Keine Liebesheirat, doch eine beidseitig komfortable Zweckehe

In der EU-Integrationsdebatte muss Rumänien für mehr Europa einstehen

Der Mann möchte wohl doch in die Geschichte der Europäischen Union eingehen, zumindest als einer, der es wenigstens versucht hat, auch wenn ihm der Erfolg vielleicht nicht gegönnt sein wird. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat vorige Woche mit seinen Vorschlägen zur Reform der EU, zur Vertiefung der Integration und der dadurch zu erzielenden stärkeren Bindung der mittel- und osteuropäischen Staaten an Westeuropa mehr als nur für Schlagzeilen gesorgt. Denn sollte mindestens ein Teil der Kommissionspläne umgesetzt werden, die Juncker vorgestellt hat, könnte die schwer angeschlagene Europäische Union deutlich gestärkt und die gegenwärtige Krise des Kontinents vielleicht überwunden werden.

Um es von Anfang in aller Deutlichkeit zu sagen: Stellt sich Rumänien in den kommenden Jahren, vielleicht im gesamten kommenden Jahrzehnt geschickt an, wird es von den Reformvorschlägen Junckers nur profitieren, auch wenn am Ende ein wesentlicher Teil davon in den Mühlen der nationalen Regierungen zermalmt werden könnte. Die Reaktionen in den Hauptstädten, vor allem in Berlin und in Paris, aber auch in Den Haag und in Wien, deuten zunächst darauf hin, dass vieles aus der Überraschungskiste des alten luxemburgischen Politikers dem Geschmack der dortigen Regierenden nicht entspricht. Und auch in Warschau oder Budapest, in Prag und vielleicht auch in Sofia und Bukarest dürfte nicht unbedingt jedermann gefallen, was Juncker von den neuen Mitgliedstaaten erwartet, die zehn oder sogar dreizehn Jahre nach dem Beitritt noch längst nicht in der Europäischen Union integriert sind. Denn die Integration ist nicht nur eine Frage der wirtschaftlichen Entwicklung, die letzten Endes doch noch gemeistert werden kann, sondern sie ist, und zwar vorrangig, eine Frage der politischen Kultur, des funktionierenden Rechtsstaats und der gemeinschaftlichen Solidarität.

Deshalb ging es in der Juncker-Rede nicht nur um den unterschiedlichen Geschmack von Nutella, die Zubereitung der Fleischwaren oder die Qualität von Waschpulver, gegen die der Osten berechtigterweise angetreten ist. Es geht um den Euro, den Schengen-Raum, es geht um die Überwindung eines durchaus gefährlichen Szenarios, jenes des Europa mit zwei Geschwindigkeiten, für das sich insbesondere Frankreich stark macht. Aus rumänischer Sicht bleibt ein solches Szenario der blanke Horror, zumal die mitteleuropäischen Staaten Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn bereits an der Stärkung ihres traditionellen Bündnisses schmieden und überhaupt kein Interesse daran zeigen, Rumänien und Bulgarien in ihren zweitklassigen Klub aufzunehmen. Da das Tor zum erstklassigen Klub des Westens sowieso geschlossen bleibt, dürfte für Rumänien und Bulgarien wohl nur die Möglichkeit eines drittklassigen Europas bleiben, vielleicht mit jenen Staaten Ex-Jugoslawiens, die die EU irgendwann dann doch aufnehmen könnte. Auch deshalb also ist der Juncker-Plan begrüßenswert, das Außenministerium in Bukarest müsste ihn im Hinblick auf die EU-Ratspräsidentschaft Rumäniens in der ersten Jahreshälfte 2019 ernsthaft unterstützen. Ob die Regierung unter Liviu Dragnea und Mihai Tudose, mit dem müden Altkommunisten Teodor Mele{-canu an der Spitze des Außenministeriums, dazu in der Lage ist, das ist natürlich eine andere Frage.

