„Hier hast du viele Mütter gehabt“

Ingelore Prochnow kam im KZ Ravensbrück zur Welt. Eine autobiografische Skizze

Ingelore Prochnow

Die Registrierkarte mit dem Vermerk „Lager verlassen, Kind zurück gelassen”.

Blick auf das ehemalige Lagergelände: Bei Ingelore Prochnow kommen hier viele Emotionen hoch.

Ingelore Prochnow im Gespräch mit jungen Journalisten, im Rahmen der diesjährigen Internationalen Begegnung des Maximilian-Kolbe-Werks e.V. in Ravensbrück.
Fotos: Christine Chiriac

Auf dem Gelände des ehemaligen größten deutschen Frauen-Konzentrationslagers, in unmittelbarer Nähe des Städtchens Fürstenberg an der Havel, liegt heute die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Insgesamt waren dort bis zur Befreiung Ende April 1945 rund 130.000 Frauen sowie fast 900 Kinder inhaftiert – zerstörte Menschenleben und Schicksale von einer Härte, die man sich heute kaum vorstellen kann.

Auch Ingelore Prochnow ist im April 1944 im KZ Ravensbrück geboren. „Ich bin als Häftling zur Welt gekommen“, sagt die unaufdringliche, introvertierte Frau mit ernstem Blick. „Ich bin zwar keine Zeitzeugin mit eigener Erinnerung, aber ich fühle mich trotzdem als ‘Ravensbrückerin’.“ Ihre Mutter, Renate Rohde, wurde im Dezember 1943 mit dem Haftgrund „Verkehr mit Polen” festgenommen. Damals war sie 19 Jahre alt und im fünften Monat schwanger. Dass ihr Kind im Lager auf die Welt kam und dort ein Jahr lang überlebte, dass Mutter und Kind den Todesmarsch im Frühjahr 1945 lebendig überstanden – all das grenzt an ein Wunder.

1945 nahm nur der Krieg ein Ende – nicht auch der Schmerz, das Leid der Mütter und Kinder von Ravensbrück. Heute lebt Ingelore Prochnow mit ihrem Mann in Bielefeld. Sie hat zwei Töchter. Ihr ganzes Leben wurde von den Folgen des Krieges geprägt, jahrzehntelang war sie auf der Suche nach ihrer eigenen Geschichte. Darüber berichtete sie auch im März dieses Jahres, im Rahmen der Internationalen Begegnung des Maximilian-Kolbe-Werks e.V., „Nahaufnahme – Damit die Erinnerung überlebt“. Ihre Geschichte zeichnete Christine Chiriac auf.

„Lager verlassen, Kind zurück gelassen”

Nach der Befreiung 1945 lebte ich bis zum Alter von ungefähr dreieinhalb Jahren mit meiner Mutter zusammen in verschiedenen Orten in Westdeutschland. In der Silvesternacht 1947 wurde ich schließlich von ihr in einem Flüchtlingslager in Siegen allein zurückgelassen – auf der Registrierkarte steht der handschriftliche Vermerk: „Lager verlassen, Kind zurück gelassen”. Dies alles erfuhr ich jedoch erst 40 Jahre später bei meiner Spurensuche.

Ein Ehepaar konnte mich in Siegen ohne Formalitäten als Pflegekind mitnehmen, was sicher nur aus der besonderen Nachkriegssituation zu verstehen ist. Ich lebte etwa ein Jahr bei ihnen. 1949 wurde ich von einer Mitarbeiterin der Caritas in Begleitung eines Polizisten aus diesem Haushalt herausgeholt. Nachbarn hatten besorgt wegen meines vielen Schreiens und Weinens das zuständige Jugendamt informiert. Ich war knapp fünf Jahre alt und stark unterernährt, ich wog nur noch neun Kilo. Etwa in dieser Zeit setzt meine Erinnerung ein.

Ich wurde dann zu einem älteren kinderlosen Ehepaar gebracht, das mich adoptieren wollte. Dazu war jedoch die Zustimmung meiner leiblichen Mutter erforderlich. Dem Jugendamt waren zwar immer wieder neue Aufenthaltsorte meiner Mutter bekannt, sie wurde angeschrieben, doch kurz darauf war sie mit unbekanntem Ziel verzogen. Deshalb musste ich erst 16 Jahre alt werden, um meiner eigenen Adoption zustimmen zu können.

Das Verhältnis zu meinen Adoptiveltern war schwierig. Sie wussten durch das Jugendamt von meiner Herkunft, hatten jedoch beschlossen, mir nichts darüber zu erzählen. Aus immer wiederkehrenden, mir jedoch nichts erklärenden Andeutungen entnahm ich, dass mit meiner Geburt irgendein Geheimnis verbunden war.

