Ja nicht ja

Walther Gottfried Seidner zum 80. Geburtstag gewidmet (I)

Pfarrer Eginald Schlattner in der Kirche in Rothberg/Roșia
Foto: George Dumitriu

Rumänien hat die kommunistische Tyrannei durch eine blutige Revolution abgeschüttelt, Dezember 1989, als einziges Ostblockland. Über tausend Tote. Und kein Täter. Dazu über fünftausend Verwundete. Es floss Blut und es flossen Tränen. Das ganze Land harrte der Hinrichtung des Ehepaars, das Land und Leute terrorisiert und ruiniert hatte. Zwei Menschen, die die letzten Jahre der Armseligkeit erprobt hatten, die Untertanen selbst biologisch zugrunde zu richten. Über Jahre, ja zwei Jahrzehnte hindurch, gab es kaum das tägliche Brot, Milch und Honig war den Kindern allein bekannt aus den Märchen, die Öfen gefroren im Winter und verordnete Finsternis herrschte in den Häusern und Hütten.

Um Heilig Abend war es, ob in Küchen und Kirchen, wir fieberten dem Augenblick entgegen, wo es geschehen sein würde. Und als am ersten Weihnachtstag – bitte, der Menschensohn ward geboren im Stall zu Bethlehem – die Szene vom elenden Ende des hochgejubelten Paares über den Bildschirm flimmerte, ging ein Aufschrei erlöster Angst über das Land. Die zwei niedergemähten Leichname, sie lagen am Boden. Das grässliche Bild gemahnte, wie man tollwütigen Hunden den Garaus macht. Die hin befohlenen Soldaten, namenlos bis heute, konnten nicht an sich halten, befallen von Heidenangst, und schossen drauflos, noch ehe man die beiden an die Wand gestellt hatte.

In Hermannstadt hörte das Gewehrgeknatter dunkler Terroristen erst zu Neujahr um Mitternacht auf. Ein evangelischer Soldat wurde getötet. Ein evangelischer Geistlicher und eine evangelische Schülerin wurden verwundet. Eine Kugel verfing sich im Fensterrahmen des evangelischen Bischofspalais, abgefeuert vom Dach gegenüber. Noch wurde geschossen, da verabschiedete das Bischofsamt eine Schulderklärung der Evangelischen Kirche Augsburger Bekenntnisses in Rumänien.

Mitte Januar trafen wir Pfarrer uns, wie üblich, zu unserer monatlichen Versammlung. Noch waren wir im Hermannstädter Kapitel über fünfzig Pfarrer. Nicht gerade, dass an dem langen Konferenztisch einer dem anderen auf dem Schoß saß, aber nahezu. Es gab ein ärgerliches Gedrängel.

Und da ein Pfarrer auf seinem abgeschiedenen Pfarrhof und in seiner Kirchengemeinde wer ist, gewohnt, ja gewöhnt, der erste und einzige zu sein, so fühlte man sich bei diesen Zusammenkünften gestört. Wo man plötzlich nicht mehr wer war, sondern irgendwer. Ein X-beliebiger unter seinesgleichen. Wobei ich tröstete: „Liebe Amtsbrüder, in einem Jahr wird sich das alles hochbequem anlassen.“ Und so war es: Im darauffolgenden Jahr waren wir nur noch ein schütterer Haufen.

Bei dieser amtlichen Zusammenkunft schien alles wie sonst. Doch nichts war wie einst. Schon dass der Kultusbeauftragte, letztendlich das Argusauge der Securitate, nicht anwesend war – es wirkte beinahe unheimlich. Nicht mehr dabei war, der sonst still und stumm dasaß, solange das obligate „staatsbürgerliche Erziehungsreferat“ von einem von uns heruntergehaspelt wurde. Auf Deutsch. Sodass dessen wichtigste Teile der Dechant dem ungebetenen Gast ins Ohr übersetzen musste. Jedoch strikt wurde von der kommunistischen Kultusbehörde eingehalten, dass in unserer Kirche laut Gesetz die Amts- und Verkündigungssprache Deutsch war. Nach getaner Arbeit erhob sich der sanftmütige Herr wortlos, grüßte höflich, ließ sich im Sekretariat von der Dekanats-Apotheke die ausländischen Medikamente für die Schwiegermutter reichen und ging seines Weges.

Es folgte die Morgenandacht, die im Januar jedes Mal der Dechant in eigener Person hielt. Der bedachte Text lautete: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch irgend eine andere Kreatur uns zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn!“ Wie wahr. Einige nickten, als ob sie die jungfräuliche Wahrheit langsam begriffen. Wie wahr!

