Kann eine Minderheit gestaltende gesellschaftliche Kraft sein?

Impulsreferat von Dr. Paul-Jürgen Porr, Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, auf dem 16. Symposium des Verbands der deutschen altösterreichischen Landsmannschaften in Österreich (VLÖ), Temeswar, 6.-9. Oktober 2016

In der Politik ist es so, dass in einem demokratischen Staat die Mehrheit entscheidet und die Minderheit sich fügt. Das gilt auf allen Ebenen. Das beste Beispiel ist das Parlament. Es gibt oft Situationen, wo keine richtige Mehrheit zustande kommt, sodass Koalitionen gegründet werden müssen. Auch diesen fügt sich die Minderheit, die nicht in der Koalition vertreten ist. Das sind die Regeln der Demokratie und wenn sie auch nicht perfekt sind, so haben wir doch keine besseren.

In diesem Sinne würde sich also die Titelfrage eigentlich erübrigen. Die Mehrheit gestaltet und die Minderheit kann eventuell in der Koalition einiges konstruktiv beeinflussen. Und trotzdem – auf die provokative Frage „Kann eine Minderheit gestaltende gesellschaftliche Kraft sein?“ antworte ich ebenso provokativ mit: Ja, sie kann! Ich möchte das am Beispiel der deutschen Minderheit in Rumänien erläutern.

Sowohl die Siebenbürger Sachsen als auch die Banater Schwaben waren zwar in einigen Ortschaften majoritär, aber im Fürstentum Siebenbürgen, bzw. in der Donaumonarchie immer eine Minderheit. Und trotzdem haben sie Revolutionäres geschaffen und Pionierleistungen auf dem Gebiet des heutigen Rumänien vollbracht: die Erfindung der Mehrstufenrakete durch Conrad Haas im 16. Jahrhundert, das erste Theater, die erste gusseiserne Brücke, das erste Wasserkraftwerk, der erste Wanderverein – das alles in Hermannstadt; die erste Zeitung, die erste elektrische Straßenbeleuchtung, die erste Straßenbahn – in Temeswar; das erste Hüttenwerk – in Reschitza; die ersten regelmäßig arbeitenden Druckereien in Hermannstadt und Kronstadt u. a. Durch all dieses und durch vieles andere war diese Minderheit eine gestaltende Kraft, auch für das majoritäre Umfeld.

Es handelte sich dabei aber nicht nur um wirtschaftliche und soziale Gestaltung und Entwicklung, sondern auch um politische. Nach dem Zerfall der Donaumonarchie am Ende des Ersten Weltkrieges hatten die Siegermächte vor, Siebenbürgen an Rumänien anzuschließen. Das geschah demokratisch: Die drei Völker aus Siebenbürgen (Rumänen, Ungarn und Deutsche) sollten selber entscheiden. Die Rumänen wollten selbstverständlich den Anschluss, die Ungarn wollten ihn selbstverständlich nicht und die Siebenbürger Sachsen haben im Januar 1919 in der Mediascher Margarethenkirche durch ihre Vertreter den Anschluss beschlossen, sodass 1920 in Trianon Großrumänien gegründet wurde. Die Minderheit war das Zünglein an der Waage, das aber entscheidend war. Das waren einige Beispiele aus der Vergangenheit, die zeigen sollten, dass auch eine Minderheit durch ihre Gestaltungskraft sich entscheidend einbringen kann.

Nun, wie sieht die Gegenwart aus? Wir sind von ursprünglich 800.000 Deutschen im Vorkriegsrumänien konstant geschrumpft: Krieg, Kriegsgefangenschaft, Deportation und Auswanderung haben, laut letzter Volkszählung vor dem Umbruch 1989, die Anzahl auf 250.000 schrumpfen lassen. Mit der Wende kam die ganz große Auswanderungswelle und in nur sechs Monaten waren wir nur noch die Hälfte. Und als jeder Zweite auf gepackten Koffern saß, haben wir das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien als Interessenverband unserer Minderheit gegründet. Man musste sich oft fragen – für wen? und – mit wem?, aber wir haben es geschafft. Wir hatten wieder eine politische Stimme, die uns während des Kommunismus geraubt wurde. Als Minderheitenverband sollte sich dieser eigentlich um die Interessen der Minderheit kümmern: den Erhalt der deutschen Muttersprache, unserer Schulen, Erhalt der Kulturtraditionen usw. Wir haben aber von Anfang an versucht, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.

Im Bereich der Wirtschaft haben Forumsvertreter entscheidend dazu beigetragen, dass z. B. heute Bosch in Klausenburg oder Daimler in Mühlbach produzieren. Die forumseigenen Stiftungen haben kleine und mittelständische Unternehmen zu äußerst günstigen Bedingungen gegründet – auch für das andersnationale Umfeld, wobei mehrere 10.000 Arbeitsplätze geschaffen wurden. Das beste Beispiel ist die Temeswarer Banatia-Stiftung. In Turea, einem Dorf bei Klausenburg, hat das Forum mit Hilfe einer Berliner NGO einen Landwirtschaftsverein mit Modellcharakter gegründet. In dem Dorf leben nur Rumänen, Ungarn und Roma und ich wurde oft von Journalisten gefragt – ja, warum hilft das Deutsche Forum einem Dorf, wo es keine Deutschen gibt? Und ich habe immer geantwortet – gerade deshalb!

