Großer Preis für Dokufilm über zwei Roma-Kinder

130 Filme auf dem Astra-Festival in Hermannstadt gezeigt

Szene aus dem preisgekrönten Streifen „Spartacus & Cassandra“

Trotz einer sehr guten Auswahl der Dokumentationen waren leider nur die wenigsten Filmvorführungen so gut besucht wie die Preisverleihung.
Foto: die Veranstalter

Im Juni des vergangenen Jahres finden Passanten einen leblosen, blutüberströmten Körper in einem Einkaufswagen im französischen Ort Pierrefitte-sur-Seine. Es ist derjenige des 16-jährigen Darius, einem Roma-Jungen, der Opfer von Lynchjustiz wurde. Darius überlebt mit mehreren Schädelbrüchen, schwerverletzt. In den Paris umgebenden Plattenbauschluchten, den sogenannten Banlieues, der in Beton gemeißelten Ghettoisierung, bilden Roma den Rand des Randes der französischen Gesellschaft. Anderswo verjagt, campieren sie häufig im rechtsfreien Niemandsland zwischen Autobahnen, Bahngleisen und Wohntürmen, in das sich die Polizei nur traut, um es zu räumen. In einem dieser behelfsmäßigen und stets von der Räumung bedrohten Lager lebt auch Camille. Die junge Französin entschied sich, an Ort und Stelle einen Zirkus zu bauen, um bei den Roma zu bleiben. Sie glaubt, wenn sie da ist, wird die Polizei nicht räumen. Im Zirkus heißt Camille auch Spartacus und Cassandra willkommen, die beiden Roma-Kinder mussten erst kurz zuvor mit der ganzen Familie ein anderes Lager verlassen und sind die beiden Hauptdarsteller in Ioanis Nuguets gleichnamigem Dokumentarfilm, der am vergangenen Samstag bei der Preisverleihung des Astra Film Festivals in Hermannstadt/Sibiu mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Der stark alkoholabhängige und oft gewalttätige Vater sowie die psychisch kranke Mutter können sich nicht mehr angemessen um die beiden kümmern. Fortan bringt die Trapezkünstlerin Camille Stabilität in das Leben von Spartacus und Cassandra, während sich für die Eltern die Spirale aus Armut und Hoffnungslosigkeit weiter abwärts dreht.

Der französische Regisseur Ioanis Nuguet lernt 2010 erst Camille und kurze Zeit später die beiden Geschwister kennen. Schon seit einigen Jahren hat er eine besondere Bindung zu Roma-Familien in Seine-Saint-Denis, lebte sogar selbst eine Zeit lang mit ihnen. Sein Film „Spartacus & Cassandra“ ist ausschließlich die Geschichte der beiden Kinder. Der Zuschauer soll verstehen, was die Kinder verstehen. Einem größeren Kontext, dem politischen Hintergrund, verwehrt sich Nuguet. Als sich Camilles Glaube als Trugschluss erweist und die Polizei das Roma-Lager räumt, stellen die französischen Behörden Spartacus und Cassandra vor die Wahl, entweder sie werden in einer Pflegefamilie untergebracht oder sie kehren zurück zu den Eltern auf die Straße. Eine existenzielle Frage für die beiden Roma-Kinder: Müssen wir wirklich so leben, wie wir leben? Das von Ioanis Nuguet mit einer für das Genre typischen Handkameraästhetik gefilmte Drama war eine von mehreren Dokumentationen des Astra Film Festivals in Hermannstadt/Sibiu, welche das Leben von Roma betrachtete. In dem mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichneten Film „Toto und seine Schwestern“ zeigt der in Bukarest geborene und in Deutschland lebende Alexander Nanau die schwierige Gegenwart der Roma im berüchtigten Bukarester Stadtteil Ferentari. Keineswegs erwartet den Zuschauer dabei ein Armutsporträt der Roma. Stattdessen zeigt Nanau auf sehr emotionale und intensive Weise das Leben der Kinder und weckt im Zuschauer den Wunsch zu helfen. Im Gegensatz zu Nuguet hält Nanau allerdings Abstand zu den Protagonisten seines Films. Der Franzose, das sagte er selbst in einem Interview, hätte in eine Szene wie die, als Toto neben jungen Männer sitzt, die sich auf dem Sofa Drogen spritzen, eingegriffen.

