„Ich bin okay – du bist ein rumänisches Schlitzohr!“

Über den sozialen Riss, der die Gesellschaft in Rumänien spaltet

„Cine sunt eu?“ Dorin Bodea, Result 2017 ISBN 978-606-93066-8-0

Es gibt viele begabte Leute, reiche natürliche Ressourcen und andere gute Voraussetzungen für herausragenden Erfolg. Statt dessen dümpelt Rumänien im statistischen Vergleich mit anderen EU-Ländern meist am unteren Ende der Skala dahin. Nicht immer lässt sich dies mit Geldmangel erklären, mit dem Rückstand der „armen, vom Kommunismus gebeutelten Rumänen“ vor den „reichen ausländischen Investoren“. Einen großen Teil der Verantwortung muss man in der rumänischen Gesellschaft suchen: In den Werten, die sie belohnt oder bestraft. Sind es Fleiß, Leistung, Korrektheit - oder Geld, Macht und Status? In den Vorbildern, die als nachahmenswert gelten: Sind es korrupte Politiker, die schamlos Gesetze zu ihren Gunsten ändern, Ignoranten, die ihren Müll vor aller Augen in die Landschaft kippen, Bürgermeister, die beim Angebot eines Projekts ungeniert fragen: „Und was ist für mich drin?“ - oder Erfinder, prämierte Studenten, Volontäre für ein gemeinnütziges Projekt? Aber auch in der Art, wie die Menschen miteinander umgehen: was sie von ihren Mitbürgen halten und wie sie sich selbst im Vergleich mit anderen sehen.

Der Psychologe und Soziologe Dorin Bodea liefert in seinem neuesten Buch „Cine sunt eu?“ (Wer bin ich?) hierzu ein paar wichtige Denkanstöße, deckt Denkfallen auf, hält der rumänischen Gesellschaft schonungslos den Spiegel vor. Auch wenn sein Urteil an manchen Stellen übermäßig hart erscheint, stellt es den Leser unausweichlich vor die Frage: Wer bin ich? - Und wer will ich sein? Wie lauten meine Werte und Prinzipien? Bin ich ein konstruktiver Teil der Gesellschaft, Schmarotzer oder vielleicht sogar Gefahr? „Wer bin ich?“ ist ein Augen öffnendes Werk, voller Alarmglocken und nicht ohne Schockwirkung. Möge sie zumindest auch manche heilende Wirkung haben, als Motiv zur Selbstreflexion mit Potenzial zu persönlichem Wachstum.

Zeigen, wer man ist!

Bodea basiert seine Analysen auf den Umfragen der von ihm 2006 gegründeten Consulting Firma Result Development (RD) im Zeitraum 2010-2016. Befragt wurden landesweit Angestellte aus urbanem Umfeld, vorwiegend mit höheren Studien, geringfügig mehr Frauen als Männer, die meisten im Alter von 20 bis 50 Jahren. Vor diesem Hintergrund müssen auch die Schlussfolgerungen betrachtet werden.

Die Lektüre richtet sich nicht nur an Arbeitnehmer, sondern auch an Manager. „Mit wem soll ich denn Leistung erbringen?“, „die meisten in meiner Mannschaft sind mittelmäßig“, oder „sie wollen sich nicht ändern“ sind häufig vorgebrachte Entschuldigungen aus dem mittleren Management, wenn es um mangelnde Teamleistung geht. Doch zum Management gehört auch, zu motivieren, Anreize für eine Leistungsgesellschaft zu schaffen, kritisiert Bodea. Statt dessen trifft man besonders in Rumänien auf das weitverbreitete Phänomen des Chef-Sein-Wollens um seiner selbst willen. Angestellte sowie Manager sollten sich statt dessen die Frage stellen, welchen Mehrwert sie dem Unternehmen bringen.

Mit der Leistung sieht es tatsächlich nicht zum Besten aus: Obwohl Arbeitnehmer hierzulande statistisch gesehen mehr arbeiten als andere EU-Bürger, liegt der Index für Produktivität in Rumänien laut Eurostat 2015 bei schlappen 59,4 – im Vergleich zum EU-Mittel von 100. 7,5 mal geringer als in Deutschland, sechsmal geringer als in Frankreich. Dies spiegelt sich auch im Lohn wider: 2015 lag das Durchschnittsgehalt in Rumänien bei 450 Euro - fünf bis sechsmal niedriger als in Deutschland. Nicht verwunderlich, dass die meisten Investitionen in Rumänien vor allem wegen der niedrigen Löhne getätigt wurden, unkt Bodea.

