Geschichte zum Greifen nah

Jugendliche setzen sich mit den Herausforderungen der Oral History auseinander

Nicht nur informativ, sondern auch kreativ: Die Schülerinnen und Schüler schufen einen anschaulichen Familienstammbaum. Den Workshop koordinierte die Künstlerin Renée Renard.

Der Achtklässler Andrei Banda aus Teregova gibt sich richtig Mühe, damit ein anschaulicher Familienstammbaum entsteht.

Projektleiterin Simona Hochmuth schaut sich die Ergebnisse der künstlerischen Werkstatt an.

Gruppenarbeit ist bei den Schülerinnen und Schüler n besonders beliebt. Man kann dabei nicht nur etwas lernen, sondern auch Spaß haben.
Fotos: Die Verfasserin

In der Kunstabteilung der Temescher Kreisbibliothek brennt an diesem Samstagnachmittag das Licht. Betritt man den Raum in der Theresien-Bastei, so sieht man viele junge Menschen, die fleißig ihrer Arbeit nachgehen. Sie schneiden aus, kleben, zeichnen, stellen Fragen. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in Gruppen – eine bei jungen Menschen beliebte Methode im Unterricht. Ihr Auftrag ist kein leichter: Sie müssen, anhand von Bildern und Informationen von ihren Eltern und Großeltern, den eigenen Familienstammbaum aufstellen. Den Workshop zum Familienstammbaum koordiniert die Temeswarer Künstlerin Renée Renard.

„Es ist das dritte Mal, dass wir uns in dieser Werkstatt treffen. Davon ausgehend, dass ich schon vor einigen Jahren versucht habe, die Geschichte meiner eigenen Familie zu erfassen, habe ich die Koordination dieses Workshops übernommen. Zu meiner eigenen Familiengeschichte habe ich bereits eine Ausstellung organisiert“, sagt Renée Renard. „Ich habe den Jugendlichen erzählt, wie man einen Familienstammbaum aufstellt. Dieser kann witzig, dramatisch oder wie es jedes Kind fühlt sein“, erklärt Renée Renard. Die Jugendlichen haben Kopien von Familienfotos mitgebracht, die sie dann auf Plakaten kleben. Und zwar so, dass das Ergebnis nicht nur informativ, sondern auch optisch gut aussieht.

Der Workshop, den die Künstlerin Renée Renard in Temeswar leitet, ist Teil der Veranstaltung „Begegnung der Generationen in der Zeitzeugenbefragung“, ein Projekt des Kulturvereins Agora Unit aus Temeswar mit Unterstützung der Hanns Seidel Stiftung Rumänien und des Demokratischen Forums der Deutschen im Banat. 36 Schülerinnen und Schüler von drei Bildungseinrichtungen aus Temeswar (das Waldorf- und Kunstlyzeum sowie das Technische „Emanoil Ungureanu“-Kolleg) und drei aus dem Kreis Karasch-Severin (das „Mircea Eliade“-Kolleg und das „Diaconovici Tietz“-Nationalkolleg aus Reschitza sowie das „Sf. Dimitrie“-Lyzeum aus Teregova) machen bei der dritten Auflage des Projekts mit. Erstmals sind auch Schüler dabei, die die duale Ausbildung nach deutschem Muster am Temeswarer Ungureanu-Kolleg absolvieren.

Erlebte Geschichte ergänzt historische Dokumente

Erlebte Geschichte ist ein Fach, das Jugendliche und Erwachsene zugleich fasziniert. Dass es den Schülerinnen und Schülern Spaß macht, sich an dem zweitägigen Projekt zur Oral History zu beteiligen, ist nicht zu übersehen. „Ich habe viel Neues dazugelernt, insbesondere zum Thema der Bărăgan-Deportation. Jetzt weiß ich auch, wo ich mich informieren muss, wenn ich mehr zu einem gewissen Thema erfahren möchte“, sagt Cristian Florin Anghel, der die elfte Klasse am Temeswarer Kunstlyzeum besucht. Raul Rusu aus der neunten Klasse am Waldorf-Lyzeum zeigt sich begeistert über die Methoden und Techniken der Oral History. „Ich habe gelernt, wie ein Interview strukturiert sein muss und wie wir uns als Fragesteller zu verhalten haben. Am meisten hat mir der Leitfaden zum Interview gefallen“, sagt der junge Mann. Auch Anisia Chincea vom Diaconovici-Tietz-Nationalkolleg aus Reschitza findet, dass sich ihre Beteiligung  an dem Projekt gelohnt hat. „Die beiden Projekttage waren sehr aufschlussreich. Es ist ein interaktives Projekt, das im kommenden Jahr fortgesetzt wird“, sagt die Neuntklässlerin. Zwar sei Geschichte nicht unbedingt ihr Lieblingsfach, dennoch findet sie, dass viele spannende Themen damit verbunden sind. Etwas Interessantes kann jeder in der Geschichte finden – egal, ob es sich dabei um die eigene Familiengeschichte oder eine andere Art von Geschichte handelt.

