einen Mausklick entfernt. 

Sie half auch bei der Erstellung eines Fragebogens, die die Mitglieder der Telegram-Gruppe ausfüllen können. „Dies hilft, zu erfahren, was für Ukrainer hier Zuflucht gefunden haben. Wir haben so erfahren, dass unter uns, in unserer ukrainischen Gemeinschaft in Temeswar, Maniküristen, Friseurinnen, Köche, Professoren, Übersetzer und sogar Musiker sind. Wir sind mit ihnen allen in Verbindung getreten und wenden uns an sie, wenn wir ihre Dienstleistungen brauchen und unterstützen sie so finanziell“, erzählt Jane. 

In den letzten Monaten ist Jane die Leitfigur dieser Gemeinschaft vor Ort geworden. In der Zwischenzeit wurde sie auch zur Koordinatorin des Sozialladens für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, der Anfang Juli in Temeswar eröffnet wurde. Der Laden in der Dorobanților-Straße Nr.9 ist von Montag bis Donnerstag von 12 bis 20 Uhr offen. Hier haben Flüchtlinge aus der Ukraine Zugang zu einer breiten Palette von Produkten, die von Privatpersonen und Unternehmen gespendet wurden. Der Ort gilt aber auch als Treffpunkt für die ukrainische Gemeinschaft in Temeswar.

Ob im Laden oder im Haus der Temescher Jugendstiftung (FITT), bei den Treffen mit der ukrainischen Flüchtlingsgemeinschaft oder bei der Dokumentation für die Lage der Immigranten unserer Zeiten für das Banater Projekt „Moving Fireplaces“ (zu Deutsch: Kamine/Heimstätten in Bewegung) hilft Evgenia Rozbytska immer gerne.

Es wird ein langer Krieg werden

„Wir haben ganz schnell begriffen, dass dies nicht unser Krieg ist – es ist nicht ein Krieg der Ukrainer gegen die Russen, sondern umgekehrt. Es ist ein Kampf um die Demokratie und wir sind uns alle bewusst, dass wir alles tun müssen, diese zu erhalten“, erzählt Jane. „Uns wurde langsam klar, dass dieser Krieg nicht bald zu Ende gehen wird. Wie unser Leben in einem Jahr aussehen wird? Wo werden wir in den nächsten Jahren leben und wie? Das alles können wir nicht mehr einschätzen. Der Krieg hat uns gelehrt, immer nur einen Schritt nach dem anderen zu planen. Ich bin hier, in Temeswar, in einer Stadt, von der ich vor einem halben Jahr nicht einmal wusste, dass sie existiert. Ich tue jetzt alles, was ich kann, meinen Mitbürgern vor Ort zu helfen, aber bleibe immer in Gedanken bei den Menschen, die nicht entkommen konnten und weiterhin in der Ukraine leben. Durch unsere Arbeit hier können wir auch die Leute dort finanziell, aber auch mit notwendigen Produkten, unterstützen“, sagt Jane, deren Mann als IT-Fachmann in Temeswar weiterarbeitet und so Geld in die Ukraine schicken kann. „Viele Freunde von uns leben weiterhin in Kiew, sie alle arbeiten nun für diesen gemeinsamen Zweck“, setzt sie fort. 

Ukrainischer Unabhängigkeitstag in Temeswar 

Am 24. August ist der Nationalfeiertag der Ukraine. Offiziell wird er auch als Unabhängigkeitstag von der Sowjetunion gefeiert. In diesem Jahr bekommt die Feier eine besondere Bedeutung. Die Gemeinschaft der ukrainischen Kriegsflüchtlinge in Temeswar bereitet eine Reihe von Events zu diesem Anlass vor. Eine Wandmalerei soll im Studentencampus auf einer Seitenwand eines Studentenheimes entstehen. Aber auch ein Videomapping-Event für die Ukraine soll an der Fassade der Temeswarer Staatsoper stattfinden. Dafür werden u. a. Bilder der ukrainischen Volkskünstlerin Marija Prymatschenko gezeigt. Prymatschenko (1908-1997) war Dorfmalerin, Vertreterin der naiven Kunst. Das Jahr 2009 wurde von der UNESCO zum Jahr von Marija Prymatschenko erklärt. Nach dem Ausbruch des Krieges Ende Februar sind jedoch 25 Gemälde der Volkskünstlerin nach einem Bombenangriff im Museum für Geschichte und lokale Kunst in Iwankiw zerstört worden. Die Ukrainer sammeln nun Fonds, um ein neues Prymatschenko-Museum zu bauen und die einzigartigen verbliebenen Werke der Malerin zu schützen. „Der Zweite Weltkrieg war für Marija Pryma-tschenko Inspiration. Nun gelten ihre Werke als Symbol des aktuellen Krieges. Dass wir uns für das Video-mapping-Event in Temeswar für Prymatschenkos Werke entschieden haben, ist unsere Art, zu versuchen, bei der Errichtung des neuen Museums zu helfen, indem wir für die Autorenrechte für diese Bilder, die wir in Temeswar zeigen werden, bezahlen. Wir freuen uns sehr, dass wir vom Temeswarer Projektzentrum eine Finanzierung in dieser Hinsicht erhalten haben“, sagt Evgenia Rozbytska. 