Dabei zeigen die Umfragen, dass bei rumänischen Angestellten Geld als Wert an erster Stelle steht - nicht persönliche Erfüllung, Berufung, Spaß an der Tätigkeit, mehr Menschlichkeit, mehr Freiheiten oder andere vorstellbare Motivationen, die jemanden ein kleines Gehalt in Kauf nehmen ließen. Auch Macht und Ansehen genießen einen extrem hohen Stellenwert. Die Arbeit hingegen steht an letzter Stelle der persönlichen Werteskala, die Moral an vorletzter. Wichtig ist nicht, was man tut, interpretiert Bodea, sondern wer man ist.

Stolz, Rumäne zu sein

Um den Werten der Gesellschaft auf den Zahn zu fühlen, analysiert Bodea die Aussage „Ich bin stolz, Rumäne zu sein“, zu der sich laut IRES 2012 immerhin 90 Prozent aller Bürger bekannt hatten. Worauf konkret ist man stolz? Die Umfrage von RD 2011-2015 zeigt: 95 Prozent der Rumänen betrachten sich selbst als „westlich“, den Deutschen und Franzosen ähnlich, als kompetent, moralisch, zivilisiert, zuverlässig, lernbereit, anpassungsfähig, loyal und kooperativ. Ihre Mitbürger hingegen schätzen sie als nicht vertrauenswürdig, unberechenbar, sich krankhaft überschätzend, Lob heischend und machthungrig ein. Hinter dem Stolz, Rumäne zu sein, schließt Bodea messerscharf, verbirgt sich vielmehr der Stolz auf sich selbst: „Ich bin stolz auf mich - aber schäme mich der anderen Rumänen!“ Dieses Misstrauen rückt Bodea ins Zentrum aller Probleme. Wie soll man gemeinsam etwas aufbauen, wenn die Grundeinstellung des Einzelnen lautet:„Ich bin okay – aber ihr seid allesamt Schlitzohren“?

Die Basis allen Übels in jeder Gesellschaft ist die Überdimensionierung des eigenen Selbst im Vergleich zur Einschätzung der anderen, erklärt der Autor, der sich damit auf bewährte soziologische Erkenntnisse bezieht. Aus einem solch verzerrten Selbstbild entspringen Machtstreben und Aggression, bis hin zu Straftaten, die das Ziel haben, die Identität des „Minderwertigen“ zu zerstören. Adolf Hitler mit seiner Überhöhung des Deutschen und der Verachtung alles Nicht-Arischen liefert ein drastisches Beispiel.

Die gesellschaftliche Korrektur fehlt

Mangelndes Vertrauen ist eines der Kernprobleme der rumänischen Gesellschaft. Dies bemerken auch ausländische Zuwanderer recht schnell, egal, ob in großen Firmen oder auf dem Dorf. Eine Umfrage von RD versucht, das Misstrauen zu quantifizieren: Demnach seien neun von zehn Personen, denen man begegnet, nicht vertrauenswürdig.

Wie aber kommt es, dass sich diese Einstellung trotz zunehmend westlicher Einflüsse hartnäckig zu halten scheint? Eine mögliche Erklärung liefert ein Experiment von Ernst Fehr, veranstaltet im Jahr 2000 an der Uni Zürich: das „Spiel des Vertrauens und der Rache“. Seither in mehreren Ländern wiederholt, wurde es auch in Rumänien durchgeführt – mit überraschendem Ergebnis.

Das Spiel besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil erhält jeder 100 Euro und die Option, die Summe entweder zu behalten oder an einen anonymen Partner zu senden, der dann nochmal 300 Euro erhält, also am Ende über 500 verfügt, und moralisch verpflichtet wird, die Hälfte davon an den ersten Partner zurückzusenden. Bei gegenseitigem Vertrauen hat jeder am Ende 250 statt 100 Euro. In der Tat schickt die Mehrheit der Probanden, sowohl im Westen als auch in Rumänien, die 100 Euro an den Partner, die Mehrheit retourniert 250 Euro. Der signifikante Unterschied zeigt sich im zweiten Teil des Spiels: Für den Fall, dass der Partner die 250 Euro nicht zurückschickt, erhält der erste die Möglichkeit, diesen zu bestrafen, so dass er sein gesamtes Geld verliert! Allerdings muss dafür eine kleine Summe aus der eigenen Tasche aufgebracht werden. Obwohl die Rumänen den Vertrauensbruch eher erwartet hatten, war die Bereitschaft, das Fehlverhalten des Partners zu sanktionieren, deutlich geringer als bei den Teilnehmern der westlichen Gesellschaft! Der betrogene Rumäne schimpft sich einen gutgläubigen Dummkopf – und verzichtet auf Rache. Nur drei von 650 Probanden hätten von der Option Gebrauch gemacht, verrät Bodea. Schlussfolgerung: In der rumänischen Gesellschaft fehlt das korrigierende Element!

