Genscher, Kohl und Ceauşescu

ADZ-Interview mit Dr. Heinz Günther Hüsch, dem deutschen Verhandlungsführer in der Familienzusammenführung (V)

Symbolfoto: sxc.hu

Der Anwalt Dr. Heinz Günther Hüsch war von 1968 bis 1989 Deutschlands Verhandlungsführer in der Frage der Familienzusammenführung von Rumäniendeutschen. Die Verhandlungen erfolgten mit Vertretern der Securitate. Rumänien hat sich das Erteilen von Ausreisegenehmigungen mit Millionen DM bezahlen lassen. Es folgt der letzte Teil des von Hannelore Baier Anfang September geführten Interviews.

Jeder deutsche Politiker brachte Listen mit sogenannten „Härtefällen“ nach Rumänien mit, die Personen oder Familien umfassten, deren Ausreise beschleunigt werden sollte. Wie gelangte man Ihrer Erfahrung nach auf derartige Listen in Deutschland ...

Das kann ich nicht beurteilen. Petitionen, in denen man sich für die Ausreise von Personen aus Rumänien einsetzte, gab es in Hülle und Fülle. Sie kamen in der jeweiligen Behörde an, an die sie gerichtet waren. Wenn bekannt wurde, der deutsche Bundespräsident werde nach Rumänien reisen, wurden sie an ihn gerichtet. Andere Politiker haben ähnliche Bittschriften erhalten. Es hat aber wenig genutzt. Die rumänischen Verhandlungspartner haben mir gegenüber erklärt, diese Listen seien unwichtig. Einigermaßen bearbeitet wurde eine Liste, die Bundespräsident Karl Carstens übergeben hatte. Später erfolgte der Auftrag an mich, die Erledigung anzumahnen und zu sagen, wenn die rumänische Seite dieser Bitte nicht nachkommt, halten wir es als die Nichteinhaltung der Zusage, in Einzelfällen tätig zu werden. Der Bitte wurde dann in beachtlicher Weise stattgegeben. Aber es hat eine Fülle Listen gegeben – ich weiß, dass Landesminister mit 200 Fällen gereist sind, und es reisten immer mehr Personen, die glaubten, in dieser Frage ein Gewicht zu haben – die blieben liegen. Ich habe in Einzelfällen nur interveniert, wenn ich von meinem Auftraggeber darum gebeten wurde. Im Verlauf der 22 Jahre waren es etwa 200 Fälle.

Rumäniendeutsche Politiker sprachen in der Nach-Wende-Zeit von einer „Genscher“-Doktrin bezüglich der Rumäniendeutschen, d. h. die Bundesrepublik unterstützt jene, die im Land bleiben wollen, genauso wie für jene Bemühungen angestrengt werden, die ausreisen wollen. Wurde diese Politik – die es tatsächlich gab – auch in Deutschland als „Genscher“-Doktrin bezeichnet bzw. war es eine „Doktrin“ Genschers?

Das scheint mir eine rumänische Erfindung zu sein. Genscher war anfänglich an der Familienzusammenführung nicht beteiligt. Als sie 1968 begann, war Kai Uwe von Hassel CDU-Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte und im Ministerium gab es wenig Einfluss der FDP. Nachdem das erste Vertrauen gefasst wurde – zu identifizieren mit dem Vertrag von Stockholm vom 7. März 1969 und erst recht nach dem zweiten Stockholmer Vertrag vom 7. September 1970, der auf 5 Jahre laufen sollte – war es klare Weisung an mich, zu erreichen, was man erreichen könne.

Hans Dietrich Genscher, das hat er in einem Interview gesagt, ist von der Problematik erstmalig unterrichtet worden, nachdem er nach der Bildung der rot-gelben Koalition unter Willy Brandt Innenminister wurde. Unter Genscher verlief die Familienzusammenführung zunächst weiterhin auf der sachbearbeitenden Ebene: Der Ministerialrat sprach mit mir und das war zunächst Herr von Wietersheim, später dann Herr Meissner. Er war persönlicher Referent von Innenminister Maihofer  gewesen.

Ich vermute, die „Genscher-Doktrin“ bezieht sich auf die Zeit, als er Außenminister war – und in der Sache eigentlich gar keine Befugnis mehr hatte. Er hatte aber die Kontakte zu den Landsmannschaften, die er auch pflegte. Das zum einen. Zum anderen hat er sehr enge Beziehungen zu Stefan Andrei geführt. Der war zunächst Sekretär für außenpolitische Fragen der RKP und verkehrte bei der SPD in der Baracke und auch in Stockholm. Über die Botschaft in Stockholm unterhielt die SPD in jenen Jahren Kontakte nach Rumänien und Russland.

