Ivan erzählt...

Biografie eines Siegers, Träumers, Visionärs für das Donauldelta

Ivan Patzaichin erzählt...

Drei ungleiche Freunde für ein gemeinsames Ziel – dem Donaudelta sein verlorenes Gleichgewicht zurückzugeben (v. l.): Ivan Patzaichin, Vintilă Mihăilescu und Teodor Frolu
Fotos: George Dumitriu

Im endlosen, milchigen Grün, durchzogen von dunklen Adern, leuchten lindgrüne Flecken auf. Ein Muster, organisch, wie lebendes Gewebe. Lunge, Leber – oder das Tracheengeflecht eines Blattes? Mitten auf dem Grün treibt einsam ein Ruderboot. Darin ein Mann. Ivan. Auch wenn man ihn von oben nicht erkennen kann, ist es die Ruhe und das Einssein mit diesem endlos weiten Ort, was ihn auf einen Blick identifiziert. Das Paddel liegt griffbereit, als wisse er, dass er sich mit einem einzigen kraftvollen Schlag ins Zentrum der Aufmerksamkeit befördern kann. Ivan spricht nur selten und auch dann nicht viel. Doch wenn er erzählt, hört man ihm gebannt zu.
 

Drei Freunde für ein Ziel

„Ein französischer Soziologe sagte einmal über Bauern im Allgemeinen: Sie gehören nicht zur der Kategorie Menschen, die sprechen – sie werden gesprochen“, schreibt Anthropologe Vintilă Mihăilescu in seinem im Dezember im Café Verona in Bukarest vorgestellten Buch „Ascultându-l pe Ivan“ (Ivan zuhörend) über den Mann im Boot. Ivan Patzaichin, mehrfacher Olympiaweltmeister im Rudern und eine der größten Sportlegenden des Landes, sei auch so eine Art „Bauer“, geboren in der Lotca, dem Fischerboot, dem „Pferdewagen des Deltas“. „PATZAICHIN spricht auch nicht, er wird gesprochen – und über ihn noch viel mehr“, sagt Mihăilescu – und muss es wissen als einer seiner besten Freunde. „IVAN hingegen erzählt, manchmal, unter Freunden“. Nur so konnte dieses Buch mit dem ungewöhnlichen Coverbild und dem fast widersprüchlichen Titel entstehen. „Er ist ein bisschen ironisch“, gibt Patzaichin schmunzelnd zu. „Denn ‚der Ivan‘ spricht wirklich nicht viel – und schon gar nicht über sich!“ „Höchstens bei Fischsuppe oder Hechtbällchen, aber nicht, wenn einer mit dem Notizblock vor ihm sitzt“, ergänzt Mihăilescu lachend.

Dass es den einsamen Ruderer dennoch immer wieder an die Öffentlichkeit zieht, liegt an seinem Engagement für eine Vision: Er will seiner Heimat, dem Donaudelta, etwas zurückgeben – sein verlorenes Gleichgewicht. Ein Traum, für den Ivan Patzaichin über seinen eigenen Schatten springt. Und eben doch erzählt...
Längst sind die hierfür initiierte Ökotourismusbewegung Rowmania, das zur Delta-Gondel umgestaltete Fischerboot, das jährliche Ruderfestival in Tulcea und ein neuer Begriff der Reisebranche, Pescatourismus, in Rumänien und einigen Do-nauländern ein Begriff. Teodor Frolu, der dritte Freund im Bunde, ist Patzaichins rechte Hand, wenn es um Vermarktung und öffentliche Auftritte geht. „Freundschaft ist auch der Motor, der diesen bezaubernden Versuch einer Biografie über Patzaichin erst ermöglicht hat“, verrät Frolu. Aber auch der, der den schüchternen Lipowanerjungen von einst, der in die Welt hinausging, um zu siegen, erneut auf den Weg zum Erfolg treibt. Diesmal nicht für sich. Oder vielleicht gerade doch.
 

Fisch mit Geschichten

„Patzaichin ist eine Ikone im Delta“, verrät Mih²ilescu. Und fügt ernüchternd an: „Ein Vorbild ist er nicht.“ Vorbilder für die lokalen Bewohner sind jene, die mit Motorbooten durch die Kanäle preschen und große Häuser mit glänzenden Dächern bauen. Nur Menschen, die nicht im Delta leben, wünschen sich den Erhalt der Natur und ursprünglicher Traditionen. „Doch man kann die Lokalbewohner ja nicht wie Indianer im Reservat halten und ihnen weismachen, Komfort sei schlecht, während sich alle Welt modernisiert“, bringt es Frolu auf den Punkt.

