Im Fokus: die deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas

Ein ADZ-Gespräch mit Dr. Konrad Gündisch, Leiter des IKGS München

Konrad Gündisch in seinem Büro in München Foto: Christine Chiriac

Eine Vielzahl von geordneten Karteien in feuerfesten Schränken, ein Archiv mit Nachlässen deutschsprachiger Autoren, eine Bibliothek mit Online-Katalog – und schließlich der „Giftschrank“, wie er von den Mitarbeitern genannt wird, wo sich Aktenkopien von dem Nationalen Rat für das Studium der Archive der Securitate (CNSAS) befinden: Das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e. V. (IKGS) konzentriert auf engem Raum eine Fundgrube von Informationen für Forscher, Medienwirkende und generell an Südosteuropa Interessierte. Das IKGS (www.ikgs.de) wurde 2001 in der Nachfolge des Südostdeutschen Kulturwerks (SOKW) als wissenschaftliche Forschungseinrichtung neu gegründet und darf sich mittlerweile „An-Institut“ der Ludwig-Maximilians-Universität München nennen. Kooperationen mit Universitäten in Deutschland, Österreich, den Ländern Südosteuropas, hauseigene Publikationen wie das Periodikum „Spiegelungen“ bzw. eine eigene Buchreihe tragen zum internationalen Renommee der kleinen Einrichtung bei.

Das Team wird seit Oktober 2013 kommissarisch von Hon.-Prof. Dr. Konrad Gündisch geleitet, der davor zwei Jahrzehnte lang am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) und an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg tätig war. Der gebürtige Hermannstädter, Jahrgang 1948, hat in Klausenburg/Cluj studiert und beruflich in Klausenburg, Marburg, Tübingen, Stuttgart und Gundelsheim gewirkt. Sein Forschungsschwerpunkt ist die mittelalterliche Geschichte und Sozialgeschichte Südosteuropas, sein Name ist auch in Zusammenhang mit den Urkundenbüchern zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen bekannt. Mit Dr. Konrad Gündisch sprach in München ADZ-Korrespondentin Christine Chiriac.


Herr Dr. Gündisch, was genau umfasst der Begriff „Südosteuropa“, der im Namen Ihres Instituts vorkommt?

Das ist ein sehr umstrittener Begriff: Niemand kann diese Frage ganz genau beantworten. Bei der Namensgebung unseres Instituts hat man den Begriff „Südosteuropa“ gewählt, obwohl die meisten Regionen, mit denen wir uns beschäftigen, eigentlich zu Ostmitteleuropa gehören. Besser wäre also wohl die Bezeichnung „südöstliches Ostmitteleuropa“, aber das ist ein schwer eingängiges Wörterungetüm. Konkret beschäftigen wir uns mit den Regionen, die im Karpatenbogen und an der Donau liegen, in denen Deutsche lebten und zum Teil noch leben, und die im Laufe der Geschichte mehr oder weniger eng mit der Habsburgermonarchie und Österreich-Ungarn verbunden waren – nämlich u. a. das Banat, die Batschka, Bessarabien, die Bukowina, die Dobrudscha, Galizien, die Gottschee, Siebenbürgen, Transdanubien und die Zips. In unserer Satzung wird das Forschungsgebiet mit den Namen der heutigen Staaten Kroatien, Moldova, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Ukraine und Ungarn umrissen.

Sind „der Balkan“ und „Südosteuropa“ in irgendeiner Form negativ besetzt?