Der Gedanke der gemeinschaftlichen Solidarität zog sich durch die Rede des Kommissionspräsidenten wie ein roter Faden. Schade nur, dass diese gemeinschaftliche Solidarität im Westen genauso wie im Osten ein Fremdwort bleibt. Wurde die Solidarität der osteuropäischen Mitgliedstaaten im Sommer und Herbst 2015 von bundesdeutschen Politikern wie ein Mantra beschworen, während dieselben westlichen Politiker aufmüpfige Osteuropäer Tag ein, Tag aus in Sachen Gemeinschaftsgeist und Humanität belehrten, so verweigern eben diese Politiker heute denselben osteuropäischen Ländern die Solidarität, von der sie damals gesprochen haben.
Thomas de Maizičre (CDU) zum Beispiel, Bundesinnenminister. Oder Wolfgang Schäuble (CDU), Bundesfinanzminister, auch nach diesem Sonntag wohl Herr über den deutschen Haushalt. Oder Christian Kern (SPÖ), amtierender Bundeskanzler der Republik Österreich. Oder Mark Rutte, Regierungschef der Niederlande. Maizičre teile zwar die Vision des Kommissionspräsidenten Juncker über ein Europa ohne Grenzen, von der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens in den Schengen-Raum halte er jedoch nichts. Obwohl, und das kann man nicht genug wiederholen, beide Länder alle technischen Voraussetzungen längst erfüllen und das Schengen-Abkommen rein technischer Natur ist.

Der Beitritt zum Schengen-Raum hat nichts mit dem berühmt-berüchtigten Kooperations- und Kontrollmechanismus (MCV) zu tun und auch nicht mit dem Antikorruptionskampf in Rumänien oder in Bulgarien. Es geht allein um den Zynismus westeuropäischer Politiker und um ihre Angst vor ihrer eigenen Wählerschaft. Wenn die deutsche, österreichische oder französische Polizei nicht in der Lage ist, osteuropäische Verbrecherbanden (von denen es sicherlich genug gibt) in Zusammenarbeit mit der rumänischen oder der bulgarischen Polizei dingfest zu machen, dann hängt das nicht mit dem MCV zusammen, sondern allein mit der Unfähigkeit eben dieser Behörden, ihre Pflicht zu tun und ihre Bürger zu schützen. Und dass etwa eine Million Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan sowie aus Nordafrika nach Deutschland einreisen durften, ohne jegliche Grenzkontrolle, hängt auch nicht mit dem MCV Rumäniens und Bulgariens zusammen, sondern damit, dass deutsche Behörden sich über geltendes europäisches und deutsches Recht hinweggesetzt haben, egal wie die Bundeskanzlerin es damals begründete.

Was die Gemeinschaftswährung anbelangt, so trägt ihre jetzige Konfiguration sicherlich mehr dazu bei, den Graben zwischen West und Ost zu vertiefen, als das nur Rumänien und Bulgarien betreffende Problem des Beitritts zum Schengen-Raum. Und hier dürfte sich Juncker etwas übernommen haben, so schnell dürfte er die Länder Mitteleuropas, geschweige denn Rumänien, nicht in den Euroraum holen können. Denn bis zur realen wirtschaftlichen Konvergenz wird es noch dauern, mit Ausnahme vielleicht von Tschechien müssen alle Länder noch hart daran arbeiten, um das Wohlstandsgefälle zu überwinden, Rumänien und Bulgarien wohl am meisten. Aber der Richtungshinweis des Kommissionspräsidenten stimmt, selbst Orbán in Budapest, Szydlo und Kaczynski in Warschau könnten in Zukunft einsehen, dass es ohne den Euro langfristig nicht geht. Schließlich geht es wohl nur um ein taktisches Spiel, Warschau und Budapest wussten schon immer besser zu pokern als Bukarest.

Alles in allem lesen sich aus Bukarester Sicht die Vorschläge Junckers als hoffnungsvolle Nachrichten, als eine Chance, die nicht nur den Staaten Mittel- und Osteuropas angeboten wird, sondern auch der südlichen EU-Flanke, den Krisenländern Griechenland, Portugal, teilweise auch Spanien und Italien, die noch immer mit starken wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben. Ein zweiter Integrationsanlauf nach den Rückschlägen des letzten, teilweise vergeudeten Jahrzehnts also. Einen dritten dürfte es nicht geben. Denn eine Liebesheirat war die EU-Osterweiterung nicht, der jüngste Streit wegen der Flüchtlingskrise hat es wieder eindeutig bewiesen. Mal sehen, ob eine beidseitig komfortable Zweckehe noch möglich ist.
Aber: Mit Junckers Rede von voriger Woche wird es auch für die nationalen Regierungen immer schwieriger, sich der Debatte über die institutionelle Zukunft der EU zu entziehen. Nach dem von der Europäischen Kommission veröffentlichten „Fahrplan“ sollen die Reformen bereits bei einem informellen Abendessen der EU-Staats- und Regierungschefs am 28. September Thema sein und dann bis Jahresende konkrete Gestalt annehmen. Von Junckers Erfolg hängt auch hierzulande vieles ab.