Psychologisch eine Todfeindschaft

Die paradoxe soziale Dissonanz zieht sich wie ein Riss durch die Bevölkerung: Wie kann es sein, dass sich 95 Prozent der Rumänen als integer, „westlich“ und „völlig anders als die anderen Rumänen“ betrachten, gleichzeitig aber 80 Prozent angeben, Vorschriften und Regeln nicht zu beachten, wenn sie ihnen „unpassend oder komisch“ erscheinen, oder weil die anderen sie auch nicht beachten? 80 Prozent gaben an, Personen zu schätzen, die „in jeder Situation gewinnen, auch wenn dies bedeute, über Leichen zu gehen“.

Bodea untersucht den augenscheinlichen Widerspruch. Eine Umfrage vergleicht, in welchen Bereichen die Selbsteinschätzung und Einschätzung anderer stark auseinanderklafft. Im Punkt „zivilisiertes Verhalten“ betrug die Diskrepanz, mit der sich die Probanden selbst positiv und andere negativ beurteilten, 71 Prozent. Für „Loyalität“ lag sie bei 63,6 Prozent, für „Disziplin“ bei 61 und für „Lernbereitschaft“ bei 53,2. Bei den „schlechten Eigenschaften der anderen“ liegt die Differenz für die „Tendenz zum Klatsch und zu politischen Spielen“ bei 67 Prozent, die „Tendenz, einen Sündenbock zu suchen“ bei 62,5, „Neid“ bei 59, „Faulheit“ bei 52 und die „Tendenz sich für schlauer zu halten“ bei 59. Bodeas Interpretation ist alarmierend: Psychologisch gesehen kommt dies einer Todfeindschaft gleich!

Mangelnde Integrität wird toleriert

Werfen wir einen Blick auf die Werte, die diese Gesellschaft definieren: 73,97 Prozent sind mit der Aussage „der Zweck heiligt die Mittel“ einverstanden, 58 Prozent mit „es ist ein Unterschied, ob man ein Ei oder einen Ochsen stiehlt“, 59,96 Prozent mit „ein nicht entdeckter Dieb ist ein ehrlicher Händler“ und 87 Prozent bewundern Menschen, die aus jeder Situation Profit schlagen. Paradigma: Erfolg bedingt, die Regeln kurzzuschließen - wer anders handelt, ist ein unrealistischer Träumer.

Der Aussage „Egal wie man sich anstrengt, man kann nicht alle Regeln der Gesellschaft einhalten“, stimmen 93 Prozent zu, 82 Prozent der Aussage “Normen und Regeln haben keinen Bezug zum praktischen täglichen Leben“, 84 Prozent meinen, man könne nicht mit allen korrekt umgehen und 84 Prozent denken, man könne nicht unparteiisch oder objektiv sein. Schluss: Eigener Erfolg basiert auf Intransparenz und Misstrauen anderen gegenüber.

96 Prozent glauben, „man hat nur zu verlieren, wenn man gutgläubig ist“, 86 Prozent „wenn man in Bezug auf andere Erfolg haben will, muss man ihnen sagen, was sie hören wollen“, 87 Prozent „eine ehrliche Person hat heutzutage viel zu verlieren“, 92 Prozent „wenn du jemanden motivieren willst, etwas zu tun, musst du seinen Vorteil stark übertrieben darstellen.“ Denkschablone: Wenn du in andere Vertrauen hast, bist du selber dumm!

91 Prozent unterstützen „ich bin einverstanden mit kleinen Kompromissen, wenn es dem Ziel nützt“, 81 Prozent „manchmal muss man Dinge tun, auf die man später nicht stolz sein wird“, 94 Prozent „wenn man ans Ziel kommen will, muss man die Abkürzungen nutzen, die das tägliche Leben bietet“, 92 Prozent „in manchen Situationen ist es besser, nicht die ganze Wahrheit zu sagen“. Bodea schließt: Wir leben in einer Kultur, in der fehlende Ehrlichkeit und Integrität sozial akzeptabel sind. Unehrlichkeit und Kompromisse werden anerkannt, wenn sie mit Erfolg oder dem Erwerb von großem persönlichen Gewinn verbunden sind.

