Im Filmmuseum mit Johnny Weissmüller

Symbolfoto: freeimages.com

Auch in Düsseldorf findet immer wieder „Die lange Nacht der Museen“ statt, und da wurde ich einmal zu einer Lesung im Filmmuseum eingeladen. Der stellvertretende Filmmuseumsleiter rief mich an und fragte mich, ob ich bereit sei, zu später Stunde schräge Geschichten vorzutragen, die im Idealfall etwas mit dem Kino zu tun hätten. Ich sagte sofort zu, denn ich hatte gerade eine Geschichte über Johnny Weissmüller, den berüchtigten Interpreten Tarzans, beendet, und was, wenn nicht das Filmmuseum, war der ideale Ort, um ihre Publikumswirksamkeit zu testen. Ich las aus dem noch nicht veröffentlichten Manuskript im sogenannten Wanderkino in der ersten Etage des Filmmuseums, einem überschaubaren Kinosaal, in dem um die sechzig Leute passten.

Die Lesung begann um Punkt 23.20 Uhr, und der Saal war voll bis auf den letzten Platz. Ich saß an einem kleinen Tisch vor der Kinoleinwand, der überaus hektisch wirkende junge Tontechniker hatte mir kurz vorher das winzige Ansteck-Mikrofon angebracht, von welchem ein Kabel zum tragbaren Stimmverstärker in die innere Sakkotasche führte. Das Licht der biegsamen Leselampe fiel schräg auf das Manuskript, und wenn ich hin und wieder einen Blick in den halbdunklen Saal warf, konnte ich die gespannten Mienen der Zuschauer in den ersten Reihen gut wahrnehmen.

Mal ernsthaft, mal kichernd folgten sie dem spannenden und windungsreichen Schicksal Johnnys, und alles lief bestens. Nach ungefähr fünfzehn Minuten gelangte ich zu einer der wichtigsten Passagen der Story, in welcher der Protagonist behauptete, er habe den Tarzanschrei aus dem Jodeln entwickelt, das ihm wiederum förmlich in die Wiege gelegt worden sei: „Meinen Dschungelschrei lernte ich von meinen Vorfahren. Die jodelten immer in Chicago und hatten auch schon früher in den Bergen gejodelt, they had been yodeling in the mountains“, behauptete Johnny nostalgisch in einem Interview, doch in Wirklichkeit war das schlicht unwahr, de facto stammte Johnny aus Temeswar und seine Vorfahren waren Banater Schwaben, die mit dem Jodeln nichts an ihrem schwäbischen Hut hatten.

Plötzlich fing das Mikrofon zu pfeifen an. Es pfiff zunächst kaum wahrnehmbar, danach zunehmend heftiger und häufiger, und selbstkritisch und negativ denkend, wie ich bin, meinte ich auszumachen, dass das Mikrofon vornehmlich bei den Stellen, auf die ich besonders stolz war, pfeifen würde. Was tun, um alles wieder ins Lot zu bringen? Ich drückte vergeblich auf den entsprechenden roten Knopf, das Mikrofon ließ sich nicht ausschalten. Und der Tontechniker war nirgendwo sichtbar, denn im Museum liefen mehrere Veranstaltungen gleichzeitig, und er war wohl auch an anderen Stellen gefragt. Ein junger Mann aus der zweiten Reihe mit einer riesigen Elton-John-Brille mit rotem Rand stand auf, kam zu mir und bot sich an, das Mikro wegzuschaffen. Ich stimmte begeistert zu. „Au ja, bringen sie es bitte nach draußen und zertrümmern Sie es mit einem Hammer!“, bat ich ihn mit einem sardonischen Grinsen, und er machte sich mit dem Mikro von dannen.