Als Genscher nicht mehr Innenminister war, wollten seine Nachfolger, er solle wissen, dass sie für die Familienzusammenführung zuständig seien, und in dieser Zeit habe ich der rumänischen Seite mehrmals auftragsgemäß gesagt, der zuständige Minister ist nicht Genscher. Die rumänischen Gesprächspartner haben mir jedoch ausdrücklich gesagt, auch wenn Herr Genscher nicht mehr für unsere Problematik zuständig sei, sie möchten dennoch über mich den Kontakt zu ihm behalten. Ich erhielt im Lauf der Zeit auch immer wieder mal Botschaften von ihnen mit der ausdrücklichen Bitte, sie Herrn Genscher vorzutragen. Das ist dann auch passiert – allerdings nicht ohne meinen Minister zu unterrichten. Und es gab Botschaften auch an Herrn Klaus Kinkel, als er Chef des Bundesnachrichtendienstes war. Wie zum Beispiel in der jugoslawischen Affäre.

Und die wäre?

Die Nachricht, die ich sofort an Kinkel weiterzuleiten hatte, muss ich wohl um 1980 erhalten haben.
Tito hatte sich ja aus dem Ostraum gelöst und amerikanische Jagdflugzeuge bekommen. Dazu hatten alle NATO-Partner beigetragen, offen oder verdeckt. Nun wurde Tito krank und es herrschten Befürchtungen, die Sowjetunion werde Titos Tod zum Anlass nehmen – möglicherweise unter Nutzung der Strukturen der kommunistischen Parteien – um wieder Einfluss in Jugoslawien zu gewinnen. Man fragte sich, ob es eine sowjetische Intervention geben und wie sie sich vollziehen werde. Die Sowjets hätten nach Jugoslawien über Luftlandetruppen gelangen können – aber da waren die Amerikaner ihnen überlegen, sie hätten die abgeschossen, ihre 6. Flotte war im östlichen Mittelmeer versammelt. Der Weg über Bulgarien war lang, also kam ein Durchmarsch durch Rumänien in Frage. Die Botschaft, die man mich bat weiterzuleiten, lautete: Die Sowjetunion habe formell in Bukarest bei Ceauşescu nach Durchmarschrechten angefragt. In welcher Stärke, wollte ich wissen und erfuhr: von mehreren Brigaden. Meine nächste Frage: Wie lautete die Antwort? Das werden wir nicht tun, das sei absolut abgesichert, wurde mir beschieden. Nun wollte ich wissen, warum sie mir das sagen. Wir möchten Sie bitten, das Herrn Kinkel vorzutragen, hieß es. Wir haben dann gerätselt: War es ein Versuch, sich einzuschmeicheln, oder gab es eine politische Bewegung in Rumänien, die auch für mich erkennbar war, die politische Bindung zur Sowjetunion – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – zu lockern.

Für westeuropäische Politiker in den 1980er Jahren ungewöhnlich, ist Außenminister Genscher oft nach Rumänien gereist. 1983 zum Beispiel tat er das Ende Mai – nach dem Zustandekommen der vertraulichen Vereinbarung – und im August nochmals. Hatte das mit der Frage der Familienzusammenführung zu tun bzw. waren Aspekte ungeklärt geblieben, die er versuchte zu klären?

Für Genscher waren diese Besuche nicht außergewöhnlich. Er traf sich regelmäßig mit Stefan Andrei. Das mag vielleicht auch an der Tatsache gelegen haben, dass er vermeinte zu spüren, dass sich etwas tut, sich manches verändert. Ich war da immer skeptisch, bis zum Schluss. Aber meine Gesprächspartner waren ja auch die Securitate-Leute, da erhält man eine andere Sichtweise. Mich hatte es im Mai 1983 auch gewundert, dass Außenminister Genscher nach dem Zustandekommen der Vereinbarung nochmal nach Rumänien fuhr, aber das muss andere Gründe gehabt haben. Man darf bei Genscher nie übersehen, dass er ein guter Außenminister war – er hat die deutschen Interessen sehr gut vertreten – aber er war auch Wahlkämpfer und wollte die Erfolge schon auf seine Person zuziehen, obwohl er für die Familienzusammenführung nicht mehr zuständig war.

Er hat sich dafür aber offensichtlich zuständig gefühlt, denn er war auch der erste deutsche Politiker, der im Januar 1990 kam und den Rumäniendeutschen sagte, das Tor bleibt offen, sie mögen zunächst kommen und sich Deutschland anschauen und dann den Entschluss fassen, ob sie bleiben oder gehen.