Mich hatte unser damaliger Bischof seinerzeit aufgefordert, als ehemaliger Ingenieur ein Referat auszuarbeiten über den Stand der Produktion an Elektrizität in der Sozialistischen Republik Rumänien. Die letzten verheerenden einundzwanzig Jahre des Regimes war es an der Spitze der Kirche Bischof D. Albert Klein. Mit dem Referat tingelte ich durch die fünf Dekanate. Jedes Mal hörte ein anderer Aufpasser des Kultusministeriums zu. Überall bekam ich gut zu essen. Aber nicht jederorts wurde mir das Benzin bezahlt. Vergessen wir nicht: Dazumal gab es Monate, wo der Staat uns, den Autofahrern, 15 (fünfzehn) Liter Sprit im Monat zuwies. Einmal musste ich dafür 11 (elf) Tage und Nächte anstehen.

In meinem Referat kritisierte ich nicht, Gott bewahre, die katastrophale Lage der Energieversorgung des Vaterlandes. Nein! Aber ich führte offizielle Zahlen so an, dass der Zuhörer, wenn jemand überhaupt zuhörte, sich selbst ein Bild machen konnte über das, was wir wussten und spürten: Der Staat war mit seiner Produktion von Elektrizität am Finetti. Was ich aber an der amtlichen Statistik betonte war, dass die Haushalte insgesamt nur das Winzige von einem Prozent an Elektrizität verbrauchten. Ich sprach es zwar nicht aus, aber ich sprach es an, wie falsch und abwegig es sei, wenn Abend für Abend Bukarest der ganzen Republik den Lichthahn abdreht, alle Häuser in Finsternis versanken. Es war für jeden der Zuhörer ersichtlich, dass mit dieser drastischen Maßnahme an nichts gespart werden konnte, es sich folglich um reine Schikane des Regimes handeln müsse. Bis auf den Bezirk Kronstadt nahmen alle Zuhörer meine beflissenen Ausführungen schweigend zur Kenntnis. Man war erleichtert, wenn der bestellte Parteiobere, höflich verabschiedet vom Dechanten, den Hut nahm. Den Hut! Die Zeit der proletarischen Arbeitermützen für Amtsträger war mit Nikita Chruschtschow vorbei. Man hatte sich gemausert.

Doch der Kronstädter Kultusbeamte ließ ein Wort fallen, er war ein Ungar und sprach Deutsch, hörte auf den suggestiven Namen Duldner, Genosse Duldner: Das habe ich listig hinbekommen, anzudeuten, ja zu beweisen, dass es wenig Sinn habe, Abend für Abend das Licht im Land abzuschalten. Der elektrische Strom habe etwas Demokratisches an sich: Fehle zum Beispiel das Licht landesweit, so betreffe das alle als Ärgernis, Hütten und Paläste, und vor allem ohne Unterschied der Sprache und Volkszugehörigkeit, der Rasse und Religion, wie es in der sozialistischen Verfassung steht. Genosse Duldner reichte mir sogar die Hand. Die ich nahm. Aber nicht schüttelte.

So ging es auch in unseren Predigten zu: Wir traten nicht gegen das Regime an mit seinem philosophisch grundierten Atheismus. Schon als lutherische Kirche der Obrigkeit nicht. Aber wir Pfarrer behaupteten fest und steif auf der Kanzel, Gott lasse sich nicht und nimmermehr aus der Welt drängen. Was sich schlussendlich als wahr und richtig erwies. Weit mehr: Seit dem Sturz der Diktatur sind hierzulande über tausend Kirchen und Klöster gebaut worden. Gewiss: orthodoxe!

Unsere Kirchen dagegen haben sich geleert. Allein noch die Steine schreien, wie es die Bibel verheißt. Die Gläubigen sind nach Deutschland gegangen. Ethnische Selbstsäuberung. Ob sie auch den siebenbürgischen Gott mitgenommen haben, der uns Sachsen 850 Jahre lang beschützt und begleitet hat? Ich weiß es nicht. Aber jeden Sonntag halte ich vor den leergepredigten Bänken einen vollständigen Gottesdienst, mit allem Drum und Dran: mit Singen, Sagen, Segnen. Das geschieht, um mich zu trösten. Und auch um Gott zu trösten, Gott, der seit 1225 Sonntag für Sonntag bedient worden ist mit einer Liturgie in unserer Muttersprache.