„Können Sie mich jetzt noch hören?“, wendete ich mich anschließend an das Publikum, ja, sie konnten es. Und so las ich ohne Mikrofon weiter. Die Lesung ging gut zu Ende, und wie bei einem nachdenklich stimmenden Film, wo das Publikum während des Nachspanns und auch auch noch eine Weile danach sitzen bleibt, um den Streifen noch nachwirken zu lassen, stand keiner im Saal auf. „So, Leute, das war’s, vielen Dank für das Zuhören!“, sagte ich, verneigte mich kurz und lächelte, aber die Leute verharrten weiterhin auf ihren Plätzen und lächelten entspannt zurück. Ich nahm die unter dem Tisch liegende schwarze Umhängetasche, und als ich das Manuskript hineinstecken wollte, fiel es mir aus der Hand, und die Blätter verteilten sich auf dem Boden, wo sie nun wie kleine Schneeinseln lagen.

Ich bückte mich und begann sie hektisch einzusammeln. Ein Blatt war übermütig wie ein riesiger Schmetterling bis in die zweite Reihe geflattert, und eine junge Frau hob es auf und streckte es mir entgegen. Ich steckte das Manuskript und den Kugelschreiber in die Tasche und schnallte die Tasche zu. Danach schenkte ich mir ein Glas stilles Wasser ein und trank es in einem Zug. Es war bereits zehn Minuten nach Mitternacht, und in der Eingangstür links von mir hatten sich inzwischen zahlreiche Personen angesammelt, die bereits für die nächste Veranstaltung gekommen waren. „Das historische Wanderkino wird ab Mitternacht zum Schauplatz für berühmte Slapstick-Helden der frühen Filmgeschichte im Kampf mit den Tücken des Lebens, u. a. Buster Keaton und Laurel und Hardy“, hieß es im Programmheft und den überall herumliegenden Flyern. Die Leute drängten sich vor dem dunklen Samtvorhang, stellten sich auf ihre Zehenspitzen und streckten neugierig den Hals.

„Ist das der Film?“, fragte eine Frauenstimme in der Tür, zwar relativ leise, aber laut genug, dass ich es mitbekam. „Ja klar“, entgegnete eine andere Stimme. „Was ist das?“, erkundigte sich ein neu Dazugekommener. „Das ist der Film“, erklärte man ihm.

Ich drehte mich überrascht um, in der Ahnung, der Film habe hinter meinem Rücken bereits begonnen, die Kinoleinwand war jedoch leer. Ich blickte abermals zur Tür, die dort Stehenden sahen offensichtlich in meine Richtung. „Hey, Leute, meint ihr etwa mich, wenn ihr über diesen Film redet?“, fragte ich irritiert. Das Publikum im Saal kicherte und die Zuschauer in der Tür kicherten angetan mit. Sie fanden dieses neue 3D-Movie offenbar gar nicht so schlecht, in dem der unbeholfene Protagonist als virtuelles Wesen aus der Leinwand gestiegen war und nun mit dem Publikum in Kontakt zu treten versuchte. Ich packte meine Tasche und verließ fluchtartig den Saal. Dabei stolperte ich über die ausgestreckten Füße eines Mannes in der ersten Reihe und streifte ein paar Gestalten, die im Halbdunkel auf dem schmalen Durchgangsflur an der Wand lehnten. „Pardon, darf ich bitte hier raus?“, sagte ich zu der Menschentraube an der Ausgangstür, aber da sich keiner vom Fleck rührte, musste ich mich mühsam durch diese Masse hindurchschlängeln. „Wow“, hörte ich eine Stimme hinter mir, „der fühlt sich ja wie echt an.“

Im Erdgeschoss traf ich den Tontechniker. „Was ist denn mit diesem Mikro passiert?“, fragte er mich verärgert. „Ich habe es Ihnen voll funktionsfähig anvertraut, und ein junger Mann hat es mir vor einer Viertelstunde zertrümmert zurückgebracht.“ Ich blieb cool wie ein Eskimo. „Ich kann nichts dafür“, sagte ich. „Allem Anschein nach war ich heute Abend nur Teil eines komischen Drehbuchs, dessen Ausgang niemand voraussehen konnte.“