Selbstüberschätzung als soziale Gefahr

Fehlende Integrität und mangelndes Vertrauen sind Gift für jede Gemeinschaft. Doch wie wirkt sich Selbstüberschätzung aus? Wie gefährlich sie sein kann, zeigt Bodea anhand eines Experiments: Zuerst mussten die Probanden auf die Frage „Wenn ich die Welt anführen würde, wäre sie dann viel besser?“ antworten, dann einen Aufsatz schreiben, der benotet zurückgegeben wurde. Daraufhin sollten sie dem Beurteiler (simulierte) Elektroschocks erteilen. Jene, die die erste Frage bejaht hatten, erteilten signifikant höhere Stromstöße für schlechte Beurteilungen! Ausschlaggebend war nicht, wie schlecht die Note ausfiel. Nein, die überhöhte Selbsteinschätzung macht einen Menschen zur sozialen Gefahr.

Bodea quantifiziert das Ausmaß der Selbstüberschätzung: Was „Integrität“ betrifft, halten sich 72,5 Prozent für überlegen, 18,8 Prozent für gleichwertig und 8,8 Prozent für unterlegen. Betreffend „Kompetenz“ halten sich 62,7 Prozent für überlegen, 28,5 Prozent für gleichwertig, 8,8 Prozent für unterlegen. Das Denkmuster „Du musst dich an meine hohe Performance und meine Anforderungen erst mal anpassen“, macht den Denker zur sozialen Gefahr!

Gesellschaftlich sei es ein signifikanter Unterschied, ob man sich nur für ein bisschen oder für haushoch überlegen hält, wie bei den meisten Rumänen der Fall, gibt Bodea zu bedenken. Denn wenn Selbstbild und Realität auseinanderklaffen, braucht man einen Feind, der das eigene Versagen erklärt. Man bekämpft ihn mit großem Elan – doch als Rechtfertigung dafür muss dieser vorher entmenschlicht, zum Wurm, zur Laus erniedrigt werden. Auch der Klassenfeind im Kommunismus wurde erst einer rigorosen Ideologie der Entmenschlichung ausgesetzt, bevor man ihn liquidierte, so Bodea. Im heutigen Frankreich hätte man eingewanderte Roma zum Feindbild aufgebaut, in Italien rumänische Immigranten, fügt er an. Was die rumänische Gesellschaft jedoch von anderen stark unterscheidet, ist, dass der Hauptfeind in den eigenen Reihen lauert, gibt er zu bedenken. Es sind „die anderen“, „die Schlitzohren“, die uns Knüppel zwischen die Beine werfen! Gegen die wir deshalb auch mit unlauteren Methoden um Erfolg kämpfen müssen, der Zweck heiligt die Mittel...

Der Mensch neigt grundsätzlich zur Selbstüberschätzung, so eine Studie in den USA (2007): 90 Prozent der Manager glauben sich unter den10 Prozent Top-Performern; tatsächlich sind 70 bis 80 Prozent Mittelmaß. Bekannt als Kruger-Dunning-Effekt ist das Phänomen, dass sich die am wenigsten Kompetenten am meisten überschätzen und am wenigsten in der Lage sind, die Kompetenz anderer zu beurteilen. Umso schlimmer, wenn sich Inkompetenz an der Spitze der Hierarchie ansammelt - in Rumänien die Regel, meint Bodea.

In einigen Punkten erhellt der Autor den Blick auf die rumänische Gesellschaft. Was leider fehlt, ist ein Versuch der Ursachenforschung für die festgestellte soziale Dissonanz. Auch bezieht sich die Studie auf Angestellte mit höherer Bildung im urbanen Medium – interessant wäre die Frage, ob auch Menschen auf dem Land, sozial Schwache oder Unbeschäftigte zur Selbstüberschätzung und Geringschätzung anderer neigen.

Auch konkrete Vorschläge für eine Veränderung – an Manager oder Bildungsanstalten – sind praktisch nicht vorhanden. Bodea beschränkt sich auf die Anregung zur Selbstreflexion. Hier freilich beißt sich die Katze in den Schwanz: Denn, wie der Autor selbst bemerkt, ist der an Selbstüberschätzung Leidende beratungsresistent und ändert sich nur schwer, während man Offenheit für Kritik und Lernen eher bei jenen findet, die sich selbst ein wenig unterschätzen.