Je älter ich wurde, umso mehr rankten sich meine Gedanken um meine Herkunft. In meinem Ausweis steht als Geburtsort „Ravensbrück”. Ich suchte und fand in meinem Schulatlas den Namen in Mecklenburg, mit dem Zusatzhinweis „Gedenkstätte”. Ich wusste zwar vage seit meiner Schulzeit, dass es in Ravensbrück ein KZ gegeben hatte, aber was hatte das mit mir zu tun?

Jahrzehntelange Suche nach den Wurzeln

Mitte der achtziger Jahre, nach dem Tod meiner Adoptiveltern, konnte ich gezielt mit der Suche nach meiner Mutter beginnen. Beim zuständigen Jugendamt verlangte ich Einsichtnahme in meine Vormundschafts- und Adoptionsakte. Ich werde nie vergessen, wie ich fassungslos vor meiner Akte saß und mir als erstes der Satz in die Augen sprang: „Das Kind Ingelore Rohde, geboren am 5. April 1944 im KZ Ravensbrück …...” Ich musste lesen, dass meine Mutter mich in der Silvesternacht 1947 allein zurückgelassen hatte - „böswilliges Verlassen” wurde das im Amtsdeutsch  genannt. Außerdem las ich, dass sie sich dem Auffinden durch das Jugendamt viele Jahre lang entzogen hatte.

Mit den wenigen Daten über mich und meine Mutter, die mir anfangs bekannt waren, wandte ich mich an den Suchdienst des Roten Kreuzes in Bad Arolsen und an die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, damals noch in der DDR. Keine der beiden Institutionen konnte mir weiterhelfen. 

Dann kam mir der Zufall zu Hilfe. Wir lasen in einer Bielefelder Tageszeitung von einem Vortrag über das Frauen-KZ Ravensbrück, den eine Frau Gertrud Müller aus Stuttgart halten wollte. Sie war Vorsitzende der „Lagergemeinschaft”, eines Zusammenschlusses von Überlebenden, der sich nach dem Krieg gebildet hatte. Ich nahm Kontakt zu Frau Müller auf, die von den „Ravensbrückblättern” berichtete, einer Zeitschrift, die vierteljährlich für die Mitglieder der Lagergemeinschaft erschien. In die Ausgabe vom April 1986 setzte ich eine Suchanfrage: „Wer und wo ist meine Mutter?”

Tatsächlich meldete sich meine Mutter kurze Zeit später schriftlich bei Frau Müller. Es kam zu einem Treffen zwischen ihr und mir. Jeder kann sich denken, mit welchem Herzklopfen, mit welcher Hoffnung und Erwartung ich zu diesem Treffen fuhr. Ich hatte gehofft, mein Suchen, mein Fragen sei nun zu Ende. Aber zu meinem größten Kummer saß mir eine völlig fremde Frau gegenüber. Wir konnten keine Beziehung zueinander herstellen. Die meisten meiner vielen Fragen blieben unbeantwortet.

Ich erfuhr lediglich, dass mein Vater ein polnischer Zwangsarbeiter war, mit dem sie zusammen im Sommer 1943 auf einem Bauernhof in der Nähe von Magdeburg gearbeitet hatte. Nach einer Denunziation sind beide von der Gestapo verhaftet worden. Meine Mutter kam bald darauf nach Magdeburg ins Polizei-Gefängnis und von dort über die Sammelstelle Berlin-Alexanderplatz mit einem Transport nach Ravensbrück. Über den weiteren Verbleib meines Vaters wusste sie nichts.
Geburtsort: Konzentrationslager

Im Herbst 1990, nach dem Fall der Mauer, fuhr ich mit meinem Mann zum ersten Mal nach Ravensbrück. Ich stand dort und schaute mich um, sah die stille, friedvolle Landschaft, Boote auf dem Wasser, eine Idylle. Nur wenige Meter entfernt hatte es zehntausendfachen Tod und Vernichtung gegeben. Hinter dieser Mauer, in einer der vielen Baracken, hatte mein Leben begonnen.

Im Jahr darauf nahm ich zum ersten Mal an einer Befreiungsfeier teil, die jedes Jahr Ende April stattfindet. Ich war damals 47 Jahre alt und war dennoch für die alten Ravensbrückerinnen „das Kind“. Ich legte Blumen vor dem Erschießungsgang nieder, stand mit anderen Überlebenden am Ufer des Schwedtsees und warf zum ehrenden Gedenken an die Ermordeten, deren Asche auf dem Grund des Sees ruht, rote Nelken auf das Wasser. Es wurde mir zu einem Bedürfnis, wenigstens ein Mal im Jahr in Ravensbrück zu sein, an der Lagermauer zu stehen, über das Gelände zu gehen.

Meine Mutter hat all die Schrecknisse bewusst erlitten – ich hätte brennend gerne mit ihr darüber gesprochen. Wie konnte sie dort überleben, wie konnte sie einen Säugling ein Jahr lang am Leben erhalten?