Der Begriff „Südosteuropa“ wurde gerne verwendet, um den Begriff „Balkan“ zu umgehen. Durch die Balkankriege der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und die blutigen Konflikte im zerfallenden Jugoslawien hat sich ein negatives Bild der Balkanländer verfestigt. „Balkan“ wurde mit Unordnung, Blut, Krieg, mit ethnischen und sozialen Auseinandersetzungen identifiziert, mit einem Raum, zu dem niemand wirklich gehören wollte. Doch sprang irgendwie das landläufige Meinungsbild über den „Balkan“ auf „Südosteuropa“ über, sodass man sich auch von dieser räumlichen Zuordnung distanzieren wollte. Inzwischen hat sich die Einstellung weitgehend geändert, weil man mit dem Begriff pragmatisch umgeht: Neben West-, Mittel-, Nord- und Südeuropa gibt es einen Raum, der zwischen Nord und Süd und östlich vom Zentrum liegt, und das ist eben Südosteuropa. Die Geografen streiten weiterhin, ob dieser Raum bis nach Griechenland reicht oder bis an die Karpaten, südwärts der Donau oder südlich des Balkangebirges. Aber heute hat niemand mehr ernsthaft Probleme damit, auch wenn ich, wie gesagt, den Begriff „südöstliches Ostmitteleuropa“ für unser Forschungsgebiet für zutreffender halte.

Wie sieht es mit dem Interesse für Südosteuropa aus?

Das Interesse ist konjunkturbedingt: Wenn in diesem Raum hervorragende Leistungen erbracht werden oder besondere Schwierigkeiten herrschen, dann ist das Interesse groß. Das IKGS beispielsweise erreichte einen absoluten Höhepunkt öffentlicher Wahrnehmung als Herta Müller Nobelpreisträgerin wurde. Auch in der Zeit, in der Oskar Pastior als Büchner-Preisträger einerseits, als Protagonist ihres Romans „Atemschaukel“ andererseits, und schließlich als harmloser IM in die Aufmerksamkeit geriet, haben alle großen Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender darüber berichtet. Groß war das Interesse natürlich in den neunziger Jahren während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien – und unlängst wurden wir zum Thema Ukraine angefragt. Denn die Konjunktur, von der ich sprach, ist meistens leider negativ besetzt. Das ändert sich erneut nach der Wahl von Klaus Johannis zum Staatspräsidenten Rumäniens – das Land, und damit auch Südosteuropa, werden nun positiver konnotiert.

Hat es eine geschichtliche Erklärung, dass Südosteuropa so konfliktreich ist?

Alle Länder und Regionen haben im Laufe der Zeit ähnliche Krisen durchgemacht. Man denke an den dreißigjährigen Krieg in Deutschland, die Hugenottenkriege in Frankreich, die Revolution in England. Andererseits waren die Regionen im Südosten Interferenzräume von Großmächten wie das osmanische, das russische, das Habsburgerreich. Zur Instabilität trägt auch die sehr vielschichtige Ethnizität und konfessionelle Zugehörigkeit bei: Mehrere unterschiedliche Zivilisationen mussten neben- und gegeneinander leben. Viel diskutiert wird zum Beispiel über die Kulturgrenze zwischen Katholizismus und Orthodoxie, die einer europäischen West-Ost-Linie entspricht. In Rumänien ist die imaginierte Kulturgrenze entlang der Karpaten bei regierungsnahen Kreisen besonders verhasst, denn sie deutet auf eine symbolische Teilung des Landes, wobei die Verfassung Rumäniens im ersten Paragraph festlegt, dass das Land einheitlich und unteilbar ist.

Besteht die Kulturgrenze heute noch oder ist sie Vergangenheit?

Diese Frage beantworte ich ganz empirisch: Heute noch, wenn man durch die Nordmoldau – die frühere Bukowina – fährt, kann man die Grenze finden. Die 200 Jahre andauernde Sozialdisziplinierung durch das Habsburgerreich ist noch immer spürbar: In einem Dorf herrscht eine für den Westeuropäer sichtbarere Ordnung, im nächsten gibt es das nicht, obwohl acht Jahrzehnte und mehrere Verwaltungsreformen inzwischen vergangen sind. Man merkt es an der Infrastruktur, an den Straßen, am Häuserbau, an den Mentalitäten. Es ist einfach zu sagen, „wir sind ein einheitlicher Staat“ – aber es funktioniert nicht ganz. Mein Kollege Florian Kührer-Wielach hat die Problematik der Integrationsprozesse deutlich gemacht, die nach der Aufnahme Siebenbürgens, des Banats, der Bukowina oder Bessarabiens in das „großrumänische“ Königreich stattgefunden haben. Sein jüngst erschienenes Buch „Siebenbürgen ohne Siebenbürger? Zentralstaatliche Integration und politischer Regionalismus nach dem Ersten Weltkrieg“ handelt davon.

