Friedensvordenker gesucht

Randbemerkungen

Das Plädoyer des 98jährigen Henry Kissinger in Davos, die Ukrainer sollten auf die von Russland eroberten Gebiete verzichten, als Ausgangsbasis für Friedensverhandlungen, war so unrealistisch realistisch, dass man noch einmal drauf zurückkommen muss. Der Ex-US-Außenminister und angeblich auch Trump-Berater meinte also, dass die Ukraine höchstoffiziell auf die Okkupation der Krim von 2014 und auf die Eroberung zweier wirtschaftlich bedeutender Regionen der Ukraine durch die Russen 2022 per Gebietsverzicht reagieren müsste, Fakten akzeptiert, damit es – eventuell – zu einem Frieden in Osteuropa kommen kann.

Dass die Ukraine nicht in einem, für russisches Organisierungsvermögen, „Blitzkrieg“ zu erobern ist, davon konnte sich Putin rasch überzeugen. Das lenkte auch viel Wasser auf die Mühlen derer, die Russland konsequent unterschätzen. Gegenwärtig ist die Gefahr, die von Russland auf die Nachbarländer der Ukraine ausgeht (dies selbst nach der jüngsten Meldung, dass Transnistrien seine Unabhängigkeit und einen „Anschluss“ an Russland anstrebe) in nahezu allen Tagesmeldungen auf eine zweitrangige Medien- und Interessensebene verdrängt worden. Die Russen und die Ukrainer knallen sich weiter gegenseitig ab. Die Ukrainer werden mit immer weiteren Waffen(systemen) aus dem Westen unterstützt (Großbritannien und die USA tun sich hervor). Die Russen zerbomben alles, was ihnen nur irgendwie zerbombensmöglich erscheint. Sie verüben Völkermord (Wohngebiete, Handelszentren, öffentliche Kultur- und Versammlungsräume, Schulen und Krankenhäuser, ganze Wohnviertel werden zerstört, egal, wie viele Kinder und Wehrlose dabei umkommen), sie sind auf dem Weg, Herren über eine verbrannte Erde zu werden. Sie schrecken vor keinen Übertretungen des Kriegsrechts zurück (laut Moskau ist es gar kein Krieg, sondern eine „Sonderoperation“) und arbeiten sich langsam, aber stetig aggressiv auf ukrainischem Hoheitsgebiet vor. Die Drohung Lawrows, dass man sich russischerseits nicht auf die Krim, Donezk und Luhansk beschränken werde, konkretisiert sich.
Die Ukrainer „verteidigen die Werte Europas“ (die sie selber vor dem 24. Februar kaum ernstgenommen hatten), erfreuen sich einer – abnehmenden – Sympathie. Mit dem verringerten Medieninteresse für die laufende Berichterstattung sinken auch die Sympathiewerte für die Ukraine. Sie müssen zwischendurch ihre eigenen Reihen laufend von Verrätern und Spionen säubern: Der Abgrund und die Brücke, beide unkonsolidiert, die zwischen Russen und Ukrainern, zwischen moskauhörigen Orthodoxen und Kiewhörigen herrscht, gebiert Monster und spaltet Familien. Sie hängen zudem (vor allem militärisch und finanziell) fatal am Tropf der „freien Welt“. Dazwischen die verzweifelten Hilferufe Selenskyjs an den Westen, der zunehmend in den eigenen Reihen, auch seiner Vertrauten, aufräumen muss, aber seine Durchhalte- und „Keinen-Schritt-zurück“-Rhetorik mit rauher Stimme eisern durchzieht.

Wir haben es mit einem Krieg Russlands gegen die Welt zu tun, der ideologisch, kulturell und auch religiös (die Orthodoxie versteht sich grundsätzlich als Dienerin des jeweiligen Staats, in dem sie vorherrscht)  geführt wird. Das Ende dieses (im Moment als „festgefahren“ zu bezeichnenden) Krieges bestimmt (auch) unsere Zukunft.

Ähnlich war´s mit dem Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg. US-Präsident Woodrow Wilson berief damals 150 US-Hochschulwissenschaftler, um die Weltlage zu studieren. Herauskam die Wilson-Doktrin, die „pax americana“. „Demokratie“, „kollektive Sicherheit“. „Selbstbestimmung“, „offene Diplomatie“, „Entwaffnung“ kamen auf, verpackt in 14 Prinzipien. Die Liga der Nationen.
Wo gibt es heute weltweit die 150 Hochschulwissenschaftler, jene Friedensvordenker, die eine „pax mundi“ skizzieren könnten: Die Regeln für das internationale Zusammenleben (in Wohlstand ...) nach diesem Krieg?