Keine rosarote Brille mehr

...doch auch nach 23 Jahren immer noch verliebt in Rumänien

Das Pfarrhaus mit wildromantischem Garten liegt gleich hinter der Kirche von Reichesdorf.

Tony und Gerrit Timmermann in ihrem Paradies: Statt Äpfeln gibt’s hier Kirschen...

Die begeisterte Imkerin posiert in ihrer Ausrüstung.

Tony übersetzt für eine englische Gruppe die unbedingt erlebenswerte Kirchenführung des 80-jährigen Küsters Johann Schaas.

Häuserzeile in dem verschlafenen Dörfchen
Fotos: George Dumitriu

Schwerfällig holpert der Geländewagen durch die enge, unbeleuchtete Dorfstraße. Links und rechts leuchten schlichte kleine Sachsenhäuser für Sekunden im Strahl der Scheinwerfer auf, manche ein wenig baufällig, doch mit immer noch schmucken Fassaden. Unser Ziel haben wir erreicht, doch wo zu später Stunde ein Nachtlager finden? Im verlassenen Dorfzentrum halten wir unter fahlgelbem Laternenlicht. Da, gegenüber der Kirche ist noch ein Laden auf! Während George sein Glück versucht, strecke ich meine steifen Glieder. Wieso haben wir bloß das Zelt nicht mitgenommen?

Leise beginnt es zu nieseln. Nach zehn langen Minuten kommt mein Mann strahlend aus dem Laden, das Telefon in der Hand. Kurz darauf nähern sich Scheinwerfer. Ein Paar springt aus dem Wagen. Sie öffnen das Holztor neben der Kirche und winken uns lebhaft in den Innenhof. „Willkommen im Pfarrhaus von Reichesdorf“, werden wir freudig auf Deutsch begrüßt, als hätten wir nicht eben überraschend mitten in der Nacht gestört...

Aussteiger oder Sommersachsen, frage ich mich sogleich, weil doch jeder weiß, dass in Reichesdorf nur noch ein einziges, sehr betagtes deutsches Küsterehepaar lebt. Der Akzent belehrt mich eines Besseren: Holländer! Während die Dame des Hauses, die sich freundschaftlich als „Tony“ vorstellt, sich in der Küche des Pfarrhauses zu schaffen macht, leistet uns ihr Mann Gerrit im gemütlichen Gastraum Gesellschaft. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen! Bei einem rasch improvisierten Abendessen tauschen dann vier Neugierige in drei Sprachen zwei Lebensgeschichten aus. Ein Phänomen, das mir nach über zehn Jahren Rumänien immer wieder passiert: Man muss es einfach wissen! Was hat den anderen hierher verschlagen? In dieses ganz persönliche, selbstentdeckte Paradies, das doch merkwürdig viele, aus derselben Wohlstandszivilisation kommende, so sehr fasziniert, dass sie dieselbe ohne mit der Wimper zu zucken einfach in die Tonne treten. So ist es auch Tony und Gerrit ergangen...

Keine rosarote Brille mehr auf

Das Ehepaar Timmermann ist seit 23 Jahren tief mit Reichesdorf/Richiş verwurzelt. Viele Sommer haben die beiden hier seit dem ersten Rumänien-Besuch in ihrem kurz darauf erstandenen Sachsenhäuschen verbracht und  den Exodus der deutschen Minderheit kopfschüttelnd miterlebt. Kaum ging es nach dem Urlaub wieder über die Grenze in Richtung alte Heimat, packte sie bereits das Heimweh nach dem Land, vom dem Tony einst ungläubig sagte: „Ich glaub, ich bin im Film!“ Herrliche Landschaft, ein Leben im Einklang mit der Natur, Landwirtschaft wie zu Großvaters Zeiten, wie Gerrit erstaunt bemerkte. Vor allem aber viel Platz – kein Vergleich mit Holland, obwohl die Timmermanns auch dort auf dem Dorf gelebt hatten.