Zusammenhalten ist wichtig

Das man auch so zum Kampf für die Erhaltung der Unabhängigkeit beitragen kann, davon ist auch ihre Mitbürgerin Helena Serbinovych überzeugt. Die 36-jährige ukrainische Journalistin hat mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in den ersten Tagen nach dem Ausbruch des Krieges ebenfalls Odessa verlassen. Dass es tatsächlich zu einem Krieg in der Ukraine kommen würde, hate sie sich nie richtig vorstellen können. Doch dann sind Bomben in Odessa gefallen: „Man konnte sie von unseren Wohnungsfenstern in der Ferne auf dem Meer sehen. So habe ich begriffen, wir müssen unsere Kinder in Sicherheit bringen“, erzählt Helena (Lena). 

In Rumänien fanden sie zuerst Zuflucht in Galatz und Brăila, doch von einer ukrainischen Freundin erfuhr sie, dass es in Temeswar nicht so viele Flüchtlinge – Anfang März gab es in der Begastadt um die 200 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine - hingegen eine sehr gut organisierte Hilfskampagne für Ukrainer gibt. „Die Stadt Temeswar war für mich komplett unbekannt“, gibt die Ukrainerin zu. Es ist wichtig, zusammenzuhalten – davon ist Helena fest überzeugt. So entschied sie sich ganz schnell, sich freiwillig für die immer größere ukrainische Gemeinschaft hier zu engagieren. Ihre Englischkenntnisse waren genau so wie im Falle von Evgenia ein wesentliches Plus und eine Kommunikationsbrücke zwischen den Rumänen und den ukrainischen Flüchtlingen, die in der westrumänischen Stadt ankamen. 

Die ukrainische Familie hat sich schnell vor Ort eingelebt. Helenas Mann arbeitet online als Finanzanalyst; Lena hat Aufträge als Copywriter für diverse Webseiten, ihre Kinder - ein Sohn (7) und eine Tochter (8) - nehmen an Sozialisierungskreisen und Schulstunden teil. In der Zwischenzeit ist auch Helenas Schwester nach Temeswar gekommen. 

Nachdem es in Odessa wieder etwas ruhiger wurde, entschieden sich beide Schwestern Anfang August, ihre Heimatstadt an der Schwarzmeerküste noch einmal zu besuchen. „Es war das erste Mal nach dem russischen Angriff auf die Ukraine und nach unserer Flucht, dass ich die Stadt und unser Zuhause besucht habe. Ich konnte sehen, wie viel sich in der Zwischenzeit verändert hat – von einer touristischen Stadt wurde Odessa nun zu einer sehr patriotischen Stadt – der Kampf der Ukrainer ist überall zu sehen“, erzählt Helena. Doch was sie am meisten berührt hat, war die Stimmung in der Stadt – „die Menschen, die geblieben sind, führen derzeit ein friedliches Leben. Viele haben sich entschieden, nicht mehr in Stress und Terror zu leben, sondern wollen ihr Leben hundertprozentig genießen. Sie haben sich an den Bombenalarm gewöhnt und können sogar den Raketenklang von allen anderen Geräuschen unterscheiden. Eine Freundin von mir hat sogar ein Café in den letzten Monaten in Odessa eröffnet. Wenn ich keine Kinder gehabt hätte, wäre ich bestimmt auch in der Ukraine geblieben“, so Helena Serbinovych. „Ich bin sehr stolz auf die, die geblieben sind, auf ihren Kampfgeist. Jeder versucht, sich neu zu organisieren. Alles hat jetzt mit dem Krieg zu tun. Einige stellen patriotische T-Shirts her, andere arbeiten im Bauwesen für Wiederaufbau und Reparaturen – schicken einen Teil ihres Einkommens an das ukrainische Militär oder engagieren sich als Freiwillige“, setzt die Journalistin mit Tränen in den Augen fort.

„I choose the way by my heart“ 

Der englische Motivationssatz, auf Deutsch übersetzt „Ich wähle den Weg nach meinem Herzen“ ist auf Helenas Schlüsselbein kursiv zu lesen. Vor etwa einem Jahr hat sie sich dieses Motto tätowieren lassen – „das war vielleicht eine Vorahnung“, meint sie. Nun hat sie ihr Herz nach Temeswar gebracht und möchte hier weiterhin für die ukrainische Gemeinschaft aktiv bleiben.  „Mir ist genauso wie Jane wichtig, dass die Rumänen wissen, wie sehr wir ihre Hilfe hier schätzen und möchten immer, in allem, was wir organisieren, unsere Dankbarkeit zeigen. Auch meine Wohnung in Odessa habe ich für eine Frau aus Nikolaev bereitgestellt. Genauso, wie wir hier eine Wohnung bekommen haben, bieten wir unsere Wohnung Binnenflüchtlingen an, die dort Zuflucht suchen“, erzählt Helena. Was sie am meisten betrübt ist, dass es unter den vielen Ukrainern, die hier Zuflucht gesucht haben, auch solche gibt, die nur auf Hilfe warten, ohne es tatsächlich auch zu verdienen. „Es gibt Flüchtlinge aus Städten und Regionen, die vom russischen Angriff gar nicht betroffen sind. Sie sind nach Rumänien und in andere Länder gekommen und erfreuen sich an Gratissachen, doch es gibt Mitbürger, die weiterhin in der Ukraine in den gefährlichsten Zonen geblieben sind, die unsere Hilfe benötigen“, sagt sie. 

Was Helena bisher am schwersten fiel, war, ihren Kindern über die Grausamkeiten des Krieges zu erzählen. Die Kleinen haben verstanden, dass sie nun in Sicherheit sind. Schwer zu vermitteln aber ist, dass es Kinder wie sie gab, die nicht entkommen konnten, die den russischen Angriffen zum Opfer gefallen sind. „Es gibt aber keinen einzigen Tag, an dem wir nicht an unsere Heimat denken und uns wünschen, bald wieder zurückkehren zu können“, schließt die Journalistin.