Nach der Morgenandacht sagte der Dechant in seiner lakonisch-ironischen Manier das weitere Programm der Pastoralkonferenz an: „Und nun beginnen wir, wie schon immer, unsere Arbeitssitzung mit einer großen Kaffeepause!“ Er war ein Bauernsohn aus dem Kaltwassertal. Jüngst hatte er mich belobigt: „Für einen Städter fährst du genug gut Auto!“

Was wir am Dechanten würdigten und fürchteten war, dass er nichts durchgehen ließ, was mit Schlendrian zusammenhing. Eisern rief er Pfarrer zur Ordnung auf, die bis Mittag schliefen, manchmal sogar den Gottesdienst am Sonntag verschliefen. Auch das gab es – als seltene und erstaunliche Ausnahme. Oder den Gottesdienst auf eine genehme Stunde verschoben, weil sie als Schiedsrichter am Sonntagvormittag die Dorfmannschaft beim Fußball anpfiffen. Noch weniger erwarben die Übereifrigen sein Wohlgefallen. Mit nichts hatte er am Hut, wenn der Pfarrer Samuel Kaiser von Forkeschdorf bereits während der ersten Pastoralkonferenz, eben Mitte Januar, heiter verkündete, dass er alle zweiundfünfzig Predigten für die Sonntage des Kirchenjahres aufgeschrieben habe und diese fein säuberlich geordnet bereitlägen, von Epiphanias bis Advent. Und die Predigten für die Hochfeste gingen ihm noch leichter von der Hand: „Wie mein biederer Kurator sagt: ‚Herr Pfarr, es ist immer alles eins: Die Geburt in einem Stall und das Grab ohne die Leich!‘ Wie wahr.“ Wie wahr: Zur Barmherzigkeit gehört nicht nur Herz, sondern auch demütige Strenge. Dagegen war der Dechant mit Herz und Hand, Leib und Seele zur Stelle, wenn es um die fleißigen Mitbrüder ging – also immerdar (Amtsschwestern erlaubte das Regime keine).

Dann platzte die Bombe. Ein Schock war es, als in dieser Pastoralkonferenz nach dem Fall der Diktatur unser Dechant Michael Schuller nahezu fahrlässig, wie es uns schien, über unsere erschrockenen Köpfe hinweg fragte, ja es anordnete:

„Jetzt steht jeder auf, der hauptamtlich für die Securitate gearbeitet hat!“

Es entfiel manch einem Finger der flaumige Striezel, nach alter Sitte im ersten Monat spendiert von der Frau des Dechanten. Er sprach das verfemte Wort „Securitate“ laut und achtlos aus. Wir schielten zur Tür, gewärtig, dass die Securitate eintreten werde und den so unbesonnenen Mann abführen werde. Noch waren unsere Gemüter gedrosselt vom Bann der Diktatur. Noch hatten wir die beschwerliche Freiheit nicht begriffen, die über uns mit Gewehrsalven hereingebrochen war. Und nicht begriffen, was damit gegeben ist: Dass beim offenherzigen Reden nicht mehr die Securitate hereinhorchte. Pfarrer Walther Gottfried Seidner, bekannt als „Voltaire“ (von Walther?) sprach es aus und machte so Mut zur plötzlichen Ungezwungenheit im Denken und im Reden: „Der Securitate ist ein für allemal der Mund gestopft. Deren Vorzug war es, dass sie das Gehörte im Geheimfach für sich behielt. Doch Vorsicht, Brüder im Amt! Schlimmeres steht an: Die geknebelte Presse wird ihr Maul aufreißen, wird lechzend die Ohren spitzen, einem das Wort im Mund umdrehen und es auch noch an die große Glocke hängen.“

Voltaire, bis heute geschätzt und bewundert als Wortkünstler der Meisterklasse, ein Könner kniffliger Wortwitzigkeiten, ein Lehrherr verbaler Spitzfindigkeiten und Verfasser launiger und schnurriger Reimkarikaturen: eher ein Wilhelm Busch Siebenbürgens. Dass Dechant Michael Schuller zur Zeit der Diktatur ein verwegener Mann gewesen war, wusste man und quittierte es mit einem respektvollen Schaudern. Er hatte es gewagt, einem ranghohen Securitate-Offizier die Tür zu weisen. Hatte die selbstmörderische Kühnheit besessen, einen Major, der ihn in seinem Amtssitz aufsuchte, vor die Tür zu setzen, sogar ohne sich hinter seinem Schreibtisch zu erheben. Kühl habe der Dechant ihm bedeutet, er möge sofort sein Büro verlassen! Denn, obschon Offizier, habe dieser ihn angelogen, als er ihm hoch und heilig versprochen hatte, er könne mit dem Besuchspass rechnen. Für diese Tat hat Dechant Misch Schuller das Bundesdeutsche Verdienstkreuz am Bande erhalten! Der Offizier ging. Ohne den Dechanten mitzunehmen.

