„Jede politische Wahl ist bei uns eine Wahl des kleineren Übels“

Gespräch mit dem ukrainischen Schriftsteller Jurij Andruchowytsch

Jurij Andruchowytsch: „Politiker müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, dass sie nicht für immer im Amt bleiben können“
Foto: privat

Er gehört zu den wichtigsten kulturellen und intellektuellen Stimmen der Ukraine: Der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch ist einer der Wegbereiter der Post-Moderne in der ukrainischen Literatur. Ende Oktober besuchte der bekannte Autor Temeswar/Timişoara. Er las im Rahmen der zweiten Auflage des Literaturfestivals FILTM aus seinem jüngsten Buch „Lexikon intimer Städte“ vor. ADZ-Redakteur Robert Tari sprach mit Andruchowytsch über die Chancen der Ukraine auf einen EU-Beitritt, über Zensur in seinem Land sowie über die Nachwirkungen der Fußball-Europameisterschaft.

Herr Andruchowytsch, Sie haben in den 1980er Jahren als Schriftsteller angefangen, trotz der damaligen Zensur. Das dürfte für Sie nicht einfach gewesen sein.

Ich dachte nie, dass ich als Dichter irgendwann meine Texte veröffentlichen werde. Ich verstand sehr gut, dass sie dem System nicht passten und darum keine Chance haben, publiziert zu werden. Ich hatte einfach Glück, weil ich zu einer Zeit debütierte, als das Land liberaler wurde. Mein erster Gedichtband erschien im Jahr 1985, als Michail Gorbatschow seine Perestroika einleitete. Ein älterer Schriftstellerkollege und Mentor hatte mich dazu bewogen, ein Manuskript zu erstellen, bevor ich meinen Armeedienst antrat. Die Arbeit an dem Buch geschah im stillen Einvernehmen. Er fungierte dabei als mein Verlagsrezensent. Ich sollte meine Chancen, etwas im Kommunismus zu veröffentlichen, nicht abschreiben, meinte er.

Besonders weil nicht viele veröffentlichen konnten und wenn ich meine Gedichte nicht herausgeben würde, dann würde es womöglich ein anderer, unbegabter Schreiber tun. Nach 1985 wurde es dann besser. Wir erhielten immer mehr Freiheiten. Zwei Jahre später veranstalteten drei Freunde von mir und ich unsere erste öffentliche Veranstaltung. Wir gründeten gemeinsam die Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu und traten auf einer Theaterbühne in Kiew auf. Der Saal war voll und wir durften alles lesen, was wir bis zu dem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht hatten.

Wie schaut es heute mit der Zensur in der Ukraine aus? Gibt es sie noch?

Strenge Zensur gibt es heute nur im ukrainischen Fernsehen. Das Internet ist frei, Radio ist frei, aber dumm, die Zeitungen sind auch frei, doch sie üben fast keinen Einfluss aus. Fernsehen wird dagegen ziemlich stark kontrolliert. Die Nachrichten bringen nur positive Berichterstattung über die Regierung und zwar in 90 Prozent der Fälle. Dagegen wird die Opposition entweder ins Lächerliche gezogen oder man berichtet nur Negatives. Aber als Schriftsteller kann ich alles veröffentlichen und darf meine Meinung offen ausdrücken. Ich schreibe auch wöchentliche Kolumnen für ein Internetmagazin. Ich habe, um ehrlich zu sein, vergessen, wann ich das letzte Mal mit der Zensur zu kämpfen hatte. Eigentlich existiert sie in meinem Leben nicht mehr.

Sie meinten in einem Interview 2008, dass die Ukraine ihre Chancen auf den EU-Beitritt 2005 vertan hätte. Wie denken Sie heute darüber? 

Nun, das Assoziationsabkommen mit der EU bleibt so lange ununterschrieben, bis unsere frühere Ministerpräsidentin, Julija Tymoschenko, aus der Haft entlassen wird. Für unseren Staatschef Wiktor Janukowytsch bleibt sie ein Dorn im Auge. Sie ist seine größte Angst. Janukowytsch befürchtet, dass sie bei den nächsten Wahlen gewinnen wird, sollte sie wieder freikommen. Und das kann für ihn tragische Folgen haben. Ich hoffe, dass er seine Entscheidung, Tymoschenko auf unbefristete Zeit einzusperren, noch einmal überdenken wird. Wenn er es nicht tut, dann hat die Ukraine ihre Chance auf einen möglichen EU-Beitritt vertan. Dann liegt es allein an uns, eine bessere Zukunft zu schaffen, indem wir 2015 eine bessere Regierung wählen, wenn vorhanden.

Die Fußball-Europameisterschaft sollte für die Ukraine einen Aufschwung bedeuten. Im Nachhinein hat sie allerdings nur für unnötige Schulden gesorgt. So zum Beispiel in Lemberg, wo die Stadt für die Betriebskosten des neuen Stadions rund zwei Millionen Euro im Jahr ausgeben muss. 