Vor gut vier Jahren konnten sie dann mit der Pensionierung endlich den langersehnten Schritt tun: Der Möbelwagen wurde beladen, die Zelte in Holland abgebrochen. Überflüssiges von Nötigem getrennt, einfach zurückgelassen. Viel des scheinbar Notwendigen liegt dennoch bis heute in Kisten, gesteht Tony. Vielleicht werden sie ja in diesem Winter endlich ausgepackt...

Vor fünf Jahren hatten die Timmermanns auch den Dorfladen gekauft. Weil immer mehr Touristen nach Campingplätzen suchten, wo man Zelt oder Wohnwagen auch mal unbeaufsichtigt stehenlassen kann, kam ihnen die Idee, den ummauerten Hof hinter dem Laden in einen solchen zu verwandeln. Mit dem gepachteten Pfarrhaus dazu – liebevoll als Gästehaus renoviert und stilvoll rustikal eingerichtet – haben Tony und Gerrit heute alle Hände voll zu tun.

Von Urlaubern zu Unternehmern avanciert, kosten sie längst vom rumänischen Alltag. Hat dieser die beiden Träumer nicht auf den Boden zurückgeholt? „Wir sind im Paradies gelandet“, beharrt Gerrit mit verklärtem Blick. Tony erläutert: „Wir haben hier zwar viele Probleme gehabt – aber in Holland doch auch! Jetzt sind wir in Rumänien, das ist unser Leben. Wir passen gar nicht mehr nach Holland“. Entschlossen fügt sie hinzu: „Und nach 23 Jahren hier hab ich bestimmt keine rosarote Brille mehr auf!“

Schicksalhaftes Abenteuer

Das Abenteuer der Familie Timmermann begann unerwartet mit der Öffnung der Grenzen gen Osten, der in den langjährigen Frankreich-Urlaubern den Wunsch erweckte, auch mal den anderen Teil Europas kennenzulernen. „Wir hatten bereits geplant, mit dem Wohnwagen nach Ungarn zu fahren, als auch in Rumänien der Kommunismus zusammenbrach“, erinnert sich Gerrit. Im Fernsehen brachte man groß die Hinrichtung Ceauşescus, was den jüngeren Sohn zutiefst erschütterte. „Um ihm bei der Verarbeitung dieses Traumas zu helfen, befassten wir uns mit dem Land“, erklärt der Vater von drei Kindern, zwei Söhnen (damals 10 und 12) und einer Tochter (6). Es war die Zeit der Hilfstransporte und Weihnachtspaketaktionen. „Luise bastelte eine Glückwunschkarte dazu und schrieb unsere Adresse drauf“, erinnert sich Tony. Kurz darauf kam ein Brief von einer ungarischen Familie aus Mediasch: „Kommt Urlaub machen zu uns, es ist wunderschön in Transsilvanien!“

So beschloss das Paar im Sommer 1990, den Wohnwagen für drei Tage am Campingplatz des ungarischen Urlaubsortes zurückzulassen und mit Kindern und Hund einen Abstecher nach Rumänien zu wagen. „Ihr seid verrückt!“ hatten Freunde und Verwandte in Holland noch gewarnt. Mit Einreise- und Ausreisevisum ausgestattet querten sie den Schlagbaum an der Grenze. „Jetzt sind wir drin“, sagte Tony zu ihrem Mann und dachte, den Blick auf die mit Bajonetten ausgestatteten Grenzsoldaten gerichtet: „hoffentlich kommen wir da auch wieder raus...“

Lauter liebe Tanten

In Mediasch wurden die Urlauber mit einer neuen Überraschung konfrontiert: dem Schicksal der Siebenbürger Sachsen. Weil sich der Gastgeber im nahen Reichesdorf ein Häuschen kaufen wollte, begleiteten sie ihn dorthin und waren sofort begeistert. „Für Tony waren die Sächsinnen alle wie liebe Tanten“, erinnert sich Gerrit schmunzelnd. Von Anfang an fühlte sich die Familie dort zu Hause. Aber auch von den Gastgebern in Mediasch fiel der Abschied ungewohnt schwer. „Ihr kommt bestimmt nie wieder!“ klagten sie unter Tränen. „Wir kommen ganz sicher wieder“, versprachen die Timmermanns überzeugt.