Dass im Delta etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, wurde den Freunden vor sechs Jahren erstmals richtig bewusst. Mit dem Ruderboot querten sie den Uzlina-Kanal, „eine Art Pipera auf dem Wasser“, spottet Frolu. Er bedauert die Menschen, die dort in Villen leben, weil ihnen nicht zugänglich ist, was er damals erleben durfte: Sieben Tage mit Ivan im Ruderboot durchs Delta. „Ich entdeckte eine völlig andere Welt!“ Eine Welt, die ihm seither unverzichtbar erscheint. Doch wie dies den Fischern vermitteln?

Tourismus muss helfen, Menschen zu entdecken, denn Natur und Traditionen sind untrennbar verknüpft, erklärt Mih²ilescu. Erleben, nicht Konsum, lautet die Zauberformel. „Es ist der emotionelle Aspekt, der fasziniert – Rumänien braucht diese Gefühle“, meint Frolu. Denn was man liebgewonnen hat, will man retten: die Pelikane, die Störe, die romantischen Fischerboote. „Wissen Sie, dass damals schon seit acht Jahren keine Lotca mehr gebaut wurde?“ holt er die Träumer in die Realität zurück. „Wenn sie keine wirtschaftliche Funktion mehr hat, will sie auch keiner mehr!“ Retten muss man im Ensemble, bestätigt Mihăilescu. Um die Lotca zu retten – und alles, was an ihr hängt – muss man eine Idee verkaufen, ein Stückchen Seele. Sie darf nicht der schamhafte „Pferdewagen“ des Donaudeltas bleiben. So entstand der Plan, der Lotca ein neues Image zu verschaffen: Für Touristen soll Patzaichins technisch leicht verbesserte Version, die Canotca, die Gondel des Donaudeltas werden. Für die Fischer hingegen bedeutet sie eine zusätzliche Einnahmequelle, wenn abenteuerlustige Städter sie begleiten und dann am Lagerfeuer ihre Fischsuppe schlürfen und ihren Geschichten lauschen. „Der Erlebniswert zählt“, insistiert der Anthropologe. „Einen Fisch ohne Geschichte kann man auch in Bukarest kaufen!“
 

Zusammengeschrumpfte Welt

Ivan erinnert sich. Die erste Erinnerung überhaupt hatte er mit etwa vier Jahren. Eines morgens öffnete er die Augen, geblendet vom Licht, und hörte Wasser glucksen. Da erst bemerkte er, dass er, in eine Decke gewickelt, in einer Lotca lag. Neben ihm saß sein Großvater. „Er fuhr zum Fischen raus und wollte mich nicht wecken, da hat er mich einfach eingepackt. Ich war sein Lieblingsenkel – und auf eine fast rituelle Art hat er, glaube ich, gewollt, dass er mich als erster mit raus nimmt“. Lange war die Lotca Ivans einzige Welt. „Ich wusste, dass ich mein Leben lang Fischer sein würde. Wie mein Vater und mein Großvater“, dachte er mit siebzehn. „Doch in meinem tiefsten Inneren träumte ich von mehr...“

Und dies, obwohl der Junge nicht von Motorbooten und Villen umgeben war, von Fernsehwerbung, Schnellrestaurants und Baumärkten, von den Verlockungen einer globalisierten, wertegeschrumpften Welt, wie die Menschen im Delta heute. Seine Kindheit bestand aus Schilfdächern. Aus russischen Märchen, die der Großvater so wunderbar erzählen konnte. Aus selbst gesammelten Kräutern, die in langen Wintern die einzigen Heilmittel waren. Aus stunden- oder tagelangen Fahrten mit der Lotca, zum Fischen oder Holzholen. Auf den Straßen seines Heimatdorfs Mila 23, das man nur auf dem Wasserweg erreicht, lernte er die wichtigste Lebenslektion: Respekt. Ein Journalist fragte ihn später einmal: „War das Leben im Dorf wirklich von solcher Härte?“ Ivan antwortete sanft: „Nein, im Gegenteil. Von solcher Güte!“
 

Was fehlt, sind Vorbilder

„Heute weiß kaum jemand im Delta mehr, wie man ein Schilfdach baut“, sagt Frolu. Längst prägen Wellblechdächer und andere Geschmacksverfehlungen das Landschaftsbild. „Wenn man den Menschen Dedeman vor die Nase setzt, dann bauen sie eben wie Dedeman“, meint er lakonisch.

Was im Delta derzeit schiefläuft, geschieht, weil alle Menschen, wie damals auch Ivan, irgendwann von mehr träumen. Nur fehlen die passenden Vorbilder für eine stimmige neue Welt. Denn es muss kein Widerspruch sein, traditionell, nachhaltig und nach den Anforderungen des 21. Jahrhunderts an einem Minimum an Komfort zu bauen. Was fehlt, ist aber auch der Stolz, etwas Wertvolles, Bewahrenswertes zu besitzen. Die Menschen schämen sich ihrer Lage, die so wenig mit der Fernsehwelt übereinstimmt. Wenn sie dann beobachten, dass sich der Nachbar mit der wellblechgedeckten Pension eine goldene Nase verdient, ist der Drang, es ihm nachzutun, natürlich. Es fehlt nicht an Ratschlägen, sondern an – auch für sie – nachahmenswerten Modellen.