Auch in der Politik haben wir entscheidend mitgewirkt. Ovidiu Gan] hat durch seine Kontakte als EU-Parlamentarier entscheidend dazu beigetragen, dass Rumänien 2007 EU-Mitglied wurde. Das bekannteste Beispiel ist aber Hermannstadt: Klaus Johannis wurde viermal zum Bürgermeister gewählt, mit bis zu fast 90 Prozent der Wählerstimmen im ersten Wahlgang – das in einer Stadt mit über 160.000 Einwohnern und davon weniger als 2000 Deutschen – d. h. die majoritäre Bevölkerung hat ihn überwältigend gewählt. Auch im Westen gibt es Beispiele, wo Bürgermeister durch ihr Charisma und vor allem wegen ihren Leistungen immer wieder gewählt werden. Jetzt haben wir zum fünften Male einen Forumsvertreter als Bürgermeisterin, Frau Astrid Fodor. Was aber wirklich für’s Guinness Book ist, ist die Tatsache, dass im Stadtrat nun zum vierten Male das Forum majoritär vertreten ist. Das gibt es meines Wissens nach nirgends in der Welt, dass eine Minderheit von unter 2 Prozent zum vierten Male die Majorität im Stadtrat hat. Im Kreisrat Hermannstadt hatten wir zwei Mandate ebenfalls einen Deutschen als Vorsitzenden (Martin Bottesch, ein Landler), zurzeit haben wir „nur” einen Vizevorsitzenden, aber weiterhin eine starke Fraktion. Diese beiden Beispiele zeigen, dass sich eine Minderheit gestaltend für die Geschicke der gesamten Bevölkerung einbringen kann, also weit über die eigenen Minderheiteninteressen hinaus.

Wir nehmen auch eine wichtige Brückenfunktion wahr. Jeder deutsche Politiker, der nach Rumänien kommt, erwähnt diese. Für viele von ihnen ist es nur ein loses Schlagwort, wir aber versuchen, es tatsächlich mit Leben zu erfüllen. Ich spreche sogar von einer doppelten Brückenfunktion: einerseits zum deutschsprachigen Ausland, also auch zu Österreich und der Schweiz, und andererseits zwischen der rumänischen Majorität und den anderen in Rumänien lebenden Minderheiten
Und last but not least, seit zwei Jahren sind wir auch im höchsten Staatsamt durch Klaus Johannis vertreten.

Das zur Gegenwart. Und wie wird die Zukunft ausschauen? Was kann eine Minderheit von knapp 40.000 Menschen in Europa über-haupt bewirken? Ich habe auch bei anderen Gelegenheiten gesagt: Wir können nur noch eine Katalysatorenfunktion wahrnehmen. Das soll nicht überheblich klingen im Sinne von „ohne uns geht es nicht”, sondern es soll heißen: „Auch kleine Mengen genügen, um etwas in Gang zu bringen.“ Wir Rumäniendeutsche waren immer schon europäisch. Das, was wir heute als europäisches Gedankengut bezeichnen, d. h. friedliches interethnisches und interkonfessionelles Zusammenleben, das in einigen Gebieten Europas noch Wunschdenken ist (ich denke da nicht nur an Kosovo, sondern auch ans Baskenland z. B.), das wurde in Siebenbürgen und im Banat über die Jahrhunderte gelebt. Als in Mittel-europa der 30-jährige Krieg tobte, ist die Reformation in Siebenbürgen einige Jahre nach Luther absolut friedlich verlaufen, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Auch die Rumänen sind bessere Europäer als einige bis vor wenigen Jahren gepriesene Musterschüler, wie Ungarn oder Tschechen z. B.

Wichtig ist, dass Europa sich auf seine Werte besinnt, dass den Fliehkräften Einhalt geboten wird, dass Brüssel nicht zu einer Zentrale für bürokratische Details verkümmert (wie Krümmung der Gurke nach EU-Normen z. B.), sondern eine gemeinsame Wirtschafts- und Außenpolitik entwirft, dass die innereuropäischen Grenzen offen bleiben, dass die von außen genährten anti-europäischen Parteien nicht die Oberhand gewinnen. Das sind auch unsere Probleme und wenn auch noch so klein als Minderheit, die sich bisher an lokaler und nationaler Politik beteiligt hat, werden wir im Rahmen des Möglichen versuchen, uns auch an der europäischen Politik zu beteiligen. Unsere Tradition verpflichtet uns geradezu dazu. Letztendlich sind wir im gemeinsamen Haus Europa alle nur noch Minderheiten!