Nicht nur in Lemberg ist das so, denn die Lage in Lemberg trifft auf viele ukrainische Städte zu. Das Schicksal des neuen Fußballstadions ist derzeit ungewiss, denn es steht leer. Es finden dort einige Konzerte im Jahr statt, mehr aber auch nicht. Die ukrainische Nationalmannschaft hat dort zum letzten Mal gegen San Marino gespielt. Weil Anhänger nationalsozialistische Parolen während des Spiels sprühten, verhängte der Fußballverband eine schwere Strafe: Hausverbot für die Nationalmannschaft. Sie darf in den nächsten fünf Jahren auf dem Stadion nicht mehr spielen. Das ist für unsere Gesellschaft symptomatisch. Ich hatte gehofft, dass eine Veranstaltung wie die Fußball-Europameisterschaft die Gesellschaften im Westen auf Umstände  in der Ukraine aufmerksam machen würde und die Menschen die Meisterschaft dann boykottieren, um so für die Freilassung der politischen Häftlinge zu demonstrieren. Es fand zwar ein Boykott statt, jedoch nicht in dem Ausmaß, in dem ich es gehofft hatte. Viele haben mich wegen meiner Aussagen bezüglich des Boykotts der Europameisterschaft heftig kritisiert. Sie fanden meine Haltung unpatriotisch.

Im Westen wird oft versucht, den Guten und den Schlechten in der Politik osteuropäischer Länder zu ermitteln. Die Realität schaut meist anders aus. Von einer Schwarz-Weiß-Färbung kann zumindest in Rumänien kaum die Rede sein. Hier ist es eher Grau. Wie schaut es in der Ukraine aus?

Jede politische Wahl ist bei uns eine Wahl des kleineren Übels. Wir sollten uns nichts vormachen. Es wird kein Messias erscheinen. Wir hatten bei den Wahlen von 2004/2005 unsere Hoffnungen in Wiktor Juschtschenko gesteckt. Aber es kommt kein Retter, kein Heiliger, kein Nationalheld. Die Regierungen müssten öfters gewechselt werden. Politiker müssen sich mit dem Gedanken anfreunden, dass sie nicht für immer im Amt bleiben können. Das ist das größte Problem in unserem Land, die meisten Politiker sehen sich für immer auf ihrem Posten. Sie fühlen sich zu sicher. Wenn sie immer kritisiert werden und dadurch ihre Sicherheit verlieren, dann wird es auch mit der Ukraine aufwärts gehen.

Stört es Sie als Schriftsteller, dass man Sie meist eher auf die politische Lage in Ihrem Land anspricht?

Ohne mich politisch zu äußern, kann ich einfach nicht leben. Ich werde in der Ukraine ständig befragt. Man lädt mich ständig ein, Interviews zu geben und meine Texte sind auch nicht rein literarisch, sondern beinhalten oft politische Inhalte. Ich werde nie von mir behaupten, nur ein Schriftsteller zu sein, der sich für Politik nicht interessiert.

Auch der russische Schriftsteller Wiktor Jerofejew nahm an dem Festival FILTM teil. Worüber unterhalten Sie sich mit ihm, wenn Sie sich auf solchen literarischen Veranstaltungen begegnen?
Wiktor Jerofejew ist politisch auch sehr engagiert. Er gehört keiner Partei an. Er äußert sich nur als Schriftsteller, als Intellektueller öffentlich über die politischen Ereignisse, um dadurch die Entwicklungen in seinem Land zu beeinflussen. Wenn wir uns treffen, besprechen wir meist die Lage in Russland und der Ukraine und vergleichen sie. Er ist immer noch der Meinung, dass selbst mit unserem jetzigen Präsidenten und unserer aktuellen Regierung, die Ukraine ein freieres Land ist als Russland.

Über Russland haben Sie einmal gesagt, es sei selbstverliebt und frech. Würde Jerofejew Ihre Ansicht teilen?

Er teilt diese Ansicht. Wenn ich so etwas sage, dann nur, weil es auch meine russischen Kollegen gesagt haben. Ich würde nie ein Land oder eine Kultur beleidigen. Und wenn ich Russland sage, dann meine ich die Regierung. Und die russischen Schriftsteller teilen meine Ansicht, weil sie die liberale Linie des heutigen Russlands repräsentieren. Ich mag die Publizistik von Lew Rubenstein sehr. Er ist mein Lieblingsautor, was Kolumnen betrifft. Für einen ukrainischen Autor ist es heute schwer, Verständnis für die Lage in Russland zu haben, weil sich die Verhältnisse auf allen Ebenen verschärft haben. Ich hoffe aber, dass diese Freundschaften zwischen uns Schriftstellern helfen können und wir sie bewahren werden.