Horizontkrankheit und Rollatorsyndrom

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Jeder setzt sich auf seine Weise mit dem Altern auseinander, und nicht nur die demografische Veränderung der Gesellschaft, die – dank oder trotz moderner Medizin – immer älter wird, zwingt uns dazu. Auch nicht der tägliche Blick in den Spiegel, der einen in sanften Dosen an ein graues Haar oder ein Lachfältchen mehr gewöhnt. Schon eher die Erkenntnis, dass die süßen kleinen Nachbarskinder ja schon wieder ganz plötzlich erwachsen geworden sind.
Die einen wollen dann den Stier mutig bei den Hörnern packen und beginnen im zarten Alter zwischen 50 und 60, ihr Leben altengerecht zu planen. Die Wohnung muss behindertengerecht umgebaut werden, die Lage wird auf Rollatortauglichkeit geprüft, und sind denn auch genügend Ärzte in der Gegend? Andere ignorieren den Druck der Zeit: Jung bin ich in der Seele, und ob ich morgen, in zehn Jahren oder nie im Rollstuhl lande, weiß sowieso nur der liebe Gott.

Hier scheiden sich nicht nur die Geister – sondern auch die Kulturen! Wie sehr, wurde mir im Gespräch mit einer Freundin bewusst, nennen wir sie Sabine, die auch seit Jahren in Rumänien lebt. Sabine ist gute 60, sieht aus wie 40 und von hinten würden ihr sogar die Männer noch nachpfeifen, lebte sie nicht – verheiratet – in einem kleinen Dorf, wo sich so was nicht gehört. Rumänien ist für sie ein Abenteuer auf Zeit: In ihrem ländlichen Paradies kann sie nach Herzenslust gärtnern, handwerken, künstlerisch tätig sein, wandern oder ihre zahlreichen Freundinnen aus Deutschland einladen ... Nur eines steht für sie fest: Es ist nicht für immer. So lebt sie fröhlich in den Tag hinein, ohne den Zeitpunkt ihrer Rückkehr genau vorauszuplanen. Der hängt ja auch ab von Gesundheit, Lebensgefühl, dem inneren Ruf nach der Heimat oder dem, was sich ihnen dann dort bietet. Allenfalls wird mal gelegentlich bei einem Deutschlandbesuch ein Häuschen besichtigt – doch nur zur Orientierung und ohne jede Eile. Beneidenswert glücklich, nicht?  Wären da nicht die lieben Freunde und Verwandten... „Habt ihr euch mal über die vielen Treppen Gedanken gemacht?“ unkte die Tochter, die ihre Eltern zu einer Hausbesichtigung begleitete. Und gleichaltrige Freundinnen raten: „Denk an den Rollator! Kämst du damit bis zum Supermarkt, zum Arzt, zur Massagepraxis oder ins Café? Wie, Sabine, du machst dir da noch keine Gedanken?“

Nicht nur Karriere, Familie und Urlaub werden in Deutschland rechtzeitig vorausgeplant – sondern auch die Krankheit im Alter. Dann werden Pflegestufen ausgerechnet und ob die Rente dafür reicht, Treppenliftprospekte gesammelt, prophylaktisch schon mal ein Rollstuhl angeschafft, irgendeiner wird ihn schon brauchen, oder das Bad umgebaut. Nur nicht unvorbereitet sein für das, was – vielleicht, irgendwann – mal sein könnte! Und weil man das nicht weiß, kann man natürlich auch nicht in Frührente gehen, klagt eine andere Freundin Sabines. Denn vielleicht wird es einen mal furchtbar schmerzen, wenn man statt X-tausenddreihundert nur X-tausendeinhundert Euro verdient. Man muss an die besonderen Bedürfnisse des Alters denken, an die Inflation, die chinesische Invasion, die Erderwärmung oder den Weltuntergang – und wie man dies alles überstehen kann, ohne an Lebensstandard einzubüßen. So heißt es eben: Zähne zusammenbeißen (oh Schreck, an die Zähne muss man ja auch noch denken!) und weiterschuften, als Opfer für ein glückliches Alter.
„Ihr Deutschen habt alle die Horizontkrankheit!“ zitiert Sabine lachend einen Georgier: „Ihr lebt am Horizont einer virtuellen Zukunft, die gar nicht existiert! Die Gegenwart dient euch nur zur Vorbereitung.“  Und wann wird gelebt? Wenn das sorglose Rollatorzeitalter beginnt, denn dann gibt es endlich nichts mehr, was langfristig, verantwortungsbewusst und vorausschauend für die Zukunft geplant werden muss.