Im folgenden Winter luden sie die neuen Freunde nach Holland ein – und erfuhren von der Auswanderungswelle der Sachsen. Für ein paar Tausend D-Mark könne man nun ein Haus in Reichesdorf erwerben, erzählten die Besucher. Mit Möbeln und allem Drum und Dran – unglaublich! Der Gedanke ließ die Timmermanns fortan nicht mehr los. Die Kinder bei der Oma abgegeben, reisten Tony und Gerrit zu Ostern erneut nach Rumänien. Über den hiesigen Freund als „Strohmann“ kauften sie kurz entschlossen ein Häuschen von auswanderungswilligen Sachsen, denn Ausländer durften damals noch keine Immobilien erwerben. Zurück zu Hause präsentierten sie dem Rest der Familie die Überraschung. Die Kinder jubelten! Von den Großeltern kamen Vorwürfe: „Seid ihr denn wahnsinnig! Was, wenn etwas schiefgeht?“ „Dann haben wir wenigstens eine schöne Zeit gehabt!“, lacht Gerrit entwaffnend.

Wenn Bienen schwärmen...

So groß die Freude über das eigene Häuschen war, für die Timmermanns war der Exodus der Sachsen ein bis heute unverwundener Schock. „Nur fünf Häuser haben wir besichtigt“, erinnert sich Tony, „dann konnte ich die bedrückten Gesichter der Auswanderer nicht mehr ertragen!“ Keine Rede von euphorischer Aufbruchstimmung. Viele sind bei Nacht und Nebel verschwunden, haben niemandem vorher etwas gesagt. Hab und Gut zurückgelassen, sogar Familienfotos, wundert sich Gerrit. Wollten sie mit der Vergangenheit brechen? „Bis heute verstehen wir es nicht“, schüttelt seine Frau den Kopf. „Wir haben die Leute gefragt, warum geht ihr jetzt?“ „Wir haben zu lange unter einem schlechten Chef gedient“, war die lakonische Antwort. Auch einige Pfarrer machten Druck zum Auswandern.

Andere wiederum folgten vorausgereisten Kindern. „Was sollen wir alleine hier?“, sagten vor allem die Frauen. Auf ein Ferngespräch nach Deutschland musste man damals einen Tag lang warten. Doch viele seien nicht glücklich geworden, sinniert Gerrit, der letztes Jahr die Idee hatte, ein Sachsentreffen in Reichesdorf zu organisieren. Über 80 ehemalige Dorfbewohner waren dazu angereist! Auch im Sommer kommen viele ehemalige Reichesdorfer, um ihren Enkeln zu zeigen, wie und wo sie einst gelebt haben. Junge Leute suchen ihre Wurzeln. So manch einer fragt sich, warum die Eltern fortgegangen sind – doch einen Weg zurück gibt es für sie nicht, sagt Gerrit. Sächsisch sprechen sie auch nicht mehr, obwohl viele es noch verstehen. Ganz zurückkommen will ohnehin keiner, oder man gibt es nicht zu, denn Rückkehrer passen nicht in ihr Weltbild. „Ich wurde regelrecht geächtet, als ruchbar wurde, dass ich nicht nach Deutschland will“, erzählt mir später der 80-jährige Johann Schaas, der in Reichesdorf geblieben ist und heute Touristen durch die alte evangelische Kirche führt. Selbst Jahre später hatte ihm ein ausgereister Sachse vorgeworfen: „Wenn Bienen schwärmen, dann müssen eben alle mit!“

Zum Abschied philosophieren wir mit den Timmermanns noch über dieses und jenes: ökologischer Landbau, Biodiversität. „Auch die Adept-Stiftung hat hier ein Programm zur Erforschung der Artenvielfalt“, wirft Tony ein. „Sieben Jahre lang bereisen englische und amerikanische Studenten im Sommer Rumänien für ihre Feldstudien und wohnen ein paar Tage bei uns im Pfarrhaus.“
„Dieses Land ist so reich“, begeistert sich Gerrit. Ja, reich an so vielem, was man mit all dem Geld dieser Welt nicht kaufen kann...