Ich weiß heute aus Berichten von Überlebenden, dass es sogenannte „Lagermütter” gegeben hat, die sich trotz eigener großer Not der Kinder annahmen. Sie sorgten für Nahrung und Wärme, fertigten einfaches Spielzeug, brachten ihnen je nach Alter Lesen und Schreiben bei und versuchten sie vor der Willkür der Aufseherinnen zu schützen. Ohne diese Solidarität in den Blocks hätte kein Kind überleben können. Einmal nahm mich eine Ravensbrückerin tröstend in den Arm und sagte zu mir: „Hier in Ravensbrück hast du viele Mütter gehabt. Du bist bestimmt von Arm zu Arm gegeben und von allen beschützt worden”. Ein Gedanke, der immer wieder ein warmes und dankbares Gefühl in mir auslöst, allen unbekannten Frauen gegenüber, die mein Überleben ermöglicht haben.

Zum zweiten Mal verlassen

Nachdem meine Mutter mich in Siegen zurückgelassen hatte, richtete sie ihr Leben ohne mich ein. So konsequent, dass sie sogar den 31.12.1947 – den Tag, an dem sie mich allein zurückgelassen hatte – als mein Todesdatum angab. Ich habe die Kopie einer Krankenakte aus dem Jahr 1948, in der meine Mutter vermerken ließ, ich sei in ihrer Gegenwart an Lungenentzündung und Unterernährung gestorben!

Es hat sich auch nach der ersten Begegnung mit meiner Mutter in den darauffolgenden Jahren keine Beziehung zu ihr entwickelt. In fünfzehn Jahren, von 1986 bis zu ihrem Tod im Jahr 2001, haben wir uns nur zwei Mal getroffen. Es gab keine Umarmung, keine Erklärungen. Ich war eine erwachsene Frau und habe mich doch wieder wie ein verlassenes Kind gefühlt.

Meinen Vater hätte ich kennenlernen können

Im Jahr 2011 schloss sich die letzte Lücke in meiner Biografie. Die fast unglaubliche Geschichte hatte ihren Anfang, als ich auf ein Buch aufmerksam gemacht wurde, mit dem Titel „Verbrechen Liebe“, herausgegeben von Thomas Muggenthaler. Es handelt von dem verbotenen Umgang polnischer Zwangsarbeiter mit deutschen Frauen. Ich nahm Kontakt zum Autor auf und bat ihn, mir bei der Suche nach meinem polnischen Vater behilflich zu sein. Er hatte die Idee, noch einmal mit meinen Daten beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen nachzufragen – trotz negativer Auskunft von 1986.

Wie durch ein Zauberwort öffnete sich das Archiv! Dort lag der Schriftverkehr, der 1943 bei der Verhaftung meiner Eltern mit der Gestapo in Magdeburg, sowie mit dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin geführt worden war. Außerdem gab es die komplette Häftlingsakte meines Vaters. Er war im Sommer 1943 nach Magdeburg ins Polizeigefängnis eingeliefert worden, von dort kam er in das KZ Sachsenhausen, dann in das SS-Sonderlager Hinzert im Hunsrück, wo er als sogenannter „E-Pole“ auf seine Eindeutschungsfähigkeit überprüft werden sollte. Von dort ging es wieder nach Sachsenhausen, dann nach Bergen-Belsen, dann zum KZ Dachau, wo er durch die amerikanische Armee befreit wurde. Die Korrespondenz zwischen Arolsen und meinem Vater wegen der Entschädigungsanträge endete 1993. Mindestens so lange hat er also noch gelebt!

Schon 1986 bei meiner ersten Anfrage waren die gemeinsame Verhaftung meiner Mutter und meines Vaters, Namen, Daten und Ort bekannt. Wie mir von der Mitarbeiterin des Archivs gesagt wurde, hat meine Mutter damals nach Anfrage durch Arolsen mit ihrer Verleugnung verhindert, dass mir diese Dokumente aus Datenschutzgründen zugänglich gemacht werden durften. Erst seit 2007 ist das Archiv für jedermann geöffnet. Ich hätte meinen Vater also kennenlernen können!

„Dann bist du meine Schwester!“

Der 57. Jahrestag der Befreiung im Jahr 2002 stand unter dem Thema „Kinder im KZ Ravensbrück”. Dort habe ich mich erstmals öffentlich getraut, zusammen im Kreis mit anderen „Kindern” über mein Schicksal zu sprechen. Ebenfalls bei einer Befreiungsfeier lernte ich einen polnischen Pfarrer kennen, der im März 1945 in Ravensbrück geboren wurde. Als ich mich ihm auch  als ein „Ravensbrücker Kind“ vorstellte, drückte er mich an seine Brust und sagte mit großer Bestimmtheit: „Dann bist du meine Schwester!“ Ein Satz, der mir zu Herzen geht.