Um zurückzukommen auf den Auftrag des IKGS: Man kann auch die Deutschen in Südosteuropa nicht isoliert betrachten. Deshalb sind wir nicht ein „Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Südosteuropa“, sondern eine Einrichtung, die sich mit deutscher Kultur und Geschichte in ihren Wechselwirkungen mit anderen Ethnien und Konfessionen befasst. Das ist sehr wichtig.

Stand dies schon seit den Anfängen des IKGS fest?

Es war natürlich eine Entwicklung. Zu Zeiten des Südostdeutschen Kulturwerks hat man sich stark auf die deutsche Ethnie – in einer fragwürdigen Kontinuität der Volkstumsideologien – konzentriert. Die sogenannte Kulturbringer-These hat ebenfalls bis in die siebziger Jahre nachgewirkt – die Diktion in den alten Publikationen könnte man heute nicht mehr verwenden, ohne dass man gleich in die rechte Ecke geschoben wird.

Aber haben die Deutschen „die Kultur“ nach Südosteuropa gebracht?

Das ist eine sehr arrogante, selbstbezogene Interpretation. Die Rumänen oder die Ungarn sagen dasselbe über sich, und das ist eine Phase, die man überwinden muss. Die Frage ist nicht, wer die Kultur „gebracht“, sondern wer an der Kultur eines Raumes mitgewirkt hat. „Kultur“ ist ein sehr umfassender Begriff, der sich nicht nur auf Straßenbau oder eine gotische Steinkirche bezieht, sondern ebenso auf das Zwischenmenschliche – und da sind andere „den Deutschen“ weitaus überlegen.

Wenn man sich die Institutionen anschaut, die sich in Deutschland mit dem Südosten Europas befassen, findet man oft Siebenbürger in den Leitungspositionen: Harald Roth leitet das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam, Gerald Volkmer ist Ihr Nachfolger als stellvertretender Direktor des BKGE Oldenburg, Gustav Binder ist seit vielen Jahren Studienleiter der Akademie Mitteleuropa in Bad Kissingen. Wie erklären Sie diese „Siebenbürgen-Lastigkeit“ der Institutionen?

Das hängt meines Erachtens stark damit zusammen, dass die Deutschen aus Rumänien nicht vertrieben worden sind, und dass man bis auf die kurze Zeit von 1944 bis 1949 in Rumänien deutschsprachigen Unterricht zugelassen hat. In Ungarn beispielsweise hat man muttersprachlichen Unterricht erst in den siebziger Jahren wieder zugelassen, in der Sowjetunion nie, und in Polen war es lange Jahre verboten, in der Öffentlichkeit Deutsch zu sprechen. Ganz anders in Rumänien. Im Banat jedoch standen die Deutschen durch ihren katholischen Glauben oft der ungarischen Elite näher. In Siebenbürgen war man als evangelische Gemeinschaft historisch gesehen etwas selbstständiger.
 
Vorhin haben sie das Zusammenleben von unterschiedlichen Völkern auf engem Raum erwähnt: Kann Siebenbürgen in dieser Hinsicht „ein Modell für Europa“ sein?

Ich persönlich halte es für eine Idealisierung. Siebenbürgen als „Modell für Europa“ oder „die Schweiz des Südostens“ zu präsentieren, das ist ein Versuch, sich besser darzustellen, als man eigentlich gewesen ist. Und das haben wir nicht nötig, wenn wir auf eine andere Art und Weise selbstbewusst sind. Man hat zwar koexistiert ohne sich umzubringen, aber man hat nicht miteinander, sondern nebeneinander gelebt. Heute noch gibt es in den Dörfern einen Ortsteil der Deutschen, der Rumänen, der Roma, auch wenn inzwischen manchmal der deutsche Ortsteil von Roma bewohnt wird. Man hatte kaum miteinander zu tun, höchstens gab es wirtschaftliche, nicht zwischenmenschliche Kontakte. Meiner Meinung nach ist die große Leistung eben nicht, dass man zusammengelebt hat, sondern dass man Regelungen des zwischenmenschlichen Nebeneinanders gefunden hat. Inwieweit das ein „Modell für Europa“ ist, kann ich nicht beurteilen…

Und nun zurück zum IKGS: Welches ist Ihr Zielpublikum?