Dieses Handeln müssen Sie in die Persönlichkeit Genschers einordnen. Er hat damit zwei Signale gegeben: Zunächst das Signal, wir nehmen nach wie vor Rumäniendeutsche auf, und das andere Signal galt der rumänischen Seite und wollte besagen, wir werben niemanden ab. Das Tor war ja auch offen. Nach meinen Kenntnissen hat es keine einzige Aktion gegeben, die Rumäniendeutschen zu drängen oder zu veranlassen, das Land zu verlassen. Im Gegenteil, wir haben im zweiten Bein den Versuch unternommen, die Lebensbedingungen zu verbessern für die Leute, die in Rumänien bleiben. Es gab zahlreiche humanitäre Angebote, und wir hatten vorgeschlagen, Sozialzentren zu bauen – die ja nach 1990 dann auch gebaut worden sind. Aber diese Angebote sind alle abgelehnt worden.    

… zuletzt von Ceauşescu beim Treffen mit Ihnen im Oktober 1988, worüber Sie im ersten Interview berichtet hatten.
 
Kanzler Kohl hatte mich dahin entsandt. Er hatte mich gefragt, ob ich fahren würde, weil er sich auf einem anderen Weg als dem diplomatischen einen Eindruck verschaffen wollte von der Situation. Der Hintergrund war das Bemühen, bei Ceauşescu eine größere Öffnung in den humanitären Fragen zu bekommen, denn wenn das gelingt, werde auch Honecker nachgeben müssen, war er der Ansicht. Die beiden waren ja die Hardliner im Ostblock geblieben.
Helmut Kohl ist politisch ein Machiavelli-Typ, er kann Personen gegenüber auch ziemlich brutal sein, aber umgekehrt hat er auch eine weiche Stelle und er litt mit den Menschen mit, von denen er erfuhr, dass sie in Bedrängnis lebten. Zudem hatte er die Befürchtung gehabt, es könnte sich ein Nationalitäten-Unruhe-Herd entwickeln aufgrund der ungarisch-rumänischen Spannungen. Es hat wohl auch Bitten der ungarischen Regierung an Kanzler Kohl gegeben, behilflich zu sein in der Lösung der ungarisch-rumänischen Probleme.

Welchen Eindruck hinterließ Ceauşescu?

Einen gespaltenen. Frau Dr. Zenkert, die Geschäftsträgerin der deutschen Botschaft, war dabei und hat das Treffen deutlich beobachtet und protokolliert. Es war ein hartes, aber respektvolles Gespräch. Nach etwa 20 Minuten wurde klar, dass Ceauşescu keine der Erwartungen Helmut Kohls erfüllen werde. Mitte Juli/August 1988 hatte sich der Bundeskanzler zu einem Besuch in Bukarest bereiterklärt, wenn er dadurch eine Verbesserungen für die Ausreisewilligen und die Verbleibenden erreichen könnte, was in seinem Brief stand, den ich Ceauşescu überreicht hatte. Ceauşescu lehnte ab. Als ich daraufhin sagte, ich glaube, es werde Kanzler Kohl unter diesen Umständen sehr schwer fallen, den Besuch zu machen, fing er an zu stottern und war sichtlich erregt. Das Gespräch hat dann noch weitere 20 Minuten gedauert und am Ende wurden Fotos gemacht, obzwar kein Fototermin vereinbart war.

Ceauşescu wusste wohl, dass er gemieden wird...

Ich hatte Kanzler Kohl gefragt, ob er auch tatsächlich reisen würde, wenn die Auflagen erfüllt werden. Er sagte mir, er wäre bereit, es zu tun. Er war bereit, sich außenpolitischen Schwierigkeiten auszusetzen, wenn er in der humanitären Frage etwas hätte erreichen können, das war Kohl’sche Überzeugung.

Der Besuch bei Ceauşescu wurde protokolliert ...

Von deutscher Seite gibt es zwei Protokolle über das Gespräch: Die Aufzeichnung, die ich gemacht habe, und jene von Dr. Zenkert. Darin ist festgehalten worden, dass Ceauşescu zu stottern beginnt und in seinem Gesicht Rötungen und Zuckungen bemerkbar sind durch die innere Erregung, als ich erklärte, der Besuch des Kanzlers hängt von der Lösung humanitärer Fragen ab. Ceauşescu hatte nicht bloß die Erhöhung der Aussiedlerzahlen abgelehnt, sondern auch Hilfsleistungen für das rumänische Volk. Das sei bestens versorgt und man dächte daran, Pakete an die deutschen Arbeitslosen zu schicken. Ich sagte Ceauşescu, ich habe den Eindruck, örtliche Funktionäre würden ihm Tatsachen verschweigen. Frau Zenkert zuckte bei dieser Aussage zusammen, Ceauşescu schwieg.
Auf rumänischer Seite war ein Protokollführer zugegen. Seine Aufzeichnungen kenne ich nicht. Zudem wurde das Gespräch abgehört. Später habe ich erfahren, dass es zu einem Streit unter den Securitate-Diensten gekommen ist, wer das Tonband mit der Gesprächsaufzeichnung als erster bekommt und wer es behalten darf.