Hinterfragt: Ein guter Jahrgang

Es war zu jener Zeit, als in einer evangelischen Kirchengemeinde am Zibin ein neuer Pfarrer ins Amt eingeführt werden sollte. Die Landler forderten, es soll einer ihresgleichen sein, da zuletzt ein Sachse Pfarrer war: Nun seien sie dran - so will es die Tradition. Die Sachsen hielten dagegen, sie hätten die Kirchengemeinde aufgebaut und geprägt: Stets leitete ein sächsischer Pfarrer an entscheidender Stelle die Geschicke der Gemeinde und so soll es bleiben - so will es die Tradition. Der Kirchenkurator ging folglich zur dorfältesten Frau, um sie zu den lokalen Traditionen zu befragen. Sie war nicht nur alt und weise, sondern hatte in ihrem langen Leben Erfahrungen in der Ehe mit einem Sachsen, und, nach dessen tödlichem Arbeitsunfall, ein Eheleben mit einem Landler geführt. Hoffnungsvoll befragte sie der Kurator:

„Ist es Tradition, dass stets ein Sachse Pfarrer wird?“

„Nein.“

„Also ist es Tradition, dass wechselnd ein Landler und ein Sachse Pfarrer wird?“

„Nein.“

„Das hat Tradition.“


Tradition bedeutet nicht Brauchtum. Wenn weitreichende Entscheidungen anstehen, formieren sich immer Widerstände bestehend aus Befürwortern der Veränderung und Bewahrern des traditionellen Zustandes. Man ist sich des Konfliktpotenzials bewusst und schweigt sich aus, bis eine Entscheidung unausweichlich getroffen werden muss. Doch dann geht es häufig nicht mehr um die Sache, sondern ums Prinzip, so, wie es im vorgenannten Beispiel nicht um die Eignung des Pfarrers ging. Dabei lag die Antwort auf der Hand: Egal ob Landler oder Sachse, Hauptsache der neue Pfarrer ist eine Frau. Das hat zwar keine Tradition, beruhigt aber die Gemüter hinsichtlich der Ethnie und bricht verkrustete Denkstrukturen auf – eine wahrlich frohe Botschaft.

Ob das Ergebnis der diesjährigen Weinlese auch froh stimmt, ist ungewiss. Jungsachsen und Alt-sachsen werden feststellen, dass sich der Klimawandel auszuwirken beginnt. Ausnahmewettersituationen mehren sich und lassen bei langen Trockenzeiten die Weinlese wenig ergiebig ausfallen, während lange Regenwochen zum Sommerende den Anteil an Traubenfäulnis steigern. Weitreichende Entscheidungen stehen an: Soll man die alten, heimischen Rebstöcke weiter pflegen oder sich zusätzlich für widerstandsfähige, fremdartige Neupflanzungen entscheiden, die in den Anfangsjahren ertraglos sind, später aber ergiebig werden?

Ähnliche Fragestellungen wie in der Vitikultur kommen auch in der Literatur auf. Auf veritablen Symposien über alteingesessene siebenbürgisch-sächsische Schriftsteller mangelte es an Teilnehmern der jungen Generation. Also: Will man an dem bisherigen Organisationskonzept festhalten, oder rumänischen Studenten der Germanistik z.B. aus Klausenburg und Temeswar günstige Übernachtungsmöglichkeiten in Hermannstadt zur Teilnahme anbieten? Das hat zwar keine Tradition und die Fachdiskussion vor Ort wird auf Anhieb wohl wenig ergiebig sein, verstärkt aber Chancen für die rumäniendeutsche Literatur in der Zukunft.

Wenn wir als Menschen per Zeugung in die Zeit fallen, nehmen wir uns aufgrund irgendwelcher ursächlich zufällig entstandener Traditionen viel zu wichtig und fallen doch irgendwann wieder aus der Zeit heraus. Sie ist die große, endlose Hülle, die von Schicksalsschlägen und unseren Entscheidungen völlig unberührt bleibt. Auch eine Weinrebe braucht lediglich Zeit, um sich zu entwickeln. Sie wächst, egal woher sie kam, egal wer sie gepflanzt hat und wer sie pflegt. Nur den Menschen gibt sie hin und wieder das flüchtige Gefühl eines besonderen Jahrgangs.