Die Dokumentation „The Long Way Home“ stellt das Roma-Sein zunächst etwas zurück. Im Vordergrund steht die besondere Problematik internationaler Adoptionen, die endlosen Formalitäten, die starre Bürokratie sowie die sprachlichen Probleme. In einem Sofioter Waisenhaus trifft Regisseurin Boryana Puncheva auf kurz vor der Adoption ins Ausland stehende Kinder sowie die neuen Eltern. Erst im Verlauf des Films fokussiert Puncheva auf Ilia. In einem Roma-Slum der bulgarischen Hauptstadt geboren, der Vater gewalttätig und die Mutter mit ihren bereits fünf Kindern überfordert, kommt er als Baby in das Sofioter Waisenhaus und wird schließlich mit vier Jahren nach Frankreich adoptiert. Zwanzig Jahre später macht er sich auf den Weg zu seiner leiblichen Mutter und den insgesamt sieben Geschwistern. Sie alle leben ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft noch immer im Slum. Der adrett gekleidete junge Franzose wirkt und – so scheint es auch für den Zuschauer – fühlt sich auch selbst deplatziert. Ilia bezeichnet sich selbst als Roma, doch so recht möchte man ihm dies nicht abnehmen. Es ist ein Aufeinandertreffen der Kulturen, die verschiedener kaum sein könnten. Tief im Gedächtnis bleibt der Satz eines Bruders: „Er (Ilia) spricht kein Bulgarisch, also ist er gebildet.“ Es ist dies eine Aussage, die den Zuschauer zunächst zum Schmunzeln verleitet, ihn dann aber sofort bedrückt zurücklässt, sagt sie doch so viel über den Teufelskreis der Armut und die Perspektivlosigkeit der Roma in Bulgarien aus.

Zu den weiteren Preisträgern des Festivals gehören in der Kategorie „International“ die französische Dokumentation „Je suis le peuple“ von Anna Roussillon über die Ägyptische Revolution, gesehen durch die Augen des Bauern Farraj. Farraj lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Luxor. Sein Leben ist bestimmt durch tägliche Stromausfälle, defekte Maschinen und harte Feldarbeit. Am Fernseher verfolgen er und die anderen Dorfbewohner das Geschehen auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die Hauptstadt ist über 600 Kilometer entfernt und Farraj hat eine andere Sicht auf die politischen Ereignisse im Land: „Gerechtigkeit ist wichtiger als Demokratie. Demokratie kann man nicht essen.” Die Bauernfamilie macht sich ihre ganz eigenen Sorgen. „Jede Revolution hat ihre guten und schlechten Seiten – hier sind mehr schlechte als gute“, sagt die Tochter der Familie. Eindrucksvoll greift der Film die Sicht der Landbevölkerung auf und gibt den politischen Ereignissen in Ägypten so eine völlig neue Dimension. Als bester Film in der Kategorie „Zentral- und Osteuropa“ wurde die tschechische Dokumentation „My Home“ ausgezeichnet. In der Kategorie „Studenten“ gewann Ildiko Zonga Plajas „Swamp Dialogues“ den Preis für den besten Film sowie Teresa Czepiecs Kurzfilm „Super Unit“ die Auszeichnung für die beste Kameraführung.

In der Kategorie „Rumänien“ gewann Andrei Schwartz’ „Himmelverbot“. Es ist das Porträt eines Mannes, der zwei Menschen umgebracht hat, aus Rache, wie er gleich am Anfang in die Kamera sagt – und es ist zugleich die Geschichte einer Freundschaft. Bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Geschlossene Gesellschaft“ über das Hochsicherheitsgefängnis Rahova lernt Schwartz 2002 den zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilten Doppelmörder Gavril „Gabi“ Hrib kennen. Als Rumänien der Europäischen Union beitritt, erlauben Gesetzesänderungen Gabis vorzeitig Entlassung, nach 20 Jahre hinter Gittern. Schwartz begleitet ihn zwei Jahre lang. Er zeigt die Probleme eines Mannes in einer Gesellschaft, die den Umgang mit ehemaligen Straftätern nicht gefunden hat, er erzählt von einer Familie, die an der Geschichte zu zerbrechen droht, und von der Perspektivlosigkeit und Arbeitsmigration nach Deutschland. Es sind die großen Themen der rumänischen Gesellschaft, die Schwartz gekonnt verarbeitet, und doch bleibt es auch die Geschichte von Regisseur und Hauptdarsteller. Über die Jahre erzählt Gabi ihm verschiedene Versionen seiner Motivation zur Tat. Sie reden und reden, gehen zurück an den Tatort und doch bleiben viele Fragen offen. Der Regisseur Schwartz will gleichwohl Antworten und trifft, um Licht ins Dunkel zu bringen, die folgenschwere Entscheidung, Einsicht in die Akten zu beantragen. Das Astra Film Festival fand in diesem Jahr unter der Schirmherrschaft des rumänischen Staatspräsidenten statt. Aus über 1500 eingereichten Filmen wurden 130 aufgeführt. Zum Abschluss wurden am Sonntag noch einmal alle prämierten Filme gezeigt.