Zum einen ist es wichtig, dass man diejenigen, die aus dem Südosten nach Deutschland gekommen sind, unterstützt, ihre eigene Vergangenheit zu kennen. Auf der anderen Seite bemühen wir uns, die Aufmerksamkeit der deutschen Gesellschaft und Öffentlichkeit auf diese Regionen zu lenken. Das Zielpublikum ist also sehr unterschiedlich und das IKGS muss sich entsprechend anpassen. Ein guter Teil der Aussiedler, Spätaussiedler, Flüchtlinge und Vertriebenen wollen eher hören, was sie „Gutes“ getan haben, sie wollen in ihrer Sprache angesprochen werden und Hilfe zur Selbsthilfe in Sachen Identität erhalten. Wenn man sich allerdings gleichzeitig der bundesdeutschen Gesellschaft annähern will, dann kann man mit kultureller Breitenarbeit wenig anfangen. Wir sprechen deshalb Wissenschaftler oder Journalisten an, und das können wir nur mit wissenschaftlich hochkarätigen Büchern und Zeitschriften erreichen, in der Sprache, die im modernen publizistischen Diskurs gesprochen wird. Heimattümelei hat hier nichts zu suchen.

Das Institut arbeitet regelmäßig mit deutschen und ausländischen Universitäten zusammen. Wie begeistern Sie junge Menschen für diese Thematik?

Das Interesse ist sehr unterschiedlich und hängt natürlich auch von Dozenten, Lehrplänen, aktuellen Themen ab – eben von der Konjunktur, die ich vorhin erwähnt habe. Das ist bei jungen Leuten jedenfalls groß, wenn man nicht plakativ kommt. Wenn man zum Beispiel eine Vorlesung über „die Deutschen in Rumänien“ anbietet, dann kommen bestenfalls fünf-sechs Studenten, die selber herkunftsmäßig mit Rumänien verbunden sind. Wenn man aber eine Veranstaltung zur Multiethnizität im Karpatenbogen oder der Migration in Südosteuropa anbietet, dann findet das in der Regel viel mehr Zuspruch. Es ist auch hier wichtig, die Themen in den aktuellen Diskurs einzubinden.

Welche Themen stehen zurzeit auf der Agenda des IKGS?

Wir konzentrieren uns einerseits auf die Gedenkjahre, die wir zu berücksichtigen haben: siebzig Jahre seit der Deportation, nächstes Jahr hundert Jahre seit dem Eintritt Rumäniens in den Ersten Weltkrieg und damit seit der völligen Veränderung der Situation für viele deutsche Gruppen in Südosteuropa. Dann das große Reformationsjubiläum – die Bundesregierung hat eine sogenannte „Reformationsdekade“ ausgerufen, sehr wohl wissend, dass die Reformation nicht im Jahre 1517 mit dem Thesenanschlag von Luther begonnen hat, sondern dass das ein Prozess war, der schon vorher begonnen hat und weitergeführt wurde. Neben all diesen Themen setzen wir uns mit der kommunistischen Diktatur und den Akten der Überwachungsbehörden in der gesamten Region auseinan-der, aber man darf nicht vergessen, dass unser Gesamtauftrag ein ganzes Jahrtausend umfasst. Wir können uns also nicht nur auf aktuelle Ereignisse beziehen, sondern arbeiten auch mit älteren historischen Entwicklungen, die im geistigen Gedächtnis und in den heutigen Mentalitäten nachwirken. Es gibt viele Fragen, die noch zu stellen sind – und das machen wir.