Patricia Grozăvescu und Andrei Banda kommen ebenfalls aus dem Banater Bergland, und zwar vom Technologischen „Sf. Dimitrie“-Lyzeum aus Teregova. „Das Projekt fand ich sehr interessant. Einige Sachen hatten wir schon aus dem Geschichtsunterricht gekannt, denn unsere Geschichtslehrerin hat bereits im Unterricht über das Interview gesprochen“, sagt der Achtklässler Andrei. „Vor zwei Wochen habe ich, zusammen mit einer Kollegin, ein Interview zum Thema ´Helden und Antikommunismus´ geführt. Hier haben wir neue Sachen gelernt, die uns bestimmt nützlich sein werden“, sagt die Neuntklässlerin Patricia. „Was einige der Referentinnen erzählt haben, hat mich teilweise auch emotional berührt“, fügt sie hinzu. „An unserer Schule haben wir als Optionalfach Journalismus. Dennoch waren diesmal viele Neuigkeiten dabei, Sachen, die mir im Leben weiterhelfen werden – auch wenn Journalismus zurzeit keine Studienoption für mich darstellt“, sagt Armina Lăzărescu aus der zwölften Klasse am Mircea-Eliade-Kolleg aus Reschitza. Armina hat sich schließlich für Fremdsprachen an der West-Universität in Temeswar entschieden.

Lebensgeschichten, die inspirieren

Interaktiv, lebendig, spannend, kreativ: Diese sind nur einige der Schlagwörter, die die Schüler benutzen, um die beiden Projekttage zu beschreiben. Simona Hochmuth, die Vorsitzende des Vereins Agora Unit und Initiatorin des Projekts, zeigt sich mit dem Verlauf der zweitägigen Veranstaltung zufrieden. „Wir versuchen, weniger formell zu sein – so ist auch die Oral History, weniger formell. Das Spannende an der Zeitzeugenbefragung sind manchmal die Übertreibungen, das Ausbleiben der Erinnerung. Sie ist aber auch wichtig für jene Epochen, in denen die Dokumente fehlen oder gar lügen können“, sagt Simona Hochmuth. „Oral History heißt nicht nur Zeitzeugenbefragung, sondern auch Gemälde, Dinge, die bestimmten Menschen gehört haben, Sachen, die Geschichten ´erzählen´ können“, erklärt die Geschichtslehrerin aus Temeswar. Durch solche Projekte wie die „Begegnung der Generationen“ möchte Simona Hochmuth die jungen Leute für die Geschichte begeistern. „Die Lebensgeschichten können inspirieren -  sie können einem Theaterstück oder einer anderen Art von Text zugrunde liegen. Geschichte bedeutet weit mehr als Daten oder Bilder von Herrschern an den Wänden“, sagt die Projektleiterin.

 „Es ist wichtig, dass jeder seine eigene Vergangenheit kennt. Wenn man die Geschichte der eigenen Familie kennt, dann versteht man auch den ganzen historischen Kontext viel besser“, schlussfolgert die Künstlerin Renée Renard. Geschichte steht zwar in Büchern geschrieben, doch man kann sie auch selbst herausfinden. Hauptsache, man ist neugierig und stellt Fragen. Das Projekt zur Zeitzeugenbefragung endet erst, nachdem alle Teilnehmer sozusagen die „richtigen Fragen“ gestellt haben: Die Schülerinnen und Schüler müssen nämlich Anfang des kommenden Jahres Interviews mit Zeitzeugen führen, die dann in einem Buch festgehalten werden. Themen wie die Bărăgan-Deportation und der Kommunismus werden dabei behandelt. Voraussichtlich im April, Mai 2018 sollen die Ergebnisse des Projekts dem breiten Publikum vorgestellt werden.