Ivan erinnert sich. An den Besuch einer Schule in Mila 23. Man wollte den Kindern etwas Gutes tun, Geschenke und Geld mitbringen, und er hatte die Idee, sie zu einem Ruderwettbewerb herauszufordern. Zu seiner Überraschung fanden sich von 37 Schülern nur eine Handvoll ein – verspottet von den anderen. Rudern war nicht mehr „in“, ein Boot ohne Motor eine Schande! Heute hat sich das Bild wieder ein wenig gewandelt, erzählt er. Ein „Museum“ mit Bildern der 24 aus Mila 23 stammenden Ruderchampions ziert auf Paneelen das Dorf. Besucher bleiben staunend davor stehen. Im Jahr danach meldeten sich schon mehr Kinder zum Rudern an. Und noch ein Jahr später war bereits eine Einteilung in Alterskategorien nötig.


Zu Verantwortung motivieren

Früher gab es kein Biosphärereservat und keine Polizei, die den Leuten im Delta sagte, was sie tun und lassen sollen. Sie waren von alleine verantwortungsbewusst, erklärt Ivan Patzaichin. Wie ihnen die Verantwortung abhanden kam? Zu viele Fehler sind gemacht worden, einige in gutem Glauben. „Etwa der Unsinn mit den zu pachtenden Fischgründen“, kritisiert er. „Kein Wunder, dass die Fischer sich dachten:‚Es ist ja nicht meins, warum also nicht mit dem Stromkabel fischen?‘“. Früher hingegen galten eigene – harte – Regeln. Wer Laichgründe verletzte oder sich erdreistete, mit Strom zu fischen, wurde von den anderen gnadenlos... ersäuft. Heute warnt man sich gegenseitig mit dem Handy vor den Kontrolleuren. „Man muss den Leuten Verantwortung bewusst machen – nicht sie zwingen oder kontrollieren“, fordert Patzaichin.

Auch so manches gutgemeinte EU-Projekt richtet mehr Schaden an, als es bringt. „Unlängst wurden im ganzen Delta einheitliche Schiffsanlegestellen installiert. Im Prinzip eine nützliche Sache – doch hätte es statt dem chinesischen Standardkram nicht etwas Lokaltypisches sein können?“ ärgert sich Patzaichin.
 

Nicht für, nicht gegen, sondern gemeinsam

In dem Bemühen, Werte zu bewahren, geht es nicht um blinden Erhalt von Dingen, an denen die Ortsansässigen kein Interesse haben. Bewahre du deine Traditionen, damit ich mich im Urlaub daran erfreuen kann! Nicht gegen und auch nicht für, sondern gemeinsam mit den Einwohnern muss das Delta neu erfunden werden. Motivation und spürbare Ergebnisse sind der einzige Weg.

Mihăilescu erzählt von Kochwettbewerben auf der Suche nach traditionellen Speisen: „Wir gingen von Haus zu Haus und jede Lipowanerin lobte ihre garantiert originalen Fischbällchen.“ Doch nachdem die ersten, die sich von Produkten beliebiger Hotels durch nichts unterschieden, disqualifiziert worden waren, bemühte man sich schnell um Einhaltung des Rezepts. Auch das Posten auf Facebook eines von den Dorfbewohnern längst aufgegebenen Brotbackofens, von Patzaichin und Frolu hergerichtet und wiederbelebt, brachte Erfolg: Nur wenig später wurden auch aus anderen Dörfern stolz Fotos von ihren (erneut) traditionell gebackenen Broten hochgeladen.

Ein Beispiel ist auch ein Projekt in Chilia, in dem Gefängnisinsassen längst verlorene traditionelle Bauweisen erlernen. „Sie waren motiviert, weil es für sie einer kostenlosen Berufsausbildung gleichkam, die sie zu gesuchten Handwerkern machte“, erklärt Frolu.

Wie also lautet der Vorschlag an die Bewohner des Deltas? In einer Zeit des globalen Wettbewerbs, dem sie ohnehin nicht gewachsen sind, muss man die lokalen Werte so präsentieren, dass sie von globalem Interesse werden, sagt Mih²ilescu. „Man muss einen alternativen, „glocalen“ Markt im Delta schaffen.“ Dazu gehört auch, den Touristen den entsprechenden Zugang zur Natur zu bieten. Denn paradoxerweise sehen diejenigen, die wegen des Deltas kommen, eigentlich gar nichts vom Delta! Weg also von Massen- und Motorbootausflügen, statt dessen Abenteuerfahrten mit Fischern oder geführte Canotca-Touren durchs Naturreservat.

Innehalten, durchatmen, erleben. Und – träumen. Wie Ivan.


Vintilă Mihăilescu: „Ascultându-l pe Ivan“, Editura Vellant, ISBN 978-606-8642-40-6