Nochmals: Wer für die jäh abgehalfterte Securitate gearbeitet hatte? So die ungeschminkte Frage des Dechanten. Dieser musste im Bilde sein. Keiner getraute sich, den anderen anzusehen. Bis zu uns nach Siebenbürgen, durch den Eisernen Vorhang hindurch, war es gedrungen, was unter den ausgewanderten Landsleuten kursierte: Dass sich jeder Pfarrer unserer Kirche bis zum Bischof hinauf gemein gemacht habe mit den Machenschaften der Securitate, ja weit mehr: Man habe sich als Informant von dieser Maschinerie der Nötigung anheuern lassen.
Selbst in der Bundesrepublik angekommene Pfarrer hatten in dieses Horn gestoßen. Bis ein deutscher Bischof ihnen in die Parade gefahren war mit der stimmigen Feststellung: „Wenn alle, dann auch Sie, werter Amtsbruder!?!“

Wahr ist: Die ganze, lange Zeit der Diktatur wurde jeder von uns Pfarrern aus der Schattenwelt beschattet, gewärtig, dass sich daraus ein Schatten löste und ihn bedrängt, erpresst, kleinkriegt, zwingt, festnagelt. Ferner: Jeder hat vor diesem Auto panische Angst gehabt, das in einem Gedicht von Oskar Pastior genannt wird, wie es verschwiegen vor dem gegenüberliegenden Haus hält, ehe es sich entscheidet: Gilt es mir? Gilt es nicht mir! Jeder hat voll Bangigkeit auf die fremde rumänische Männerstimme im Telefon gehorcht: rufen sie dich? Rufen sie nicht!... Und manchmal eine jähe Scheu gehabt vor dem ‘besten Freund’, der am besten Bescheid weiß…

Darf ich es so sagen: Ich hatte das ‘Glück’, 1957 von der Securitate verhaftet zu werden und zu verschwinden, ehe ich vorher von der Securitate drangsaliert worden war. 20 Jahre später, schon in der Zeit von Nicolae Ceaușescu, stand das ominöse Auto vor meinem Haus in Freck, das Oskar Pastior in seinem Gedicht voller Schrecken besingt. Es war dies die zweite Periode der Diktatur in Rumänien, ab 1965, wo es offiziell keine politischen Häftlinge mehr gab. Und wenn, dann saßen sie als Hooligans im Gefängnis, Freiwild für die Mithäftlinge. Über ein Jahr lang bin ich von einem Căpitan de Securitate, der sich als Inginer Constantin ansprechen ließ, verfolgt worden, dass mir Hören und Sehen vergangen ist. Dazu jeden Tag die Angst im Nacken: Jetzt kommt er, jetzt rufen sie dich. In der Zeit absoluter Wohnungsnot in den Städten der Sozialistischen Republik hatte die Securitate in Hermannstadt konspirative Wohnungen noch und noch. Sogar in meinem Haus in Freck wurde ich bedrängt.

Doch das, was ich Frau und Tochter und Brüdern und Schwägerinnen ans Herz gelegt habe: Nein und NEIN und Nein, nein, nicht einmal eine Telefonnummer sich zustecken lassen, auf Teufel komm heraus: Dies NEIN hat gewirkt. Zuletzt schrieb ich an die Securitate einen Brief: Was immer die Folgen sein mögen, mich wird man als Mitarbeiter nicht gewinnen, „selbst wenn die schwarze Sonne über mir aufgeht“ (wie über Grigori Melekhow in Scholochows „Der Stille Don“). Nachher gaben sie Ruhe.

Es war die Zeit, wo mir diese Mitarbeit bei der Securitate als hohe Ehre angedient wurde, man bewege sich in bester Gesellschaft von Akademikern und Persönlichkeiten, sogar kirchliche Würdenträger sähen das Vaterland in Gefahr und hielten es für ihre patriotische Pflicht, die Sicherheitsorgane zu unterstützen. Es war aber auch die Zeit – die ganze Zeit der Diktatur übrigens – wo man seine konfirmierte Tochter nicht nur aufmerksam machen musste, was zu tun sei, wenn ein Bursche ihr zu ungebärdig auf den Leib rücke. Sondern man musste Söhne und Töchter instruieren, wie sie sich zu verhalten haben, wenn die Securitate sich über sie tut. Das Rezept eben: Nein, auf Teufel komm heraus.

Oder: Ja nicht ja! Gott hilf!

 (Fortsetzung hier)